Drucksache 17 / 18 185 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage der Abgeordneten Heiko Herberg und Martin Delius (PIRATEN) vom 08. März 2016 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 09. März 2016) und Antwort „Administrativer Notstand“ in Berlin Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: Vorbemerkung: Der Senat geht bei der nachfolgenden Antwort davon aus, dass sich die Fragen auf den Sachverhalt beziehen, der Gegenstand des am 29.02.2016 in der Online-Ausgabe der Tageszeitung „Der Tagesspiegel “ unter der Überschrift „Senat erklärt ‚administrativen Notstand‘, um schnell zu bauen“ veröffentlichten Berichts war. Der in der Überschrift zitierte Begriff bezieht sich auf einen Eintrag auf der Vergabeplattform des Landes und dort auf die Planungsleistung für das Ankunftszentrum Tempelhof, nicht aber auf anderweitige in Berlin durchgeführte oder anhängige öffentlich-rechtliche Auftragsvergaben . Daher wird die Anfrage inhaltlich auf das Vergabeverfahren für das Ankunftszentrum Tempelhof ausgerichtet. 1. Wie ist der Begriff administrativer Notstand definiert ? 2. Worin liegen die Ursachen für den administrativen Notstand? 3. Welche Senatsverwaltungen, Bezirke bzw. Bezirksämter oder Abteilungen sowie nachgelagerte Einrichtungen , sind vom administrativen Notstand betroffen? 4. Wie hat sich die Zahl der Vergaben, die von den Vorgaben der LHO abweichen und mit einem administrativen Notstand begründet wurden, in Berlin in den letzten fünf Jahren entwickelt? Bitte Datum, betroffene Vergabestelle , begünstigtes Unternehmen, Gegenstand der Vergabe und Auftragswert angeben. 5. Welche zusätzlichen Kosten sind dem Land Berlin im Vergleich zu einer regulären Vergabe bisher entstanden ? 6. Welche Maßnahmen hat der Senat eingeleitet um den administrativen Notstand zu beseitigen? Welche weiteren Maßnahmen sind geplant und bis wann werden die Maßnahmen greifen? 7. Welche präventiven Maßnahmen unternimmt der Senat um zukünftig nicht in einen administrativen Notstand zu geraten und Vergabeverfahren nach den rechtlichen Vorgaben durchzuführen? Zu 1. bis 7.: Allgemeinsprachlich beschreibt der Begriff des Notstands eine Situation mit besonderen Schwierigkeiten , deren Entstehung für den damit Konfrontierten nicht vorhersehbar oder beinflussbar war. Eine derartige Situation ist durch den unerwartet hohen Anstieg der Zuzugszahlen bei Asylbegehrenden im zweiten Halbjahr 2015 entstanden: Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hatte den Bundesländern noch mit Schreiben vom 07.05.2015 mitgeteilt, dass „unter Berücksichtigung (der) neuen Erkenntnisse und nach nochmaliger Prüfung aller Umstände (…) das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge von einem Zugang von geschätzten 400.000 Erst- und 50.000 Folgeantragstellern für das Jahr 2015 ausgeht.“ Nach § 44 Absatz 2 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG; nunmehr Asylgesetz) bildete diese Mitteilung die Grundlage für die Bedarfsplanung für Länder und Gemeinden. Nach den geltenden Aufnahmequoten leitete sich für das Bundesland Berlin aus dieser Prognose ein voraussichtlicher Zugang von rund 22.500 Personen im Jahr 2015 ab, was im rechnerischen Mittel einen monatlichen Zugang von etwa 1.875 Personen entsprochen hätte. Die tatsächlichen Zuzugszahlen wichen in der Folgezeit allerdings erheblich von dieser Größenordnung ab, wie sich aus den Monatsstatistiken des Landesamtes für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) ergibt (angegeben sind die nach Berlin über die IT-Anwendung „EASY“ verteilten Asylsuchenden): Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 18 185 2 Juni 2015: 2.831 Juli 2015: 4.146 August 2015: 5.349 September 2015: 8.223 Oktober 2015: 8.687 November 2015: 9.908 Dezember 2015: 7.188 Im gesamten Jahr 2015 