Drucksache 17 / 18 133 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage der Abgeordneten Fabio Reinhardt und Susanne Graf (PIRATEN) vom 01. März 2016 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 02. März 2016) und Antwort Situation unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge in Berlin (IX) – Wie stellt der Senat die Rechte der Kinder und Jugendlichen im Clearingverfahren und während der Inobhutnahme sicher? Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: 1. Wie ist die Ist-Entwicklung der „UMF-Fälle“ im Jahr 2015 für die Monate Oktober, November und Dezember und im Jahr 2016 für den Januar? (Bitte die Grafik in der Roten Nr. 2426 aktualisieren.) Zu 1.: In den Monaten Oktober bis Dezember 2015 wurden in der Erstaufnahme- und Clearingstelle (EAC) 2066 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge ersterfasst. Die Zahl der insgesamt im Jahr 2015 Aufgenommenen hat sich gegenüber dem Vorjahreswert in Höhe von 1085 fast vervierfacht (4252). In den Monaten Januar und Februar 2016 ist ein Rückgang zu verzeichnen, die Zahl der in der EAC ersterfassten unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge ist aber immer noch drei- bzw. zweimal so hoch wie im Vorjahreszeitraum. Jan 15 Feb 15 März 15 April 15 Mai 15 Juni 15 Juli 15 August 15 Sept 15 Okt. 15 Nov. 15 Dez. 15 gesamt 102 96 108 120 137 165 326 441 691 818 759 489 4252 Jan. 16 Feb. 16 März 16 April 16 Mai 16 Juni 16 Juli 16 August 16 Sept. 16 Okt. 16 Nov. 16 Dez. 16 gesamt 324 176 500 2. Gemäß § 42a Abs. 2 Nr. 2 SGB VIII ist das Jugendamt verpflichtet, während dem vorläufigen Clearingverfahren zusammen mit dem Minderjährigen, der unbegleitet eingereist ist, einzuschätzen, ob sich eine sorgeberechtigte oder mit dem Kind oder dem Jugendlichen verwandte oder Person im Inland aufhält. Welches Verfahren , welche Zuständigkeit und welche Regelungen gibt es diesbezüglich im Land Berlin, um diesbezüglich schnellstmöglich eine Feststellung zu treffen? 3. Welche Verfahren oder Regelungen gibt es im Land Berlin, um gemäß § 42a Abs. 5 Satz 2 SGB VIII während der Inobhutnahme festzustellen, ob sich eine verwandte oder sorgeberechtigte Person im Inland aufhält, sodass eine Entscheidung über eine Familienzusammenführung gefällt werden kann? Zu 2. und 3.: Gemäß § 42a SGB VIII hat das Jugendamt während der vorläufigen Inobhutnahme zusammen mit dem Kind oder dem Jugendlichen einzuschätzen, ob sich eine mit dem Kind oder dem Jugendlichen verwandte Person im Inland oder im Ausland aufhält. Ist dies der Fall, so hat das Jugendamt auf eine Zusammenführung mit dieser Person hinzuwirken, wenn dies dem Kindeswohl entspricht. Das Kind oder der Jugendliche ist an der Übergabe und der Entscheidung über die Familienzusammenführung zu beteiligen. Bereits bei der Ersterfassung in der EAC werden Daten über die Personensorgeberechtigten oder andere Familienmitglieder erfragt. Die Klärung der Frage ob Sorgeberechtigte oder Verwandte erreichbar sind bzw. ob Kenntnisse über deren Einreise vorliegen und der Auftrag - wenn möglich - entsprechende Kontakte herzustellen, ist Bestandteil des Clearingverfahrens. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 18 133 2 4. Als „unbegleitet“ gelten Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren, die ohne Verwandte oder Sorgeberechtigte in das Gebiet der Bundesrepublik einreisen. Gleiches gilt für den Fall, dass Kinder und Jugendliche nach der Einreise von ihren Sorgeberechtigten oder Verwandten getrennt werden und davon ausgegangen werden muss, dass diese Trennung von längerfristiger Dauer ist und die Verwandten oder Sorgeberechtigten nicht in der Lage sind, sich um ihre Kinder zu kümmern (vgl. Artikel 2 Buchstabe l der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011). Teilt der Senat daher die Auffassung, dass geflüchtete Kinder und Jugendliche bis 18 Jahren auch dann ein Recht auf Inobhutnahme und entsprechende Leistungen der Jugendhilfe haben, wenn sie zusammen mit volljährigen Begleitpersonen vorsprechen, mit denen sie aber nicht verwandt sind oder mit denen kein Sorgerechtsverhältnis besteht? 