Drucksache 17 / 18 249 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Fabio Reinhardt (PIRATEN) vom 17. März 2016 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 18. März 2016) und Antwort Wie bemüht ist der Senat um die Umsetzung der Richtlinien 2013/33/EU (Aufnahmerichtlinie) und 2013/32/EU (Asylverfahrensrichtlinie)? Wie steht er zum Asylpaket II und dem geplanten EU-Flüchtlingspaket? Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: 1. Wie beurteilt der Senat die fehlende Umsetzung der Richtlinien 2013/33/EU (Aufnahmerichtlinie) und 2013/32/EU (Asylverfahrensrichtlinie) in Deutschland? Zu 1.: Der Senat geht davon aus, dass die Bundesregierung bestrebt ist, die fehlende gesetzliche Umsetzung der Richtlinien einzuleiten. 2. Welche bundesgesetzlichen Initiativen gab bzw. gibt es zur Umsetzung der Richtlinien 2013/33/EU (Aufnahmerichtlinie ) und 2013/32/EU (Asylverfahrensrichtlinie ) in Deutschland? Wie war bzw. ist das Land Berlin an diesen Prozessen beteiligt bzw. hat es selber entsprechende Bundesratsinitiativen zur Umsetzung der oben genannten Richtlinien initiiert oder beabsichtigt es, solche Initiativen zu initiieren? Wenn das Land nicht an bundesgesetzlichen Initiativen beteiligt war bzw. ist bzw. keine solche Initiativen initiiert hat oder zu initiieren beabsichtigt, was waren/sind die Gründe? Welche Position vertrat bzw. vertritt das Land Berlin auf Bundesebene bzgl. der Umsetzung der oben genannten Richtlinien in Deutschland? Zu 2.: Beide EU-Richtlinien betreffen Bundesrecht (Aufenthaltsgesetz, Asylgesetz, Asylbewerberleistungsgesetz ) und sind vom Bundesgesetzgeber umzusetzen. Bekannt ist, dass das Bundesministerium des Innern zur Umsetzung der beiden EU-Richtlinien im Herbst 2015 einen Referentenentwurf eines „Gesetzes zur Umsetzung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems“ vorgelegt und die Ressortabstimmung auf Bundesebene eingeleitet hatte. Welche Gründe dazu geführt haben, diesen Gesetzesentwurf nicht weiter zu verfolgen, lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Der Senat von Berlin war an diesen Prozessen nicht beteiligt. Statt kleinteiliger Lösungen einzelner Bundesländer befürwortet der Senat bundeseinheitliche Regelungen im Umgang mit Asylsuchenden und Schutzbedürftigen. Der Senat wird die weiteren Entwicklungen auf nationaler und europäischer Ebene aufmerksam beobachten und die Gesetzgebungsvorhaben des Bundes zur Umsetzung europäischen Rechts sehr genau prüfen. Im Übrigen wird auf die Antwort zu Frage 1. verwiesen. 3. Während der Sitzung des Ausschusses für Europaund Bundesangelegenheiten, Medien am 17. Februar 2016 hat Frau Staatssekretärin Dunger-Löper gesagt, dass das europäische Recht im Bereich Asyl gültiges Recht sei, „[i]nsofern gebe es einen Anspruch auf einen entsprechenden Umgang, den das Land Berlin versuche umzusetzen “ (Inhaltsprotokoll EuroBundMed 17/69). Wie wird die Umsetzung der Richtlinien 2013/33/EU (Aufnahmerichtlinie ) und 2013/32/EU (Asylverfahrensrichtlinie) durch das Land Berlin trotz fehlender bundesgesetzlicher Umsetzung konkret gewährleistet? Welche Artikel der oben genannten Richtlinien wurden im Land Berlin bereits umgesetzt? Welche nicht und warum? Zu 3.: Bedeutsame Aspekte insbesondere der Richtlinie 2013/33/EU („Aufnahme-RL“) werden mit Blick auf besonders schutzbedürftige Personen wie Minderjährige in Berlin umgesetzt und die entsprechenden Verfahren fortentwickelt: Zum 30. Januar 2015 wurde von der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales das Rundschreiben Soz Nr. 02/2015 über die Leistungen nach § 6 Abs. 