Drucksache 17 / 18 460 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage der Abgeordneten Claudia Hämmerling (GRÜNE) vom 21. April 2016 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 22. April 2016) und Antwort Manipulation in der Grundlagenforschung zum Schaden von Tieren und Steuergeldern Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: Die Schriftliche Anfrage betrifft Sachverhalte, die der Senat überwiegend nicht aus eigener Zuständigkeit und Kenntnis beantworten kann. Er ist jedoch bemüht, Ihnen eine Antwort auf Ihre Anfrage zukommen zu lassen und hat daher die Charité – Universitätsmedizin Berlin um eine Stellungnahme gebeten. Die Beantwortung der Anfrage beruht daher zum Teil auf der von der Charité – Universitätsmedizin Berlin übergebenen Stellungnahme. 1. Wie bewertet der Senat die Grundlagenforschung vor dem Hintergrund, dass das Forscherteam um Constance Holman und Ulrich Dirnagl von der Charité bei der Überprüfung hunderter Schlaganfall- und Krebsstudien feststellen musste, dass in der Mehrzahl der Artikel die Zahl der Ratten und Mäuse nicht exakt angegeben wurde, bzw. dass bei vielen Studien Versuchstiere über die Dauer der Experimente verschwanden und hierdurch mangelhafte bzw. verfälschte Ergebnisse entstanden sind? 2. Wie bewertet der Senat die Auffassung, dass dieses Ergebnis alarmierend ist und die Glaubwürdigkeit der medizinischen Grundlagenforschung in Frage stellt? 3. Wie soll unter diesen Voraussetzungen künftigen Forscher*innen ermöglicht werden, ihre Studien auf vorangegangene fehlerfreie Ergebnisse aufzubauen? 4. Wie bewertet der Senat den Umstand, dass sich immer mehr Expert*innen über manipulierte Studien, über mangelnde Transparenz hinsichtlich möglicher Interessenkonflikte und der Finanzierung, sowie die mangelnde Qualitätssicherung von Studien beklagen, während Forscher*innen für so zweifelhafte Studien in der medizinischen Grundlagenforschung immer mehr Tiere verbrauchen ? Zu 1.-4.: Die Forscherinnen und Forscher Constance Holman, Sophie K. Piper, Ulrike Grittner, Andreas Antonios Diamantaras, Jonathan Kimmelman, Bob Siegerink und Ulrich Dirnagl veröffentlichten in der medizinischen Fachzeitschrift PLOS am 4. Januar 2016 (Online-Ausgabe http://dx.doi.org/10.1371/journal.pbio.1002331) eine Studie mit dem Titel „Where Have All the Rodents Gone? The Effects of Attrition in Experimental Research on Cancer and Stroke”. Bis auf einen sind alle Autorinnen und Autoren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Die Publikation von Holman C. et al stößt ein dringend notwendiges Umdenken innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft an, dazu gehört auch maßgeblich die Veröffentlichung ‚negativer‘ und neutraler Studienergebnisse . Grundlage der Analyse waren hochrangige internationale Publikationen aus dem Bereich der Schlaganfallund Krebsforschung. (Es handelt sich explizit nicht um Studien, die an der Charité – Universitätsmedizin Berlin entstanden sind.) Die Autoren fordern aufgrund ihrer Befunde eine konsequente und transparente Dokumentation für alle Versuchsanordnungen, an denen Tiere beteiligt sind. Zudem schlagen sie Standards vor, wie sie analog für klinische Studien am Menschen gelten. Mit entsprechend international gültigen Regularien für die experimentelle Forschung werden Forschungsergebnisse transparent und valider. Das führt langfristig auch zu einer Reduktion von Tierversuchen. Diese Entwicklungen treiben Charité, das BIG und anderer Berliner biomedizinische Einrichtungen auf hohem Niveau voran. Es darf bei der u. a. durch die von Holman et al. angestoßenen Diskussion jedoch nicht übersehen werden, dass derartig in ihrer Qualität verbesserte Tierversuche im Moment immer noch eine unverzichtbare Komponente der biomedizinischen Entwicklung im Interesse der PatientInnen ist. Tierexperimentelle Arbeiten mit robusten statistischen Auswertungen stellen einen wesentlichen Teil der medizinischen Grundlagenforschung dar. Dabei sind eine hohe Validität der Ergebnisse, die solide Information der wissenschaftlichen Gemeinschaft und auf den Ergebnissen fußende Folgestudien zwingend notwendig und fester Bestandteil einer guten wissenschaftlichen Praxis. Durchbrüche in der Medizin in den zurückliegenden Jahren, z.B. im Bereich der Krebsbehandlung, demonstrieren die Glaubwürdigkeit qualitativ hochwertiger medizinischer Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 18 460 2 Grundlagenforschung. Meta-Research, d.h. Forschung über Forschung, befasst sich mit der Frage wie sich die Qualität der wissenschaftlichen Praxis weiter verbessern lässt. Die vorliegende Studie von Holman C et. al ordnet sich in diese Bemühungen ein. Ziel ist es, begrenzte Ressourcen effizient einzusetzen, achtsam mit Versuchstieren umzugehen und Fortschritte in der Forschung zu ermöglichen . Die Studienergebnisse sind sehr ernst zu nehmen und verweisen auf einen relevanten Handlungsbedarf im gesamten Publikations-, Förderungs- und Anreizsystem der Wissenschaft. Wissenschaftliche Kompetenz, statistische Fähigkeiten und die kritische Reflektion publizierten Wissens sind Kompetenzen, die mit hohem Aufwand im universitätsmedizinischen Umfeld Studierenden und angehenden forschenden Klinikern vermittelt werden. Wissenschaftliche Hypothesen werden hierbei grundsätzlich nicht als ‚fehlerfrei‘ sondern immer als eine Momentaufnahme in der Weiterentwicklung menschlichen Wissens betrachtet. Somit ist die kritische Beurteilung der Validität publizierter Daten zentrales Handwerkzeug für solide Folgestudien . Hierfür sind eine vollständige Dokumentation von Versuchsanordnungen und die Publikation aller Ergebnisse , auch wenn diese eine Forschungshypothese nicht bestätigen, sehr wichtig. 