Drucksache 17 / 18 335 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage der Abgeordneten Alexander Spies und Dr. Simon Weiß (PIRATEN) vom 05. April 2016 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 06. April 2016) und Antwort Beständige Diskriminierung im Wahlrecht? Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: 1. Wie viele Personen sind nach aktuellem Stand von der Wahl zum Abgeordnetenhaus 2016 ausgeschlossen? Bitte aufschlüsseln nach § 2 Nr. 2 und § 2 Nr. 3 Landeswahlgesetz ? Zu 1.: Nach dem Berliner Melderegister, auf dem die Wahlverzeichnisse für die Wahl zum Abgeordnetenhaus beruhen, werden – mit Stand vom 14. April 2016 – 649 mit Hauptwohnung in Berlin melderechtlich registrierte Deutsche am 18. September 2016 vom aktiven Wahlrecht ausgeschlossen sein. Da im Melderegister ausschließlich die Tatsache des Wahlrechtsausschlusses sowie der Verweis auf das diesbezügliche Beweismittel gespeichert werden darf (in der Praxis sind dies der Name des Gerichts, auf dessen Entscheidung der Wahlrechtsausschluss beruht sowie das Geschäftszeichen des zugrunde liegenden Verfahrens und das Datum der Entscheidung), ist die erfragte Aufschlüsselung nach den einzelnen Tatbeständen des § 2 des Landeswahlgesetzes (LWG) nur durch Auswertung der Verfahrensgeschäftszeichen möglich. Diese Auswertung erlaubt allerdings lediglich eine Unterscheidung zwischen zivilgerichtlichen und strafgerichtlichen Entscheidungen, die zum Wahlrechtsausschluss nach § 2 Nr. 2 LWG einerseits und nach § 2 Nr. 1 und 3 LWG andererseits führen. Eine weitere Differenzierung nach der Art der strafgerichtlichen Entscheidung im Sinne des § 2 Nr. 1 und Nr. 3 LWG ist anhand der Verfahrensgeschäftszeichen nicht möglich. Die Auswertung der Verfahrensgeschäftszeichen ergibt, dass den Wahlrechtsausschlüssen in 340 Fällen zivilgerichtliche (Betreuungs-) Entscheidungen und in 303 Fällen strafgerichtliche Entscheidungen zugrunde liegen. In den übrigen Fällen war eine Zuordnung nicht zweifelsfrei möglich. Auf der Grundlage der Strafverfolgungsstatistik der Jahre 2001 bis 2014 der Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz kann allerdings davon ausgegangen werden, dass die 303 Wahlrechtsausschlüsse aufgrund strafgerichtlicher Entscheidungen (nahezu) ausschließlich Fälle der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 2 Nr. 3 LWG) betreffen. Im Land Berlin wurde in diesem Zeitraum nämlich in keinem Fall ein Entzug des aktiven Wahlrechts als strafrechtliche Nebenfolge (§ 2 Nr. 1 LWG) ausgesprochen. 2. Wie ist die Unterscheidung des Wahlausschlusses nach § 2 Nr. 2 Landeswahlgesetz zu begründen, aufgrund derer Personen, untergebracht nach § 63 i.V.m § 20 StGB, von der Teilnahme an der Wahl zum AGH ausgeschlossen werden, während Personen, untergebracht nach § 64 i.V.m. § 20 StGB, die Teilnahme an der Wahl zum AGH gestattet wird? Zu 2.: Der Wahlrechtsausschluss im Fall einer Unterbringung nach § 63 in Verbindung mit § 20 des Strafgesetzbuchs (StGB) beruht darauf, dass nach verfassungsrechtlich zulässiger generalisierender und typisierender Betrachtungsweise dem insoweit erfassten schuldunfähigen Personenkreis ein Mindestmaß an Einsichts- und Wahlfähigkeit fehlt (vgl. Bayerischer Verfassungsgerichtshof , Urteil vom 9. Juli 2002 – Vf. 9-VII-01 –, juris Randnummer 64). Die Unterbringung Schuldunfähiger nach § 64 StGB (also im Fall eines Missbrauchs von Rauschmitteln) indiziert hingegen, dass die untergebrachte Person die für die Ausübung des Wahlrechts erforderliche Einsichtsfähigkeit besitzt (vgl. Strelen in: Schreiber [Hrsg.], Bundeswahlgesetz – Kommentar, 9. Auflage 2013, § 13 Randnummer 19). Dies rechtfertigt die wahlrechtlich andere Behandlung dieses Personenkreises. 