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) im Lichte der o.g. Richtlinie veröffentlicht (http://www.berlin.de/sen/soziales/berlinersozialrecht /land/rdschr/2015_02.html). Im Land Berlin kooperieren die Sozialbehörden bereits seit 2009 mit dem Berliner Netzwerk für besonders Schutzbedürftige (BNS), das vom Senat finanziell unterstützt wird. Ziel ist es, besonders schutzbedürftige Ge- Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 18 249 2 flüchtete möglichst frühzeitig an spezialisierte Fachberatungsstellen weiterzuleiten, die die Menschen beraten und die Behörden bei der Feststellung des individuellen Bedarfes unterstützen. Es wird derzeit ein Leitfaden entwickelt , der Mitarbeitende von Behörden und anderen Einrichtungen bei der Gesprächsführung mit besonders Schutzbedürftigen unterstützen und insbesondere Indikatoren für die verschiedenen Formen von Schutzbedürftigkeit beinhalten soll. Auf diese Weise wird die Feststellung der besonderen Schutzbedürftigkeit im Rahmen der Registrierung erleichtert. Für besonders Schutzbedürftige ist am Standort Turmstraße des Landesamtes für Gesundheit und Soziales eine sog. „Fastlane“ eingerichtet worden, also ein Bearbeitungszug mit kürzeren Wartezeiten. Diese gesonderte Bearbeitung mündet auch in die Belegungssteuerung, um im Rahmen verfügbarer Kapazitäten die besonders schutzbedürftigen Asylsuchenden möglichst direkt in Unterkünften unterzubringen, die für den jeweiligen Personenkreis durch ihre baulichen Voraussetzungen oder ihre Ausstattung in besonderem Maße geeignet sind. Auch die in den Unterkünften mit mindestens 500 Unterkunftsplätzen eingerichteten Med-Punkte sind für die Situation besonders schutzbedürftiger Personenkreise sensibilisiert und nehmen ggf. Kontakt zur Heimleitung bzw. zum Landesamt für Gesundheit und Soziales auf, wenn eine andere Unterbringung erforderlich ist. Das Verfahren zur Identifizierung besonders schutzbedürftiger Personen ist nicht auf den Personenkreis der neu eingereisten Flüchtlinge beschränkt. Besondere Schutzbedürfnisse können auch zu einem späteren Zeitpunkt eintreten und geltend gemacht werden. Die besonderen leistungsrechtlichen Bedarfe besonders schutzbedürftiger Personen sind bei der Ermessensausübung für den Personenkreis der Leistungsberechtigten nach § 6 AsylbLG zu berücksichtigen. Liegt ein spezieller Bedarf nachweislich vor, der über die Grundleistungen hinausgeht oder anderweitig nicht gedeckt werden kann, kann die Erbringung der Leistung in Ausübung des Ermessens erfolgen. Die Ermessensleistungen umfassen neben der Unterstützung durch den Sozialdienst und einer geschützten Unterbringung auch unter anderem die Anerkennung eines Mehrbedarfes für kostenaufwendige Ernährung entsprechend der Empfehlungen des Deutschen Vereins. In Fällen einer bescheinigten Schwangerschaft kann ein Mehrbedarf die Ernährung, Schwangerschaftsbekleidung und Babyerstausstattung umfassen. Krankenhilfe nach § 4 AsylbLG umfasst auch die Hebammenhilfe und Pflegesachleistungen analog SGB XII, wenn diese unerlässlich sind. Zu den weiteren Bedarfen wird auf die Ausführungen im o.g. Rundschreiben Soz Nr. 02/2015 verwiesen . Die dortige Aufzählung ist nicht abschließend. Auch das „Versorgungs- und Integrationskonzept für Asylbegehrende und Flüchtlinge“ des Senats vom 11. August 2015 (http://www.berlin.de/rbmskzl/_assets/dokumentation/ver sorgungs-_und_integrationskonzept_fur_fluchtlinge.pdf) sowie der Entwurf des Masterplans für Integration und Sicherheit vom 15. März 2016 (http://www.berlin.de/rbmskzl/aktuelles/politikaktuell /2016/meldung.458963.php) thematisieren die spezifischen Bedarfe besonders schutzbedürftiger Flüchtlinge. In seinem Versorgungsund Integrationskonzept für Asylbegehrende und Flüchtlinge vom 11. August 2015 hat das Land Berlin als erstes Bundesland lesbische, schwule, bisexuelle sowie