5. Kann der Senat bestätigen, dass es in Berlin Fälle gab, in denen unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in der Erstaufnahme- und Clearingeinrichtung (EAC) ohne Prüfung von Verwandtschafts- oder Sorgerechtsverhältnissen volljähriger Begleitpersonen rechtswidrig abgewiesen wurden, sodass die ihnen zustehende Inobhutnahme verweigert wurde und Leistungen ungeklärt blieben? a) Wenn ja, was unternimmt der Senat, um diese Rechtswidrigkeit schnellstmöglich zu unterbinden? Zu 4. und 5.: Minderjährige, die um Inobhutnahme bitten, werden vom Landesjugendamt nicht abgewiesen. Eine Trennung von der Begleitperson wird sehr häufig von den Betroffenen ausdrücklich nicht erwünscht. Soweit es sich in diesen Fällen um eine erziehungsberechtigte Person im Sinne des § 7 SGB VIII handelt und keine Anhaltpunkte für eine Kindeswohlgefährdung vorliegen, erfolgt eine Unterbringung über das Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo). Die insbesondere für die Durchführung des asylrechtlichen Verfahrens erforderliche Bestellung eines Vormundes oder einer Ergänzungspflegerin bzw. eines Ergänzungspflegers wird in diesen Fällen in einem zwischen der für Jugend zuständigen Senatsverwaltung, dem LaGeSo und Vertreterinnen und Vertretern aus dem Kreis der Familienrichter kommunizierten Verfahren veranlasst. Sollte es in dieser Frage bei der Erstregistrierung in der EAC zu missverständlichen Aussagen gekommen sein, ändert dies nichts an der beschriebenen Sach- und Rechtslage. 6. Gemäß § 42a Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII ist das Jugendamt dazu verpflichtet, einzuschätzen, ob das Wohl des unbegleiteten geflüchteten Kindes oder des Jugendlichen eine gemeinsame Inobhutnahme mit Geschwistern erfordert. Laut § 42b Abs. 5 SGB VIII dürfen Geschwister nicht getrennt werden. Auf der 4. Sitzung des Runden Tisches zur Versorgung von Flüchtlingen, am 4. Dezember 2015 sagte Frau Senatorin Scheeres, dass unbegleitete minderjährige Flüchtlinge bei der Verteilung auf Unterkünfte nach Geschlecht und Alter getrennt werden. Kinder unter 14 Jahren sollen in gesonderte Unterkünfte untergebracht werden, so Scheeres. Wie wird das Recht der Kinder und Jugendlichen auf gemeinsame Inobhutnahme mit Geschwistern gewährleistet, wenn die genannten Trennungen erfolgen sollen? Zu 6.: Geschwister werden in der Regel gemeinsam untergebracht, es sei denn, dass Kinderschutzgründe dem entgegenstehen. Wenn minderjährige Flüchtlinge in Begleitung einer volljährigen Schwester oder eines volljährigen Bruders in der EAC ankommen, dann erfolgt die Unterbringung – wie in der Antwort zu Frage 5 dargestellt – in der Regel durch das LaGeSo. Wenn sich in einer Gruppe minderjähriger Geschwister auch Kinder befinden , erfolgt eine gemeinsame Unterbringung nach Maßgabe freier Plätze umgehend in Clearingeinrichtungen oder im Ausnahmefall kurzzeitig in dafür besonders geeigneten temporären Unterbringungseinrichtungen. 7. Gemäß § 42a Abs. 3 SGB VIII sind unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, die in Obhut genommen wurden , bei allen Rechtshandlungen, die das Jugendamt für sie vornimmt, zu beteiligen. Wie wird die Beteiligung sichergestellt? a) Welche Beteiligungsverfahren für welche Rechtshandlungen gibt es? Zu 7.: Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge werden über alle sie betreffenden Fragen informiert und beraten. Alle Verfahrensschritte und die Rechte der Betroffenen werden im Rahmen der sozialpädagogischen Betreuung, des Erstgespräches und im Clearingverfahren kommuniziert . Ein wesentlicher Bestandteil des Clearingverfahrens ist die Beratung im Hinblick auf den Stand des familienrechtlichen und des ausländerrechtlichen Verfahrens. 