5. Steht nach Auffassung des Senats die Forschungsfreiheit im Rahmen manipulierter Studien über dem Schutz der Tiere? 6. Wenn nein, welche Maßnahmen will er ergreifen, um diesen Missstand zu beseitigen? Zu 5. und 6.: Die Forschungsfreiheit schließt manipulierte Studien nicht ein, da diese nicht zum Erkenntnisgewinn und medizinischem Fortschritt beitragen. Eine vergleichende Betrachtung wie in der Frage formuliert, stellt der Senat deshalb nicht an. 7. Welche Anforderungen stellt der Senat derzeit an die Berliner Grundlagenforschung hinsichtlich der Qualitätssicherung der Forschungsergebnisse? Zu 7.: Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterwerfen ihre Forschungstätigkeit von sich aus den Regeln der Guten Wissenschaftlichen Praxis. Beispielsweise hat die Wissenschaft mit den ‚Empfehlungen der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis‘ aus dem Jahre 1998 eine Selbstkontrolle initiiert und formuliert, die einen allgemeinen Konsens gefunden hat. Aufgrund dieser Empfehlungen wurde ein flächendeckendes System der Selbstkontrolle in allen verfassten Institutionen der Wissenschaft eingerichtet. Eine Ergänzung und Aktualisierung der Empfehlungen wurde von der Mitgliederversammlung der DFG zuletzt am 3. Juli 2013 verabschiedet. Der Berliner Senat erwartet von den mit Mitteln des Berliner Haushalts vollständig oder anteilig finanzierten wissenschaftlichen Einrichtungen, dass sie sich auf die Einhaltung dieser Regeln verpflichten. Diesen Anspruch macht der Senat u. a. im Zuge seiner Mitwirkung in den Aufsichtsgremien der Einrichtungen geltend. 8. Weshalb gelten die hohen wissenschaftlichen Standards der klinischen Forschung, die zu reproduzierbaren Forschungsergebnissen führen nicht auch in der Grundlagenforschung ? 9. Wie bewertet der Senat die Auffassung, dass eine Förderung der Wissenschaft unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen nicht effizient ist? 10. Welche Konsequenzen wird der Senat im Rahmen seiner Förderpolitik ergreifen, um die Ressourcenverschwendung in der medizinischen Grundlagenforschung bei manipulierten Studien zu beseitigen? Zu 8.-10.: Grundsätzlich gelten hohe wissenschaftliche Standards sowohl in der klinischen Forschung als auch in der Grundlagenforschung. Abhängig davon, ob Forschung am Patienten oder am Tier durchgeführt wird, bestehen jeweils spezifische Standards, die der jeweiligen Kategorie bestmöglich gerecht werden. Dies ist aus Sicht des Berliner Senats sinnvoll. 11. Wie bewertet der Senat den Umstand, dass die Genehmigungsbehörden bei Tierversuchen nur eine „qualifizierte Plausibilitätskontrolle“ durchführen können und die wissenschaftliche Bewertung der Unerlässlichkeit und die der Schaden-Nutzen-Abwägung des Tierversuchs durch die Wissenschaftler*innen bestimmt wird, die den Versuch durchführen möchten (vgl. OVG Bremen vom 11. Dezember 2012 bzw. Beschluss des BVG vom 20.1.2014). 12. Wie sieht der Senat in dieser Form der Genehmigungspraxis die objektive und die unabhängige Prüfung der Anträge gewährleistet, welche die maßgebliche EU- Richtlinie 2010/63 fordert? Zu 11. und 12.: Die EU-Versuchstierrichtlinie wurde nach Überzeugung des Senats durch Änderung des Tierschutzgesetzes (TierSchG) und den Erlass der Tierschutz- Versuchstierverordnung 2013 korrekt in nationales Recht umgesetzt. Nach § 7 a Absatz 2 Nr. 3 TierSchG dürfen Tierversuche nur durchgeführt werden, wenn sie ethisch vertretbar sind. Kann ein Antragsteller diese ethische Vertretbarkeit nicht wissenschaftlich begründet darlegen/nachweisen (§ 8 Absatz 1 Nr. 1 TierSchG), kann die Behörde die Genehmigung verweigern. Somit haben die zuständigen Behörden im Hinblick auf die Prüfung der Genehmigungsvoraussetzungen einen Prüfungsspielraum, den diese auch nutzen. Zudem wird durch Etablierung der Tierversuchskommissionen nach § 15 Absatz 1 TierSchG, die die zuständigen Behörden, in Berlin das Landesamt für Gesundheit und Soziales, bei der Genehmigung von Versuchsvorhaben beraten, deutlich, dass das Genehmigungsverfahren Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 18 460 3 nicht mit einer reinen Plausibilitätsprüfung gleichzusetzen ist. Der Senat teilt deshalb die Auffassung nicht, dass die behördliche Prüfungsbefugnis und Prüfungspflicht durch die nationale Umsetzung des Genehmigungsverfahrens lediglich auf eine Plausibilitätskontrolle beschränkt sei und die Behörden entgegen den Vorgaben der Richtlinie die Projektbewertung nicht unabhängig durchführen könnten, sondern an die Angaben der antragstellenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gebunden seien. Berlin, den 6. Mai 2016 In Vertretung Dr. Hans R e c k e r s ........................................................... Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Forschung (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 10. Mai 2016)