Drucksache 17 / 18 594 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Stefan Gelbhaar (GRÜNE) vom 19. Mai 2016 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 20. Mai 2016) und Antwort Rollfiets in Berlin? Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: Die Schriftliche Anfrage betrifft auch Sachverhalte, die der Senat nicht aus eigener Zuständigkeit und Kenntnis beantworten kann. Er hat daher die Arbeitsgemeinschaft (ARGE) der Krankenkassen und Krankenkassenverbände in Berlin um eine Stellungnahme gebeten. Bei der Beantwortung der einzelnen Fragen wird darauf hingewiesen . 1. Wie will der Senat Menschen mit körperlichen Behinderungen , die auf einen Rollstuhl angewiesen sind, in den Fahrradverkehr integrieren? Liegen dem Senat dazu Konzepte vor? 5. Plant der Senat, ein Angebot von Rollstuhlrädern zu etablieren? Wenn nein, warum nicht? Zu 1. und 5.: Inwieweit Menschen mit körperlichen Behinderungen, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind, Dreiräder oder andere Arten von Fahrrädern nutzen können und wollen, ist das Ergebnis individueller Entscheidungen , die der Senat kaum beeinflussen kann. Was die Radverkehrsinfrastruktur angeht, strebt der Senat an, dass die Radverkehrsanlagen eine Breite und einen Verlauf aufweisen, der ihre Benutzung auch mit Dreirädern ermöglicht . Die in den Ausführungsvorschriften zu § 7 des Berliner Straßengesetzes über Geh- und Radwege niedergelegte Regelbreite von Radwegen beträgt auch aus diesem Grund seit dem Jahr 2013 bei ausreichender Flächenverfügbarkeit 2 m, um das Überholen von Dreirädern und anderen breiten Fahrrädern zu ermöglichen; auch bei eingeschränkter Flächenverfügbarkeit soll ein Maß von 1,6 m, das für das Befahren mit Dreirädern und ähnlich breiten Fahrrädern ausreicht, nicht unterschritten werden. Die Befahrbarkeit der Radverkehrsinfrastruktur für Dreiräder und ähnlich breite Fahrräder wird somit beim Umund Neubau von Radverkehrsanlagen weitestgehend gewährleistet . 2. In welchen Fällen wird die Kostenübernahme für eine Rollstuhl-Fahrrad-Kombination, ein sog. Rollfiets von den Krankenkassen übernommen? Wie viele Fälle von Anträgen und Bewilligungen gab es in den letzten Jahren? Hat es dazu Gespräche seitens des Landes Berlin mit Krankenkassen gegeben, falls ja, mit welchem Ergebnis ? 3. Trifft die Behauptung zu, dass Rollfietse von den Krankenkassen lediglich als Mittel der Freizeitbeschäftigung betrachtet werden und die weiteren Aspekte, die ein Rollfiets mit sich bringt, wie z.B. mehr Aktivität, mehr Teilnahmemöglichkeiten und mehr Bewegungsfreiheit, nicht berücksichtigt werden? Zu 2. und 3.: Auf die Bitte zur Stellungnahme an die ARGE haben einzelne Krankenkassen geantwortet. Die Antworten werden nachfolgend wiedergegeben: Die AOK Nordost hat wie folgt Stellung genommen: „Die Anzahl der Anträge ist sehr gering und es war bisher nicht notwendig, diesbezüglich Gespräche mit dem Land Berlin zu führen. Die Voraussetzungen zur Kostenübernahme von Rollstuhl -Fahrrad-Kombinationen sind im Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) geregelt und wurden in der Vergangenheit von mehreren Urteilen des Bundessozialgerichtes (BSG) untermauert. Kranken- oder Behindertenfahrzeuge können zur Erhaltung der Mobilität von den gesetzlichen Krankenkassen gewährt werden, wenn dauernd oder während eines längeren Zeitraums eine ausreichende Gehfähigkeit der/des Versicherten nicht besteht und die zugrunde liegende Behinderung oder Krankheit mit anderen Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation nicht ausgeglichen werden kann und wenn Gehhilfen einfacherer und preiswerterer Art nicht ausreichen. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 18 594 2 Das BSG hat wiederholt und ausdrücklich festgestellt, dass Freizeitbeschäftigungen - welcher Art auch immer - vom Begriff des vitalen Lebensbedürfnisses bzw. des allgemeinen Grundbedürfnisses des täglichen Lebens nicht erfasst werden (vgl. BSG-Urteil vom 16. September 1999 - B 3 KR 8/98 R). Die gesetzliche Krankenversicherung hat bei einem vollständigen oder teilweisen Verlust der Gehfähigkeit nur für einen Basisausgleich zu sorgen. Sofern Krankenoder Behindertenfahrzeuge ausschließlich dazu eingesetzt werden, größere Entfernungen zu überwinden, fallen sie nicht in die Leistungspflicht der Gesetzlichen Krankenversicherung . Die Rechtsprechung des BSG hat das Grundbedürfnis der Erschließung eines gewissen körperlichen Freiraums nicht im Sinne des vollständigen Gleichziehens mit den letztlich unbegrenzten Mobilitätsmöglichkeiten der/des Gesunden verstanden. Dabei wurde die Bewegungsfreiheit lediglich in Bezug auf diejenigen Entfernungen als Grundbedürfnis bejaht, die ein/e Gesunde /r üblicherweise zu Fuß zurücklegt. Auch hier ist zu berücksichtigen, dass die Gesetzliche Krankenversicherung bei dem Verlust der Gehfähigkeit nur für einen Basisausgleich zu sorgen hat. Das Laufen bzw. Rennen zählt nur bei Kindern und Jugendlichen, nicht aber bei Erwachsenen zu den Vitalfunktionen (vgl. BSG-Urteil vom 16. September 1999 - B 3 KR 8/98 R). Die Rollstuhl-Fahrrad-Kombination ermöglicht dem behinderten Menschen grundsätzlich eine dem Radfahren vergleichbare und somit über den nach den dargelegten Grundsätzen bestimmten Nahbereich hinausgehende Mobilität. Allerdings können nach der Rechtsprechung Hilfsmittel , die der/dem Versicherten eine über den Nahbereich hinausgehende Mobilität ermöglichen, im Einzelfall gewährt werden, wenn besondere qualitative Momente dieses „Mehr“ an Mobilität erfordern. Solche besonderen qualitativen Momente liegen zum Beispiel vor, wenn der Nahbereich ohne das begehrte Hilfsmittel nicht in zumutbarer Weise erschlossen werden kann oder wenn eine über den Nahbereich hinausgehende Mobilität zur Wahrnehmung eines anderen Grundbedürfnisses notwendig ist. So ist etwa die Erschließung des Nahbereichs ohne das begehrte Hilfsmittel unzumutbar, wenn Wegstrecken im Nahbereich nur unter Schmerzen oder nur unter Inanspruchnahme fremder Hilfe bewältigt werden können. Zur Beantwortung der Frage, ob besondere qualitative Umstände ausnahmsweise die Gewährung von Rollstuhl- Fahrrad-Kombi-nationen erfordern, sind immer die Umstände des jeweiligen Einzelfalles maßgebend (vgl. BSG Urteil vom 18. Mai 2011 – B3 KR 12/10 R und B 3 KR 7/10 R). Aus den dargelegten Gründen werden alle Anträge auf Gewährung von Rollstuhl- Fahrrad-Kombinationen unter Berücksichtigung der jeweiligen Lebenssituation im Einzelfall geprüft. Sofern die Voraussetzungen erfüllt sind, übernimmt die AOK Nordost auch die Kosten für eine Rollstuhl- Fahrrad- Kombination. Die „BIG direkt gesund“ hat mitgeteilt, bislang keinen Antrag auf eine Rollstuhl-Fahrrad-Kombination, das sog. Rollfiets, beschieden zu haben. Gespräche zu dieser Thematik hat es seitens der BIG direkt gesund mit dem Land Berlin bisher nicht gegeben. Nach Rechtsauffassung der BIG direkt gesund können Versicherte der Gesetzlichen Krankenversicherung Hilfsmittel beanspruchen, wenn diese im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder von der Versorgung ausgeschlossen sind. „Kranken- und Behindertenfahrzeuge, dazu gehören die Rollfiets, können zur Erhaltung der Mobilität gewährt werden, wenn dauernd oder während eines längeren Zeitraums eine ausreichende Gehfähigkeit der/des Versicherten nicht besteht und die zugrunde liegende Behinderung oder Krankheit mit anderen Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation nicht ausgeglichen werden kann. Voraussetzung ist somit, dass ihr