Drucksache 17 / 18 458 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Alexander Spies (PIRATEN) vom 21. April 2016 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 22. April 2016) und Antwort Freiheitsentziehende Maßnahmen in stationären Einrichtungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderung Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: 1. Welche Regelungen bzw. gesetzlichen Rahmenbedingungen stellen die Grundlage für freiheitsentziehende bzw. freiheitsbeschränkende Maßnahmen in stationären Einrichtungen für minderjährige Personen mit Behinderung im Land Berlin dar (im Speziellen Leistungstypen WHKJE und HBKJE)? Zu 1.: Einrichtungen für minderjährige Menschen mit geistigen und /oder körperlichen Behinderungen im Leistungstyp Betreutes Wohnen im Heim für behinderte Kinder , Jugendliche und junge Erwachsene (WHKJE) sowie im Leistungsangebot Herbergen für behinderte Kinder, Jugendliche und junge Erwachsen (HBKJE) sind offene stationäre Wohnangebote der Behindertenhilfe. Im Land Berlin stehen derzeit 277 stationäre Plätze an neun Standorten sowie eine Herberge mit 12 Plätzen zur Verfügung. Vorrangige Zielsetzung der Eingliederungshilfe ist es, Menschen mit Behinderung die Teilhabe am Leben in der Gesellschafft zu ermöglichen, dieser Zielsetzung stände eine geschlossene Unterbringung destruktiv entgegen. Eine von der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales durchgeführte Umfrage über die Anwendung von freiheitsentziehenden Maßnahmen wurde von allen neun Anbietern negativ beantwortet. 2. Ist zur Anwendung einer freiheitsentziehenden bzw. freiheitsbeschränkenden Maßnahme in stationären Einrichtungen für minderjährige Personen mit Behinderung im Land Berlin die Einholung einer richterlichen Genehmigung erforderlich? 4. Welche freiheitsentziehenden bzw. freiheitsbeschränkenden Maßnahmen werden im Land Berlin in stationären Einrichtungen gegenüber minderjährigen Personen mit Behinderung in welcher Häufigkeit angewendet (Zimmereinschluss, Fixierung, Time-Out-Raum, medikamentöse Maßnahmen etc.)? 5. Welche Sicherungs- und Kontrollmaßnahmen bzw. -mechanismen gibt es im Land Berlin, um einer missbräuchlichen Anwendung von freiheitsentziehenden bzw. freiheitsbeschränkenden Maßnahmen gegenüber minderjährigen Personen mit Behinderung vorzubeugen? 6. Welche Daten zu freiheitsentziehenden bzw. freiheitsbeschränkenden Maßnahmen gegenüber minderjährigen Personen mit Behinderung werden von den Einrichtungen erfasst und an den Senat übermittelt und in welcher Form und zu welchen Zwecken werden diese vom Senat evaluiert und weitergenutzt? Die nachstehenden Antworten beziehen sich vordergründig auf Maßnahmen für schutzbedürftige Minderjährige im Bereich der kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgungsstruktur. (Im Landeskrankenhausplan 2016 stehen insgesamt 438 Betten/Plätze für Kinder und Jugendliche zur Verfügung. Im Jahr 2014 waren es 205 stationäre Betten mit 2.020 Behandlungsfällen, bei einer Verweildauer von rund 35 Tagen und 158 teilstationäre Plätze (Tageskliniken) mit 1.361 Behandlungsfällen und einer Verweildauer von rund 29 Tagen. Aus der Statistik 2014 der Krankenhäuser mit einem psychiatrischen Versorgungsauftrag für Kinder und Jugendliche geht hervor, dass fünf Unterbringungen nach § 26 PsychKG und 96 Unterbringungen nach § 1631b BGB erfolgt sind.) Zu 2. und 4. bis 6.: Das Leistungsangebot der Berliner Krisen- und Clearingeinrichtung, die am 17.08.2012 den Betrieb aufgenommen hat, richtet sich an schutzbedürftige Minderjährige von 13 bis 16 Jahren mit tatsächlichem Aufenthalt in Berlin, die aufgrund erheblicher Fremdoder Selbstgefährdung im Rahmen der Inobhutnahme der zeitlich befristeten Krisenintervention mit freiheitsentziehenden Maßnahmen (FM) bedürfen. Aufgenommen werden Minderjährige, für die eine