transgeschlechtliche Flüchtlinge als besonders schutzbedürftige Gruppe im Sinne der EU- Aufnahmerichtlinie anerkannt. Besondere Unterkünfte wurden bereits für Frauen mit Kindern bzw. alleinreisende Frauen sowie lesbische, schwule, bisexuelle sowie transgeschlechtliche Geflüchtete eingerichtet. Die Musterverträge und Grundsätze für den Betrieb von Flüchtlingsunterkünften werden derzeit überarbeitet, u.a. mit dem Ziel, den Belangen bestimmter besonders schutzbedürftiger Personengruppen wie beispielsweise alleinstehende und/oder gewaltbetroffene Frauen sowie lesbische, schwule, bisexuelle sowie transgeschlechtliche Geflüchtete besser gerecht zu werden. Zurzeit befassen sich die zuständigen Senatsverwaltungen für besonders schutzbedürftige Flüchtlinge in regelmäßigen Arbeitsgruppentreffen mit der Entwicklung eines Modells zur Identifizierung von besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen, um deren Versorgungs- und Unterbringungsbedarf zu sichern. Des Weiteren werden folgende Einzelmaßnahmen im Zusammenhang mit lesbischen, schwulen, bisexuellen sowie transgeschlechtlichen Geflüchteten realisiert: Ausbau der Unterstützungs- und Beratungsstruktur Ausbau der Fortbildungen für Heimleitungen und Sozialarbeiter/innen von Flüchtlingsunterkünften sowie Integrationslots/innen regelmäßige Fachgespräche seit Mai 2015 mit den Akteurinnen und Akteuren in dem Feld (nicht nur lesbische, schwule, bisexuelle sowie transgeschlechtliche Organisationen, sondern auch „klassische “ Flüchtlingsorganisationen und Verwaltung ) Einrichtung von lesbischen, schwulen, bisexuellen sowie transgeschlechtlichen Ansprechpersonen sowohl beim Landesamt für Gesundheit und Soziales / Sozialdienst als auch beim Meldekopf des Landesweiten Koordinierungsstabs Flüchtlingsmanagement Darüber hinaus wurden die im Berliner Haushaltsplan 2016/2017 vorgesehenen Mittel für die Rechts- und Verfahrensberatung von Geflüchteten aufgestockt, mit denen unter anderem auch mehrere zum BNS gehörende Beratungsstellen gefördert werden. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 18 249 3 Des Weiteren findet in Berlin eine Abschiebehaft für minderjährige Flüchtlinge nicht statt (Art. 11 Abs. 2 der Aufnahme-RL). Bei der Einreise unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge wird grundsätzlich geprüft, ob in Deutschland Familienmitglieder vorhanden sind, mit denen eine Zusammenführung erfolgen könnte. Bei begleiteten Minderjährigen erfolgt eine Unterbringung im Familienverbund (Art. 12 der Aufnahme-RL). Zum Besuch von Kindertagesstätten (Art. 14 der Aufnahme-RL) gilt im Regelfall, dass nach einem mindestens dreimonatigen erlaubten Aufenthalt ein sog. gewöhnlicher Aufenthalt nach § 30 SGB I gegeben ist, der Voraussetzung für die Beanspruchung von Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe nach dem SGB VIII ist, worunter auch der Besuch einer Kindertagesstätte fällt. Über die Möglichkeit eines Kindertagesstättenbesuchs schon nach kürzerer Aufenthaltsdauer entscheiden die zuständigen Jugendämter im Einzelfall nach Ermessen. Minderjährigen begleiteten oder unbegleiteten Flüchtlingen wird unabhängig von ihrem Status ein Schulplatz (Art. 14 der Aufnahme- RL) angeboten, sobald eine Anmeldung des Kindes oder der/ des Jugendlichen in einer regionalen Koordinierungsstelle für Willkommensklassen erfolgt ist. Die Beschulung beginnt, wenn eine Gesundheitsuntersuchung und eine Sprachstandsfeststellung durchgeführt wurden. In Abhängigkeit vom Ergebnis der Sprachstandsfeststellung wird die Aufnahme in eine Regelklasse oder eine Willkommensklasse angewiesen. In den Willkommensklassen steht der Erwerb der deutschen Sprache im Mittelpunkt des Unterrichts. Der Zugang zur medizinischen Versorgung gerade