Einsatz zur Lebensbewältigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse (u. a. Grundfunktionen des Körpers, allg. Verrichtungen des täglichen Lebens, Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums) benötigt wird. Es ist darauf zu achten, dass lediglich ein Basisausgleich herbeizuführen ist. Demzufolge hat die Krankenkasse bei Eingang eines Antrages auf Versorgung mit einem Rollfiets zu prüfen, ob das Rollfiets im Rahmen eines durch die Krankenkasse sicherzustellenden Grundbedürfnisses tatsächlich im Einzelfall erforderlich ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass bei Kindern und Jugendlichen die Einbeziehung in den Kreis der Gleichaltrigen und die Förderung der sozialen Integration als Grundbedürfnis des täglichen Lebens angesehen werden kann. Allerdings macht die Nutzung eines Rollfiets die Anwesenheit einer (erwachsenen) Begleitperson permanent notwendig, was die Teilnahme an Aktivitäten anderer Kinder und Jugendlicher und damit die soziale Integration in die Gruppe Gleichaltriger regelmäßig ungeeignet erscheinen lassen. Hier müssen jedoch nicht zuletzt auch die Umstände des Einzelfalls berücksichtigt werden.“ Die IKK Brandenburg und Berlin teilt zu der Anfrage Folgendes mit: „Die IKK Brandenburg und Berlin hat bislang sehr wenige Anträge auf Kostenübernahme für kombinierte Rollstuhl-Fahrräder erhalten. Dabei handelt es sich fast ausschließlich um Versorgungen für Kinder, für die bei Vorliegen der nachfolgend aufgeführten Voraussetzungen auch die Kosten übernommen wurden.“ Die Ausführungen der IKK Brandenburg und Berlin zu den Voraussetzungen zur Kostenübernahme von Rollstuhl -Fahrrad-Kombinationen sind mit den Ausführungen der AOK Nordost identisch. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 18 594 3 Der Verband der Ersatzkassen e. V. (vdek) hat in seiner Stellungnahme im Namen der Ersatzkassen angegeben , dass vereinzelt Anträge auf Bewilligungen für Rollfiets vorgelegen haben bzw. vorgelegt werden. Der vdek führt in diesem Zusammenhang mehrere Entscheidungen (vgl. BSG-Urteile Az. B 3 KR 8/98R vom 16.09.1999; Az. B 3 KR 8/02 R vom 21.11.2002 und Az. B 3 KR 11/08 R vom 12.08.2009) des BSG auf, in denen wiederholt und ausdrücklich festgestellt wurde, dass Freizeitbeschäftigungen - welcher Art auch immer - vom Begriff des vitalen Lebensbedürfnisses bzw. des allgemeinen Grundbedürfnisses des täglichen Lebens nicht erfasst werden. Selbstverständlich würden die Ersatzkassen im Einzelfall entsprechende Anträge prüfen, insbesondere wenn es der Integration und der Teilnahme von Kindern und Jugendlichen am gesellschaftlichen Leben dienen könnte. 4. Wie steht der Senat zu der Auffassung, dass in Frage 2 genannten Aspekte ebenso wie eine Therapie positive Effekte auf die Gesundheit haben können und ein Rollfiets daher nicht nur als Mittel der Freizeitbeschäftigung gelten sollte? Zu 4.: Aus den Antworten der Krankenkassen ist ersichtlich , dass im Einzelfall geprüft wird, ob Rollfiets im Rahmen eines durch die Krankenkasse sicherzustellenden Grundbedürfnisses tatsächlich im Einzelfall erforderlich sind. Hierbei wird insbesondere bei Kindern und Jugendlichen die Einbeziehung in den Kreis der Gleichaltrigen und die Förderung der sozialen Integration als Grundbedürfnis des täglichen Lebens berücksichtigt. Etwaige positive Aspekte auf die Gesundheit durch die Gewährung eines Rollfiets sind sicherlich nicht in Abrede zu stellen, eine grundsätzliche Aussage zur Versorgung mit Rollfiets zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung kann der Senat aber nicht treffen. Berlin, den 02. Juni 2016 In Vertretung Emine D e m i r b ü k e n - W e g n e r _____________________________ Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 06. Juni 2016)