Gefahrenabwehr im Rahmen der Inobhutnahme nur durch zeitweise freiheitsentziehende Maßnahmen möglich ist. Eine Unterbringung, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist, bedarf der Genehmigung des Familiengerichts (vgl. § 42 Abs. 5 Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 18 458 2 Achtes Sozialgesetzbuch (SGB VIII) in Verbindung mit § 1631b Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) bzw. vgl. Jugend -Rundschreiben Nr. 2 / 2013). Die Krisen- und Clearingeinrichtung hat die Aufgabe massiv gefährdete Kinder und Jugendliche angemessen zu schützen. Das intensivpädagogische Konzept trägt dem besonderen Betreuungsbedarf der Kinder und Jugendlichen Rechnung und zielt auf eine enge Verbindung von Alltagserleben mit pädagogischen und therapeutischen Angeboten, um die Kinder und Jugendlichen in ihrer Entwicklung zu fördern. Vorrangiges Ziel ist dabei, Zugang zu finden und eine pädagogische Erreichbarkeit des Minderjährigen zu ermöglichen, um Anschlusshilfen in einem offenen Angebot der Hilfen zur Erziehung (HzE) bzw. Eingliederungshilfe für seelisch Behinderte gemäß § 35a SGB VIII vorzubereiten (vgl. Schriftliche Anfrage 17/16388). Mit dem o. g. Jugend-Rundschreiben 2 / 2013 hat die für Jugend zuständige Senatsverwaltung in Abstimmung mit der Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz und den Familiengerichten die rechtlichen und fachlichen Standards im Hinblick auf die hier im Besonderen zu beachtenden Verfahrens- und Beteiligungsrechte von Kindern und Jugendlichen in Verbindung mit freiheitsentziehenden Maßnahmen verbindlich geregelt (vgl. Schriftliche Anfrage 17/14715). Entsprechend der Betriebserlaubnis gemäß § 45 SGB VIII darf der „Time-Out-Raum“ nur dann kurzzeitig genutzt werden , wenn alle pädagogischen und therapeutischen Interventionsmöglichkeiten in einer Akutsituation ausgeschöpft sind, also eine Gefahr für „Leib- und Leben“ vorliegt. Bei der Durchführung der Unterbringung eines Minderjährigen im Beruhigungsraum dürfen keine Maßnahmen angewandt werden, die im Sinne des § 1631 Abs. 2. BGB als entwürdigende Maßnahmen zu verstehen sind. Die Nutzung des Raums ist gegenüber der Einrichtungsaufsicht meldepflichtig. Die Einrichtungsaufsicht führt in der Einrichtung, mit dem Einverständnis des Trägers, auch unangemeldete Besuche durch. Darüber hinaus dokumentiert und evaluiert der Träger die Arbeit der Krisen- und Clearingeinrichtung im Rahmen seiner Verpflichtungen gemäß Anlage B des Berliner Rahmenvertrages für Hilfen in Einrichtungen und durch Dienste der Kinder- und Jugendhilfe (BRVJug) anhand seines internen Qualitätsmanagement-Systems. Jährlich ergeht ein Qualitätsbericht an die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft. Die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft hat mit der Eröffnung der Einrichtung einen interdisziplinären und interministeriellen Fachbeirat einberufen, der die Implementierung des Krisen- und Clearingangebotes begleitet und die Erfahrungen auswertet. Daneben werden operative Prozesse der sozialpädagogischen Arbeit des Trägers im Rahmen des Qualitätsentwicklungsdialoges mit der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft reflektiert und bewertet (vgl. Schriftliche Anfrage 17/16388). 3. Sind dem Senat Fälle bekannt, in denen die Aufnahme einer minderjährigen Person mit Behinderung in eine stationäre Einrichtung an die Zustimmung der Eltern oder anderer Personensorgeberechtigter zu freiheitsentziehenden bzw. freiheitsbeschränkenden Maßnahmen geknüpft war bzw. die Aufnahme bei Verweigerung der Zustimmung verwehrt wurde und wie hat der Senat in diesen Fällen reagiert? Zu 3.: Dem Senat sind keine derartigen Fälle bekannt. Berlin, den 04. Mai 2016 In Vertretung Dirk G e r s t l e _____________________________ Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 06. Mai 2016)