8. Gemäß § 42 Abs. 3 Satz 4 SGB VIII hat das Jugendamt die Pflicht, unverzüglich die Bestellung eines Vormunds oder eine Pflegschaft zu veranlassen, sobald der unbegleitete minderjährige Geflüchtete nach Deutschland kommt, beim Jugendamt bzw. beim EAC vorspricht und festgestellt wurde, dass sich weder Personensorgenoch Erziehungsberechtigte im Inland aufhalten. Was versteht der Senat unter dem Begriff „unverzüglich“? a) Wie stellt der Senat sicher, dass unbegleitete minderjährliche Flüchtlinge (UMF) unverzüglich einen Vormund bzw. eine Pflegschaften zugewiesen bekommen? b) Zu welchen rechtswidrigen Verzögerungen ist es im vergangenen und im laufenden Jahr bisher gekommen? c) Was sind die Gründe für die rechtswidrigen Verzögerungen ? d) Wie, insb. mit welchem zusätzlichen Personalaufwand , will der Senat sicherstellen, dass trotz hoher UMF-Fälle die Jugendämter und die EAC ihrer gesetzlichen Pflicht nachkommen können und unverzüglich einen Vormund oder eine Pflegschaft einsetzen können? Zu 8.: Angesichts des sehr starken Anstiegs der in der EAC ankommenden unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge im Jahr 2015 – allein in den Monaten Oktober bis Dezember wurden 2066 Ersterfassungen gezählt – hatte das Landesjugendamt zuallererst die Aufgabe, ausreichend sozialpädagogisch betreute Unterbringungsplätze Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 18 133 3 sicherzustellen. Im Ergebnis dieser Entwicklung standen und stehen die gesamten Verfahren unter erheblicher Belastung, so dass Bearbeitungsrückstände unvermeidlich waren. Anfang September 2015 wurde u.a. der Einrichtung von 6 VZÄ Sozialarbeiter/innen EGr. 9 TV-L für die Durchführung der Clearingverfahren zugestimmt. Die Schaffung weiterer Beschäftigungspositionen ist vorgesehen . Im Zuge des Prozesses der wachsenden Stadt wurden den bezirklichen Jugendämtern für den zusätzlichen Bedarf im Zusammenhang mit Flüchtlingskindern und – jugendlichen insgesamt 24 VZÄ zugesagt. Laufende Stellenbesetzungsverfahren, der bereits vorangeschrittene Aufbau von ehrenamtlichen Einzelvormündern und eine Vielzahl von Verfahrensabsprachen führen zunehmend zum Abbau von Wartezeiten und Abschluss der Clearingverfahren. 9. Gemäß § 42 Abs. 3 Satz 5 SGB VIII hat das Jugendamt die Pflicht, einen Hilfeplan für UMF unverzüglich einzuleiten, wenn Personensorge- oder Erziehungsberechtigte nicht erreichbar sind. Wie stellt der Senat sicher, dass unverzüglich Hilfepläne für betroffene unbegleitete minderjährige Flüchtlinge eingeleitet werden? Zu 9.: Die Hilfeplanung gemäß § 36 SGB VIII erfolgt in der Zuständigkeit der bezirklichen Jugendämter nach Beendigung der Inobhutnahme durch die für Jugend zuständige Senatsverwaltung und eine Verteilung entsprechend der Ausführungsvorschriften über die Gewährung von Jugendhilfe für alleinstehende minderjährige Ausländer (AV JAMA) auf die Jugendämter der Bezirke. 10. Wie viele Vormund- und Pflegschaften führt das Jugendamt Steglitz-Zehlendorf derzeit? a) Wie viele Stellen stehen zur Verfügung? b) Sind die in der Schriftlichen Anfrage 17/17729 genannten zusätzlich bereitgestellten VZÄ inzwischen besetzt ? Zu 10.: Die rechtliche Vertretung der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge ist eine gesamtstädtische Aufgabe, die durch das Jugendamt Steglitz-Zehlendorf wahrgenommen wird. Nach Auskunft des Jugendamtes führt der dortige Fachdienst UMF derzeit 1008 Vormundschaften bzw. Pflegschaften. Inklusive Leitung stehen 17 Stellen zur Verfügung. Die mittlerweile 15 zusätzlich bereit gestellten Vollzeitäquivalente (VZÄ) sind aufgrund der notwendigen Verfahrensabläufe bei Personaleinstellungen noch nicht vollständig besetzt. Die bereits ausgewählten sieben Fachkräfte werden seit 01.02.16 sukzessive eingestellt und eingearbeitet. 