Drucksache 17 / 18 552 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Dirk Behrendt (GRÜNE) vom 10. Mai 2016 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 13. Mai 2016) und Antwort Notarielle Urkundensammlungen aus dem Nationalsozialismus auch in Berlin für die Forschung erschließen Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: Frage 1: Teilt der Senat die Auffassung, dass die notariellen Urkundensammlungen aus der Zeit des Nationalsozialismus , die die Arisierung jüdischen Grundbesitzes und jüdischer Unternehmen dokumentieren, bedeutsame Quellen für die Forschung sind? Zu 1.: Notarielle Urkunden aus der Zeit des Nationalsozialismus (NS), die die „Arisierung“ jüdischen Grundbesitzes und jüdischer Unternehmen zum Gegenstand haben, sind bedeutsame Quellen für die Forschung. Frage 2: Wie werden notarielle Urkunden aus der NS- Zeit in Berlin derzeit verwahrt? Zu 2.: Notarielle Urkunden aus der NS-Zeit befinden sich – soweit sie nicht während des Zweiten Weltkrieges vernichtet wurden – in Verwahrung des Amtsgerichts Schöneberg, das auch die Urkunden aus dem fraglichen Zeitraum, die sich am 3. Oktober 1990 bei den ehemaligen staatlichen Notariaten der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) befanden, übernommen hat. Lediglich die Akten eines Notars, der auch vor 1945 tätig war, sind in Verwahrung eines anderen, noch amtierenden Notars gem. § 51 Abs. 1 Satz 2 Bundesnotarordnung (BNotO). Frage 3: Inwieweit können notarielle Urkunden aus der NS-Zeit in Berlin gegenwärtig für die Forschung genutzt werden? Zu 3.: Die Nutzung notarieller Unterlagen aus der NS- Zeit in Berlin für Forschungszwecke ergibt sich nicht aus dem Berliner Archivgesetz, sondern aus der BNotO. Sämtliche notariellen Urkunden, auch solche aus der NS- Zeit, unterliegen der notariellen Verschwiegenheitspflicht gem. § 18 Abs. 1 BNotO. Eine Einsicht in notarielle Urkunden durch Dritte, d.h. über den Personenkreis gem. § 51 Abs. 1 und 3 Beurkundungsgesetz (BeurkG) hinaus, ist möglich, wenn die Beteiligten oder ggf. deren Erben oder an deren Stelle der Präsident des Landgerichts gem. § 18 Abs. 2 BNotO von der Pflicht zur Verschwiegenheit entbinden. Auf dieser Grundlage entscheidet eine Rechtspflegerin /ein Rechtspfleger des verwahrenden Amtsgerichts in richterlicher Unabhängigkeit über ein Einsichtsgesuch eine oder mehrere konkret zu bezeichnende Urkunden betreffend. Den Gesuchen wird nach der Befreiung von der Verschwiegenheitspflicht für einzelne Historikerinnen und Historiker nach Einzelfallprüfung regelmäßig stattgegeben. Frage 4: Beabsichtigt der Senat, notarielle Urkunden aus der NS-Zeit dem Landesarchiv als Archivgut zur Nutzung für die Forschung zu übertragen, wie dies bereits vor Jahren in Nordrhein-Westfalen geschehen ist? Wenn ja, bis wann ist damit zu rechnen? Wenn nein, warum nicht? Zu 4.: Die Präsidentin des Amtsgerichts Schöneberg ist zur Entscheidung berufen, ob dem Landesarchiv notarielle Urkunden zur Übernahme angeboten werden, Nr. 37 der Allgemeinen Verfügung über Angelegenheiten der Notarinnen und Notare (AVNot) vom 30. Mai 2006 (ABl. S. 2007), zuletzt geändert durch die Verwaltungsvorschriften zur Änderung der AVNot vom 15. Juli 2014 (ABl. S. 1438). Eine entsprechende Regelung findet sich zu Nr. 36 der neuen AV Not, die am 1. Juni 2016 in Kraft treten wird. Die Präsidentin des Amtsgerichts Schöneberg ist bereit , notarielle Urkunden aus der Zeit vom 30. Januar 1933 bis zum 8. Mai 1945 an das Landesarchiv abzugeben . Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 18 552 2 Frage 5: Welche rechtlichen und/oder tatsächlichen Hindernisse stehen in Berlin einer Übertragung der notariellen Urkunden aus der NS-Zeit an das Landesarchiv und deren Nutzung für die Forschung entgegen und wie können diese Hindernisse in welchem zeitlichen Rahmen beseitigt werden? Zu 5.: Die Abgabe notarieller Urkunden aus der Zeit vom 30. Januar 1933 bis zum 8. Mai 1945 durch die Präsidentin des Amtsgerichts Schöneberg allein gewährleistet jedoch nicht die generelle Einsichtnahme und Auswertung notarieller Urkunden beim Landesarchiv durch Historikerinnen und Historiker. Es bleibt bei der notariellen Pflicht zur Verschwiegenheit gem. § 18 Abs. 1 BNotO, die gem. § 9 Abs. 9 Nr. 5 des Gesetzes über die Sicherung und Benutzung von Archivgut des Landes Berlin (Archivgesetz des Landes Berlin - ArchGB) vom 25. März 2016 auch vom Landesarchiv zu beachten ist. Unter diesen Umständen ist die Übertragung der Verwahrung notarieller Urkunden an das Landesarchiv für eine im Vergleich zur derzeitigen Verfahrensweise vereinfachte Einsichtnahme und Auswertung durch Historikerinnen und Historiker nicht zielführend. Weil das Amtsgericht Schöneberg auch bei einer Abgabe der notariellen Urkunden an das Landesarchiv weiterhin für die Erteilung von (vollstreckbaren) Ausfertigungen und Abschriften zuständig bliebe (§ 51 Abs. 5 Satz 2 BNotO), würde eine Übernahme notarieller Urkunden durch das Landesarchiv nach der derzeitigen Rechtslage in Berlin ohne eine generelle Möglichkeit zur Auswertung durch Historikerinnen und Historiker lediglich zu einem organisatorischen Mehraufwand, dem kein Nutzen gegenübersteht, führen. Denn zur Erteilung von Ausfertigungen und Abschriften müssten einzelne Urkunden auf Anforderung vom Landesarchiv dem Amtsgericht Schöneberg zur Verfügung gestellt werden. Entsprechendes gilt bei einer Einsichtnahme in konkret zu bezeichnende Urkunden im Anschluss an eine Entbindung von der Verschwiegenheitspflicht (§ 51 Abs. 3 BeurkG, § 18 BNotO). Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Archivgesetz des Landes Berlin vom 25. März 2016. Das Archivgesetz lässt zwar in § 7 Abs. 2 die Aufbewahrung von Unterlagen im Auftrag öffentlicher Stellen und in deren Auftrag vor, die speichernde Stelle bleibt allerdings die abgebende Behörde, so dass auch in diesem Fall eine Benutzung nach Archivrecht nicht möglich wäre. Insofern greift das nordrhein-westfälische Beispiel für Berlin nicht. Eine Änderung des Berliner Archivgesetzes in dieser Hinsicht würde an der Rechtslage insgesamt nichts ändern , da die Urkundensammlungen aus der Zeit vor 1945 auch in Nordrhein-Westfalen vor Ablauf der rechtlichen Aufbewahrungsfrist der BNotO durch die Übergabe an das Landesarchiv kein Archivgut werden. Eine umfassende Auswertung der notariellen Urkunden aus der NS-Zeit durch Historikerinnen und Historiker nach Abgabe der Urkunden an das Landesarchiv könnte zukünftig etwa auf der Grundlage eines geänderten § 18 BNotO in Betracht kommen. Es müsste eine ausdrückliche bundesrechtliche Regelung zur Einsichtnahme in notarielle Urkunden aus der NS-Zeit zu Forschungszwecken aufgenommen werden. An das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz wurde eine entsprechende Anregung – auch von privaten Historikerinnen und Historikern – bereits herangetragen und wird dort geprüft. Berlin, den 26. Mai 2016 In Vertretung Tim Renner Der Regierende Bürgermeister von Berlin Senatskanzlei – Kulturelle Angelegenheiten (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 30. Mai 2016)