Drucksache 17 / 18 330 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage der Abgeordneten Martin Delius und Fabio Reinhardt (PIRATEN) vom 05. April 2016 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 06. April 2016) und Antwort Zweisprachige Erziehung (ZWERZ) und Bildung in Berlin – Welche Bedeutung hat die Muttersprache für die Förderung der Zweitsprache Deutsch und welche Konsequenzen zieht der Senat für die Sprachförderung geflüchteter Kinder in Berlin? Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: 1. Am 25. Februar 2016 sagte Prof. Dr. Daniela Caspari (FU Berlin), dass die Förderung der Muttersprache durch muttersprachlichen Unterricht für den Erwerb der Zweit- oder Fremdsprache Deutsch bedeutend sei. Der Abbruch des Mutterspracherwerbs führe zu Schwierigkeiten des Zweit- oder Fremdspracherwerbs. Dies sei wissenschaftlich nachgewiesen. Welche Studien und welche Forschungsergebnisse sind dem Senat bekannt, die diese These bestätigen? Zu 1.: Frau Prof. Dr. Caspari von der Freien Universität Berlin (FU) stellte im Ausschuss für Bildung, Jugend und Familie am 15.02.2016 im Rahmen ihres Vortrags zum Thema „Frühes Fremdsprachenlernen an der Grundschule “ u. a. die vier Formen des Spracherwerbs an der Berliner Schule mit den jeweiligen Erfolgen und Herausforderungen vor. Dem Senat sind verschiedene Studien bekannt, die sich mit diesem Thema befassen; zum Beispiel bietet die Studie von Hans H. Reich et al. „Spracherwerb zweisprachig aufwachsender Kinder und Jugendlicher “ (Hamburg 2002) einen Überblick über den Stand der nationalen und internationalen Forschung. In der Untersuchung „Der Einfluss der Erstsprache auf den Erwerb der Zweitsprache“ (Seda Tunç, 2012) wird die Bedeutung erstsprachlicher Strukturen bei zweisprachig türkisch-deutschen, kroatisch-deutschen und griechischdeutschen Hauptschülerinnen und Hauptschülern sowie Gymnasiastinnen und Gymnasiasten dargestellt. 2. Laut den Angaben von Frau Prof. Dr. Caspari gab es in den 80er Jahren 18 Grundschulen, die am Programm „Zweisprachige Erziehung“ (ZWERZ) teilnahmen. 1992/1993 waren es laut der Antwort des Senats in der Schriftlichen Anfrage 17/16260 14 Schulen. Heute sind es nur noch 5 Grundschulen. a) Welche und wie viele Schulen nahmen ab welchem Schuljahr nicht mehr am Programm ZWERZ teil? b) Was waren jeweils die Gründe? c) Insofern als Grund ein Rückgang der Anzahl der teilnehmenden Schüler*innen am Programm angegeben wurde, welche prozentuale oder absolute Abnahme der Anzahl der Schüler*innen am ZWERZ-Programm ist dem Senat aus welchen Schulen noch bekannt? d) Wurde damals ein von Schulleitungen behaupteter Rückgang von der Senatsverwaltung geprüft? Wenn nein, warum nicht? e) Hat der Senat Kenntnisse darüber, dass der Rückgang der ZWERZ-Grundschulen mit Gerüchten oder vermeintlichen Sorgen verbunden waren, das Programm würde deutschsprachige Kinder aus den Grundschulen, gar aus den Kiezen vertreiben? Wenn ja, wie steht der Senat heute zu solchen Gerüchten? Zu 2. a) bis 3. d): Das Angebot „Zweisprachige Alphabetisierung Deutsch/Türkisch (ZwErz)“ für Kinder mit den Herkunftssprachen/Familiensprachen Türkisch oder Deutsch ging aus dem Schulversuch „Zweisprachige Alphabetisierung/Erziehung“ (Laufzeit: 1983 bis 1992) hervor und wurde zum Schuljahr 1992/93 an 14 Grundschulen als Regelangebot eingerichtet. Vor dem Hintergrund sinkender Nachfrage entschieden sich die Schulen zum Schuljahr 1999/2000, das Angebot als Schwerpunktschulen für ZwErz fortzuführen oder auslaufen zu lassen. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 18 330 2 Schwerpunktschulen ab 1999/2000: 01G45 Leo-Lionni-Grundschule Zusammenlegung aus Trift-Grundschule (Schulversuch „Zweisprachige Alphabetisierung/Erziehung“) und Hermann-Herzog- Schule 01G31 Wedding-Grundschule 02G22 Jens-Nydahl-Grundschule 02G25 Kurt-Held-Grundschule Ausstieg 2006/2007 – Schule wurde aufgelöst 07G01 Spreewald-Grundschule 08G01 Rixdorfer-Grundschule 08G06 Karl-Weise-Grundschule Ausstieg 2007/2008 Schulen, die das Angebot ab 1999/2000 auslaufen ließen: 01G15 Anne-Frank-Grundschule 02G17 Rosegger-Grundschule Schule wurde aufgelöst 02G18 Nürtingen-Grundschule 02G28 Niederlausitz-Grundschule 02G28 und 02G30 fusionierten, jetzt Rosa-Paks-Grundschule (GS) 02G35 02G30 Paul-Dohrmann-Grundschule s.o. 07G04 Schwielowsee-Grundschule Schule wurde aufgelöst 07G13 Neumark-Grundschule Im Dezember 2001 wurde für diese Schwerpunktschulen mit einem Genehmigungsschreiben ein verbindlicher Rahmen für die zweisprachige deutsch-türkische Alphabetisierung geschaffen. Die Personalausstattung der Schulen ist an die Schülerzahlen in den ZwErz-Klassen gebunden. Im Zuge des jährlich stattfindenden Monitorings werden daher die Angaben der Schulleitungen eingeholt und geprüft. Vor 2009 bezogen sich diese Angaben auf die Anzahl der ZwErz-Klassen. Seit 2009 orientiert sich die Zumessung an der Anzahl der teilnehmenden Schülerinnen und Schüler. Diese unterliegen an den ZwErz-Standorten nur leichten Schwankungen. An der Spreewald-Grundschule ist die Teilnahme an den ZwErz-Angeboten seit dem Schuljahr 2014/2015 allerdings stark rückläufig. Zu 3. e): Hierüber hat der Senat keine Kenntnisse. 4. Welche Ergebnisse hinsichtlich der Beherrschung der Zweit- oder Fremdsprache Deutsch bei Kindern, die das Programm ZWERZ (im Rahmen des FU- Modellversuchs »Sozialisationshilfen für ausländische Kinder in der Grundschule und Kita«) besucht haben sind dem Senat aus der entsprechenden Evaluation von Prof. Dr. Zimmer aus dem Jahr 1988 und aus welchen weiteren Evaluationen oder Studien bekannt? a) Wann gedenkt der Senat, eine erneute Evaluation des ZWERZ-Programms durchzuführen? Zu 4.: Das Konzept wird seit Ende 2014 in einer Arbeitsgruppe einer regelmäßigen Bestandsaufnahme unterzogen . Dabei werden insbesondere die Konzeption, die ursprünglichen Ziele, die Entwicklung der Schülerzahlen und die Klassenzusammensetzung geprüft. In dieser Arbeitsgruppe sind neben der Fachreferentin der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft, Schulaufsichtsbeamtinnen und Schulaufsichtsbeamte der Bezirke sowie Schulleitungen und Lehrkräfte der ZwErz-Schulen beteiligt. In dem bisherigen Arbeits- und Diskussionsprozess besteht Konsens darüber, dass die Stärkung der Muttersprachenkompetenz der türkischen Schülerinnen und Schüler positiv zu bewerten ist. Eine erneute Evaluation des Konzepts, das sich an den teilnehmenden Schulen bewährt, ist nicht vorgesehen. 5. Welche Konsequenzen zieht der Senat aus den in der Frage 1 genannten Forschungsergebnissen und aus den in Frage 4 erwähnten Evaluationsergebnissen des Programms ZWERZ für die Förderung der Muttersprache und für den Erwerb der Zweit- und Fremdsprache Deutsch für Kinder nichtdeutscher Muttersprache an Berliner Grundschulen? Zu 5.: Der Senat unterstützt die Förderung der Muttersprache u.a. durch herkunftssprachlichen Unterricht, die zweisprachige Erziehung, die Förderung der Staatlichen Europa-Schule Berlin sowie den Fremdsprachenunterricht ab Klasse 3: An Berliner Grundschulen wird Muttersprachlicher Ergänzungsunterricht (MEU) Türkisch angeboten. Im zweiten Schulhalbjahr 2014/2015 startete die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft an Berliner Grundschulen ein Projekt für Berliner Schülerinnen und Schüler, ihre Muttersprache Arabisch zu erlernen. Weiterhin gibt es das Modell der zweisprachigen Erziehung (ZwErz), das den Ausbau der Muttersprache durch die zweisprachige Alphabetisierung unterstützt und fördert . Die Staatliche Europa-Schule Berlin (SESB) bietet durchgängig Unterricht in zwei Sprachen und insgesamt neun Sprachkombinationen an. Zudem können Schulen für die Pflege und Förderung von weiteren Sprachen Arbeitsgemeinschaften einrichten. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 18 330 3 2006 hat der Senat das Modul „Deutsch als Zweitsprache (DaZ)“ im Lehramtsstudium für Bachelor- und Masterstudierende eingerichtet. Berlin war damit das erste Bundesland, in dem alle Lehramtsstudierenden im Laufe ihres Studiums DaZ-Kurse belegen mussten. Somit werden zukünftige Lehrerinnen und Lehrer gezielt dafür ausgebildet, Kinder zu unterstützen, deren Muttersprache nicht Deutsch ist. 6. Welche Konsequenzen aus den Ergebnissen zieht der Senat insb. für die Sprachförderung von geflüchteten Grundschulkindern? Zu 6.: Der zunehmende Zuzug von Familien mit Kindern ohne Deutschkenntnisse stellt eine besondere Herausforderung der Beschulung dar. Der Senat hat frühzeitig reagiert und richtete im Jahr 2010 temporäre Lerngruppen für neuzugewanderte Kinder und Jugendliche ohne Deutschkenntnisse, parallel zum Regelunterricht, ein. Diese Lerngruppen dienen vor allem dem intensiven und systematischen Erwerb der deutschen Sprache als Unterrichtssprache und haben das Ziel, den Wechsel in eine Regelklasse zum frühesten möglichen Zeitpunkt vorzubereiten . Eine der wichtigsten Voraussetzung für Teilhabe und Integration ist das Beherrschen der deutschen Sprache . 7. Warum sind lt. der Antwort der Senatsverwaltungsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft in der Schriftlichen Anfrage 17/18042 keine zweisprachigen Erziehungs- und insb. keine deutsch-arabischen Bildungsangebote für geflüchtete, arabisch sprechende Kinder vorgesehen, wenn die genannten Forschungs- und Evaluationsergebnisse belegen, dass für den erfolgreichen Erwerb der Fremd- und Zweitsprache Deutsch die Förderung der Muttersprache, des Arabischen von hoher Bedeutung ist? a) Wie ist die Antwort hinsichtlich der dazu widersprüchlichen Aussage des Staatssekretärs Herr Rackles am 8. Januar 2015 in der 47. Sitzung des Ausschusses für Bildung, Jugend und Familie zu verstehen, der sagte, dass die Senatsverwaltung im Zuge des Ausbaus der SESB- Schulen und aufgrund einer hohen Nachfrage darüber nachgedacht hätte, „ein neues arabisches Angebot aufwachsen zu lassen“? b) Welche Sprachförderung soll lt. Schriftlicher Anfrage 17/18068 und laut Tagesspiegel vom 22. März 2016 stattdessen zukünftig an Berliner Schulen geflüchteten Kindern, insb. mit arabischer Muttersprache angeboten werden, die den Erwerb der Zweit- oder Fremdsprache Deutsch befördern kann? c) Von welchem „Pilotprojekt, wo die arabische Sprache ergänzend zum Unterricht gesprochen wird“ sprach Senatorin Scheeres am 25. Januar 2016 in der 67. Sitzung des Ausschusses für Bildung? Um welche vier Grundschulen handelt es sich und bis wann sollen welche „Ergebnisse “ aus welchen Untersuchungen vorliegen? Zu 7.: Die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft startete im zweiten Schulhalbjahr 2014/2015 an zwei Berliner Grundschulen ein Projekt für Berliner Schülerinnen und Schüler ihre Muttersprache Arabisch zu erlernen. Seit dem Schuljahr 2015/2016 konnte es auf vier Grundschulen ausgedehnt werden, insgesamt nehmen inzwischen 120 Kinder von Jahrgangsstufe 1 bis 3 daran teil. Es sieht in der Schulanfangsphase vor, Schülerinnen und Schüler in ihrer Muttersprache Arabisch im wöchentlich zweistündigen Unterricht zu alphabetisieren. Am Projekt nehmen die Wedding-Grundschule (01G31), die Schule am Fliederbusch (08G33), die Erika-Mann- Grundschule (01G41) und die Carl-Bolle-Grundschule (01G18) teil. Das Projekt ist zunächst aufwachsend bis zum Ende der Grundschule konzipiert und soll neben dem Unterricht