11. Auf der 4. Sitzung des Runden Tisches zur Versorgung von Flüchtlingen am 4. Dezember 2015 sagte Frau Senatorin Scheeres, dass eine neue „Beschwerdestelle “ bei SenBildJugWiss eingerichtet werde, um Missstände in der Unterbringung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen (UMF) aufzudecken. Auf welchem Stand befindet sich diese Einrichtung? a) Wie viel Personal soll in der Einrichtung arbeiten? b) Welche Qualifikation hat das Personal? c) Was kostet die Einrichtung dem Land Berlin und wo sind die Mittel etatisiert? d) Welche Sprachen sollen in der Beschwerdestelle gesprochen werden? e) Wie erfahren die UMF von der Beschwerdestelle? f) Wie erfahren welche weiteren betroffenen Personen, insb. Organisationen ehrenamtlicher Helfer von der Beschwerdestelle ? Zu 11.: Bei der für Jugend zuständigen Senatsverwaltung wurde unter uma@senbjw.berlin.de eine Kontaktstelle eingerichtet, an die Beschwerden vorgetragen und Beratungsbedarfe zu unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen gerichtet werden können, die von drei Mitarbeitern gepflegt wird. Diese Adresse ist auf der Webseite der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft veröffentlicht. Darüber hinaus werden die temporären Unterbringungseinrichtungen regelmäßig durch Mitarbeiter/innen der für Jugend zuständigen Senatsverwaltung besucht und die Situation vor Ort überprüft. Hierbei wird nicht nur mit den vor Ort tätigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und den Trägerverantwortlichen gesprochen, sondern auch die anwesenden unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge befragt. Sie erhalten Gelegenheit über ihre Wünsche und ggf. auch Beschwerden zu berichten. In den Monaten November und Dezember 2015 fanden 15 Einrichtungsbesuche statt, im Januar und Februar 2016 wurden 17 Einrichtungen besucht. Anlassbezogen können diese Vor- Ort-Besuch auch unangemeldet erfolgen. Die Auswertung dieser Besuche erfolgt zeitnah und ggf. notwendige Veränderungsbedarfe werden zügig umgesetzt. 12. Auf der gleichen Sitzung wurde von Frau Senatorin Scheeres angekündigt, dass individuell geprüft werde, ob ein geflüchteter Jugendlicher über 18 Jahren „schon reif genug“ sei, um das System der Jugendhilfe zu verlassen ? a) Nach welchen Kriterien wird bei UMF entschieden, ob Personen über 18 Jahren „reif genug seien“? b) Nach welchen Kriterien, bei welchen „individuellen Situationen“ erhalten UMF über 18 Jahren Hilfen für junge Volljährige gemäß § 41 SGB VIII? c) Wo werden UMF über 18 Jahren, die Hilfen für junge Volljährige gemäß § 41 SGB VIII erhalten, untergebracht ? Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 18 133 4 Zu 12.:Bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, die während der Inobhutnahme volljährig geworden sind, wird nach den Vorgaben des § 41 SGB VIII (Hilfe für junge Volljährige) verfahren, d.h. der junge Mensch wird darüber informiert, dass eine Fortsetzung der Hilfen, auch über den Eintritt der Volljährigkeit hinaus beantragt werden kann. Die Träger der sozialpädagogischen Betreuung sind aufgefordert, auf einen möglichen weiteren Jugendhilfebedarf hinzuweisen. Das Landesjugendamt bittet dann das zuständige bezirkliche Jugendamt, den weiteren Jugendhilfebedarf zu prüfen. Wird dieser bejaht, erfolgt eine Übernahme durch das zuständige Jugendamt und die Einleitung einer entsprechenden Anschlusshilfe. Wird der Jugendhilfebedarf durch das Jugendamt verneint, erfolgt eine Überleitung aus der temporären Einrichtung an das LaGeSo in einem für diese Zielgruppe gesondert vereinbarten Verfahren. Berlin, den 23. März 2016 In Vertretung Sigrid Klebba Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 24. Mrz. 2016)