3. Wie bewertet der Senat die Vereinbarkeit des Wahlausschlusses nach § 2 Nr. 2 und 3 Landeswahlgesetz mit den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention (insbesondere Artikel 29 UN-BRK)? Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 18 335 2 4. Erachtet es der Senat nach wie vor als sinnvoll, die Ergebnisse der „Studie zum aktiven und passiven Wahlrecht von Menschen mit Behinderungen“ im Zuge einer Entscheidung über die Aufhebung der vorgenannten Wahlausschlüsse abzuwarten (siehe Drucksache 17/12538), nachdem der zuständige UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen seine Besorgnis über die Wahlausschlüsse auf Bundes- sowie Länderebene geäußert hat und eine Aufhebung der Wahlrechtsausschlüsse empfiehlt? Wenn ja, weshalb? 5. Wie bewertet der Senat die Aufhebung der vorgenannten Wahlausschlüsse unabhängig von den Ergebnissen der „Studie zum aktiven und passiven Wahlrecht von Menschen mit Behinderung“? Zu 3., 4. und 5.: Wie der Senat bereits verschiedentlich zum Ausdruck gebracht hat, bedarf der Ausschluss von Menschen mit Behinderungen vom Wahlrecht nach § 2 Nr. 2 und 3 LWG einer politischen Überprüfung . Dieser Überprüfung dient die von der Bundesregierung im Rahmen der Erarbeitung des Nationalen Aktionsplans zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Auftrag gegebene Studie zur aktiven und passiven Beteiligung von Menschen mit Behinderungen an Wahlen. Diese wird insbesondere die verfassungsrechtlichen wie völkerrechtlichen Rahmenbedingungen – und gegebenenfalls Grenzen – einer Wahlteilnahme von Menschen mit kognitiven Behinderungen beleuchten. Insoweit geht der Senat davon aus, dass die Ausführungen des UN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen zu den Wahlrechtsausschlüssen nach § 13 Nr. 2 und 3 des Bundeswahlgesetzes (BWahlG) und den vergleichbaren landesrechtlichen Bestimmungen in den Concluding Observations zum ersten Staatenbericht der Bundesrepublik zur UN-Behindertenrechtskonvention in der Studie Berücksichtigung finden werden. Besondere Beachtung dürfte die Studie allerdings auch der verfassungsrechtlichen Bedeutung und Gewährleistung der Kommunikationsfunktion von Wahlen (vgl. Bundesverfassungsgericht , Urteil vom 4. Juli 2012 – 2 BvC 1/11 – Randnummer 39 ff. des Urteilsumdrucks) schenken. Vor diesem Hintergrund hält es der Senat für sachgerecht , die gebotene politische Überprüfung der Regelungen in § 2 Nr. 2 und 3 LWG auf der Grundlage der von der Bundesregierung in Auftrag gegebenen Studie vorzunehmen und deren Veröffentlichung – voraussichtlich im Sommer dieses Jahres – abzuwarten. Ergänzend ist anzumerken, dass die hier in Rede stehenden Wahlrechtsausschlusstatbestände derzeit verfassungsgerichtlich überprüft werden. Diese Überprüfung erfolgt durch das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Entscheidung über Wahlprüfungsbeschwerden gegen die Wahl zum 18. Deutschen Bundestag, die im November 2014 eingelegt wurden und mit denen die Verfassungswidrigkeit des § 13 Nr. 2 und 3 BWahlG geltend gemacht wird. Diese Bestimmung entspricht § 2 Nr. 2 und 3 LWG. Berlin, den 20. April 2016 In Vertretung Bernd Krömer Senatsverwaltung für Inneres und Sport (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 27. Apr. 2016)