in Arabisch auch einen Teil der Willkommenskultur an den jeweiligen Schulstandorten zum Ausdruck bringen. Mit der steigenden Anzahl von geflüchteten Kindern aus arabischsprachigen Ländern steigt die Anzahl der Schülerinnen und Schüler, die neben dem Unterricht in Deutsch als Zweit- oder Fremdsprache, ein hohes Interesse an einem muttersprachlichen Unterricht in Arabisch haben. Gegenwärtig nehmen bereits schon einige Kinder, deren Eltern aus Syrien geflüchtet sind, am Projekt teil. Da sich das Projekt „Muttersprache Arabisch“ noch in der Entstehungsphase befindet, könnte nunmehr ein neuer Schwerpunkt auf die konzeptionelle Integration dieser beiden unterschiedlichen Zielgruppen gerichtet werden. 8. Wie ist das Konzept für die Sprachförderung in „Willkommensklassen“? a) Welche Rolle spielen dabei die vielfältigen Muttersprachen ? b) Welche Erkenntnisse oder Erfahrungen zu den Ergebnissen der Sprachförderung in „Willkommensklassen“ liegen den Senat bisher vor? c) Wann gedenkt der Senat die bisherige Sprachförderung in „Willkommensklassen“ zu evaluieren? Zu 8.: Bei den Willkommensklassen handelt es sich um eine temporäre Lerngruppe, die das Ziel des gezielten Spracherwerbs hat. Es obliegt der Schule im Rahmen ihres schuleigenen Sprachbildungskonzepts, Schülerinnen und Schüler ohne Deutschkenntnisse entsprechend ihren Vorkenntnissen zu unterrichten und dafür geeignete Maßnahmen festzulegen. Ziel ist der möglichst schnelle Erwerb der deutschen Sprache, um den zügigen Übergang in eine Regelklasse zu ermöglichen. Seit 2012 kann das deutsche Sprachdiplom (DSD Stufe 1) der Kultusministerkonferenz (KMK) auch in Willkommensklassen erworben werden. Die beteiligten Lehrkräfte erhalten eine Qualifizierung, um die Schülerinnen und Schüler im Schreiben, Lesen, Hören und Sprechen so zu ertüchtigen, dass diese den Nachweis auf B1-Niveau erbringen können . Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 18 330 4 Die Förderung der Mehrsprachigkeit ist im neuen Rahmenlehrplan verankert und damit Aufgabe aller Schulen . Die Berücksichtigung der Erstsprachen der Schülerinnen und Schüler auf dem Weg zu einer soliden alltagssprachlichen Kompetenz in der Zielsprache Deutsch kann für diese motivierend und unterstützend wirken. In den Willkommensklassen unterrichten u. a. Lehrkräfte mit Kenntnissen in der Herkunftssprache ihrer Schülerinnen und Schüler und können diese weiter fördern. Die Sprachenvielfalt an den Schulen wird im Schulgebäude und im Klassenraum sichtbar gemacht und im Rahmen des Unterrichts sowie in Projekten berücksichtigt. Die Lehrkräfte werden für diese Aufgabe im Rahmen von Fortbildungen, Fachtagen und durch Fachbriefe qualifiziert. Im März 2015 startete ein Evaluationsprojekt im Rahmen des Bund-Ländervorhabens Bildung durch Sprache und Schrift (BiSS), an dem sich Berlin beteiligt. Das Evaluationsvorhaben wird durchgeführt von der Universität Jena und zielt darauf ab, Maßnahmen zur sprachlichen Bildung von neu zugezogenen Schülerinnen und Schülern an Schulen der Sekundarstufe I zu untersuchen. Nach einer Bestandsaufnahme der bestehenden Förderpraxis und der Bedürfnisse der Lehrer- und Schülerschaft werden Beobachtungen und Videografien des Unterrichts sowie Gruppendiskussionen durchgeführt. Dabei werden die Unterrichtsqualität sowie die Schülerperspektive erfasst . Diese prozessbegleitende Evaluation dient dazu, ein gleichermaßen wissenschaftlich fundiertes und praxistaugliches Konzept für die schulische Integration von Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteigern an Schulen der Sekundarstufe I zu entwickeln. Die Laufzeit des Projekts beträgt 3 Jahre. Berlin, den 18. April 2016 In Vertretung Mark Rackles Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 21. Apr. 2016)