wurden 55.001 Asylbegehrende über das bundesweite IT-Verfahren „EASY“ nach Berlin verteilt. Berlin hatte somit mehr als doppelt so viele Personen aufzunehmen und zu versorgen, wie noch im Mai 2015 durch den Bund prognostiziert worden war. Als besonders gravierend erwiesen sich die Abweichungen im vierten Quartal des Jahres, als die monatlichen Zuzugszahlen das bis zu Fünffache der erwarteten Zahl erreichten. Die Aufgabe, ungeachtet diesen in kurzer Zeit erheblich angewachsenen und deutlich über die vom Bund prognostizierte Entwicklung hinaus gehenden Asylzuzug, alle in Berlin eintreffenden Menschen bedarfsgerecht unterzubringen und zu versorgen, stellte alle beteiligten Stellen vor unvorhersehbare administrative Herausforderungen . Diese betrafen nicht nur den Prozess der Registrierung , sondern auch die Anmeldung bei allen zuständigen Behörden und Leistungsträgern. Gleichwohl kann der Begriff „administrativer Notstand “ nicht pauschal auf jegliches Verwaltungshandeln im Zusammenhang mit der Aufnahme von Asylbegehrenden und Flüchtlingen angewandt werden. Im vorgenannten Kontext wurde er lediglich im Rahmen des Vergabeverfahrens für das neue Ankunftszentrum Tempelhof herangezogen, um die besondere Dringlichkeit der Auftragsvergabe zu begründen, da mit dieser Leistung die schnellstmögliche Schaffung ausreichender Kapazitäten für eine zeitnahe Erstaufnahme und Registrierung aller in Berlin eintreffenden Flüchtlinge ermöglicht und ungeachtet der Vielzahl der zu betreuenden Flüchtlinge Obdachlosigkeit vermieden werden sollte. Bei der Wahl des Vergabeverfahrens für die Planungsleistungen im Zusammenhang mit dem vorgenannten Ankunftszentrum wurde – gestützt auf das Memorandum einer von der Tempelhof-Projekt GmbH beigezogenen Partnerschaftsgesellschaft von Rechtsanwältinnen bzw. Rechtsanwälten, Wirtschaftsprüferinnen bzw. Wirtschaftsprüfern und Steuerberaterinnen bzw. Steuerberatern – eine Vergabe von freiberuflichen Leistungen im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb nach der Vergabeordnung für freiberufliche Leistungen (VOF) gewählt, wobei sieben Unternehmen zur Angebotsabgabe aufgefordert wurden. Die in § 3 Abs. 4 Buchst. c) VOF genannten Voraussetzungen für diese Vergabeart wurden unter Berücksichtigung der vorstehend beschriebenen Ausgangslage als erfüllt erachtet. Ergänzend wird ausgeführt: Mit der Eröffnung des neuen Ankunftszentrums Tempelhof werden mit dem BAMF aufeinander abgestimmte Prozessschritte für die Registrierung der Asylbegehrenden , die Bearbeitung der Asylanträge, ggf. erforderliche ausländerrechtliche Entscheidungen und die weitere Unterbringung / Versorgung durch die Berliner Erstaufnahmeeinrichtungen ermöglicht. Zielsetzung ist es u. a., die Durchführung der gesetzlich vorgeschriebenen Erstuntersuchung gemäß § 62 AsylG innerhalb von 24 Stunden nach Ankunft in Berlin sicherzustellen. Die Erstuntersuchung umfasst den Ausschluss einer Tuberkulose und anderer Infektionskrankheiten sowie ein Impfangebot. Mit einem neuen Ankunftszentrum im Flughafen Tempelhof wird angestrebt, ein integriertes Aufnahme- und Erstversorgungsangebot für alle neu eintreffenden Geflüchteten vorzuhalten, welches auch für eine Verdoppelung der derzeit verfügbaren Tageskapazitäten bei der Registrierung ausgelegt ist. Die Entscheidung über die Schaffung einer derartigen Einrichtung wurde daher als Reaktion auf die eingehend beschriebene Zuzugsentwicklung und zur Gewährleistung eines bedarfsgerechten und effizienten Flüchtlingsmanagements im Bereich der Erstaufnahme und -versorgung getroffen und fand auch in den vom Senat erstellten Masterplan Integration und Sicherheit Eingang. Berlin, den 31. März 2016 In Vertretung Dirk G e r s t l e _____________________________ Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 01. Apr. 2016)