auch für Minderjährige ist in Berlin sichergestellt. Für Personen mit besonderen gesundheitlichen Beeinträchtigungen wird unverzüglich ein Ergänzungspfleger für die Rechtskreise Gesundheit und Aufenthaltsbestimmung bestellt, um sicherzustellen, dass die adäquate Unterbringung und Behandlung eingeleitet werden können (Art. 19, Art. 23 Abs. 4 der Aufnahme- RL). In Berlin wurden Minderjährige schon immer nach den Standards der Jugendhilfe betreut, deren Fokus das Kindeswohl ist. Dementsprechend wird die Familienzusammenführung immer geprüft. Möglichkeiten zur Freizeitbeschäftigung sind sichergestellt, Familien werden in Berlin gemeinsam untergebracht (Art. 23). In Berlin wurden geeignete Maßnahmen ergriffen, um auch angesichts der enorm gestiegenen Anzahl an minderjährigen Schutzsuchenden diesen in angemessener Dauer einen gesetzlichen Vertreter/ eine gesetzliche Vertreterin zur Seite zu stellen (Art. 24 Abs. 1 der Aufnahme-RL). Grundsätzlich erfolgt die Unterbringung unbegleiteter Minderjähriger in Einrichtungen nach Art. 24 Abs. 2 a-d der Aufnahme-RL. Ausnahmsweise war Berlin angesichts der sprunghaft gestiegenen Flüchtlingszahlen teilweise gezwungen, eine temporäre Unterbringung in anderen Einrichtungen vorzunehmen . Eine angemessene pädagogische Betreuung ist jedoch in allen Unterbringungseinrichtungen gewährleistet . Die Vorgaben des Art. 24 Abs. 3 der Aufnahme -RL finden in Berlin Beachtung, insbesondere wird auf das Auffinden von Familienangehörigen und die Möglichkeiten der Familienzusammenführung besonderer Wert gelegt. Die Betreuung erfolgt durch anerkannte Träger der Jugendhilfe, sodass die Qualifikation des Betreuungspersonals gewährleistet ist (Art. 24 Abs. 4 der Aufnahme-RL). Im Übrigen wird auf die Antwort zu Frage 2 verwiesen . 4. Wie beurteilt der Senat das am 25. Februar 2016 vom Bundestag und am 26. Februar 2016 vom Bundesrat beschlossene Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz (Asylpaket II)? Ist es mit der deutschen Verfassung, dem europäischen Recht im Bereich Asyl bzw. mit den internationalen Konventionen, z. B. mit der UN-Kinderrechtskonvention , vereinbar? Wenn nicht, was hat der Senat unternommen, um den Beschluss dieses Gesetzes zu verhindern bzw. das beschlossene Gesetz zu ändern, damit es mit der deutschen Verfassung, dem europäischen Recht und den internationalen Konventionen vereinbar ist? Zu 4.: Der Senat begrüßt das Ziel des am 17. März 2016 in Kraft getretenen „Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren“ („Asylpaket II“), die Asylverfahren in Fällen nur geringer Erfolgsaussicht zu beschleunigen und Rückführungen vollziehbar Ausreisepflichtiger zu erleichtern. Dieses Ziel entspricht dem Anliegen des Senats, in einem fairen Verfahren in angemessener Zeit über den Status der neueinreisenden Personen zu entscheiden und so den tatsächlich Schutzbedürftigen kurzfristig Sicherheit und eine Bleibeperspektive bieten zu können. Der Senat hält die mit dem „Asylpaket II“ verbundenen Neuregelungen im Asylgesetz, im Aufenthaltsgesetz und im Asylbewerberleistungsgesetz für vereinbar mit internationalem Recht sowie für verfassungs - und europarechtskonform. 5. Welche Position vertritt der Senat auf der Bundesbzw . EU-Ebene bezüglich des für Frühjahr 2016 geplanten EU-Flüchtlingspakets? Zu 5.: Sofern mit dem in der Fragestellung angesprochenen „EU-Flüchtlingspaket“ das von der EU- Kommission geplante „Migrationspaket“ gemeint ist, so sind die konkreten Inhalte dem Senat noch nicht bekannt. Daher ist eine Meinungsbildung des Senats noch nicht möglich. Berlin, den 30. März 2016 In Vertretung Bernd Krömer Senatsverwaltung für Inneres und Sport (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 04. Apr. 2016)