Drucksache 17 / 18 595 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Andreas Baum (PIRATEN) vom 19. Mai 2016 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 20. Mai 2016) und Antwort Rechnet sich der Senat die eigene Radverkehrsförderung schön und den Volksentscheid Fahrrad schlecht? Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: Frage 1: Nach Presseangaben, z. B. im Tagesspiegel vom 19.05.2016, hat StS. Gaebler die Ausgaben des Landes Berlin für den Radverkehr auf „35 Mio. Euro jährlich “ beziffert. Aus welchen Haushaltsmitteln setzt sich diese Summe zusammen? Frage 2: Seit wie vielen Jahren investiert der Senat „35 Mio. Euro jährlich“ in den Radverkehr, und welche Ausgaben sind für die kommenden Jahre vorgesehen? Frage 3: Wie erklärt der Senat die Abweichung der unter Frage 1 gemachten Angaben von der vor drei Monaten veröffentlichten Auflistung in Drs. 17/17799, der zufolge im Jahr 2016 15,3 Mio. Euro für die Radverkehrsförderung ausgegeben werden? Antwort zu 1, 2 und 3: Im Rahmen des am 18.05.2016 stattgefundenen Pressegesprächs erfolgte durch Herrn Staatssekretär Gaebler eine grobe Schätzung zu den möglichen jährlichen Ausgaben für den Radverkehr in Höhe von ca. 30 Mio. €/Jahr. Diese Summe beinhaltet auch Kostenanteile, die nicht direkt für den Radverkehr vorgesehen sind, jedoch trotzdem auch maßgebliche Verbesserungen im Radverkehr erzielen. Dies sind z.B. Maßnahmen aus der Straßeninstandsetzung, dem Leitungsbau oder auch aus U-Bahn-Tunneldeckensanierungsarbeiten der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG), bei denen nach der Wiederherstellung der Fahrbahnen regelgerechte Radverkehrsanlagen hergestellt werden können. Mit Maßnahmen der Städtebauförderung und den bezirklichen Unterhaltungsmaßnahmen werden weitere Verbesserungen für den Radverkehr erreicht. Die in Drs. 17/17799 genannten 15,3 Mio. € beziehen sich ausschließlich auf Haushaltstitel, bei denen die Verwendung der Mittel direkt dem Radverkehr zuzuordnen ist, wie z. B. „Sanierung von Radverkehrsanlagen“ sowie „Verbesserung der Infrastruktur für den Radverkehr“. Frage 4: Warum rechnet der Senat mit Kosten von rund 110 Mio. Euro für 17 Fahrradstaffeln in 8 Jahren, d. h. mit rund 810.000 Euro pro Fahrradstaffel und Jahr, wenn die derzeit im Modellversuch erprobte Fahrradstaffel laut Drs. 17/16458 mit 16.000 Euro pro Jahr sowie einer Anschubfinanzierung von 70.000 Euro auskommt? Antwort zu 4: Der derzeitige Modellversuch der Fahrradstaffel bei der Polizeidirektion 3 konnte zwar mit Personal aus dem vorhandenen Personalbestand der Polizei gestartet werden. Allerdings wurde dieses Personal von anderen Vollzugsaufgaben abgezogen. Deshalb beschränkten sich die Kosten des Modellversuchs auf grundsätzliche technische Ausrüstungskosten der Fahrradstaffel . Sowohl Polizei, als auch Ordnungsämter können bereits heute Vollzugsaufgaben nicht im gewünschten Umfang erledigen, die Umsetzung einer Forderung nach weiteren Fahrradstaffeln aus dem vorhandenen Personal zu Lasten anderer Vollzugsaufgaben ist nicht ernsthaft möglich. Es wurde daher in der Kostenberechnung auch das dafür erforderliche Personal berücksichtigt. Frage 5: Aus welchen konkreten Gründen nimmt der Senat für den Bau von 100 km Radschnellwegen fast doppelt so hohe Kosten an wie die laut einer Machbarkeitsstudie für den Bau des geplanten 100 km langen Radschnellweg Ruhr geschätzten 183,7 Mio. Euro? Antwort zu 5: Die Kosten von 183,7 Mio. € beziehen sich auf die rund 100 km Gesamtlänge des Radschnellwegs Ruhr RS1, der viele Gemeinden im Ruhrgebiet miteinander verbindet. Dabei verläuft der Radschnellweg Ruhr RS1 auf einer Länge von knapp 70 km „außerorts“ (ländliche oder suburbane Abschnitte). Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 18 595 2 Für die Kostenschätzung der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt (SenStadtUm) wurden alle Abschnitte des Radschnellwegs Ruhr RS1 betrachtet, die der Berliner Großstadtsituation entsprechen. Diese haben eine Gesamtlänge von rund 30 km und ein Gesamtkostenvolumen von ca. 96 Mio. €. Durchschnittlich ergeben sich somit vergleichbare Kosten in Höhe von mehr als 3,2 Mio. € pro Kilometer eines innerstädtischen Radschnellwegs. Frage 6: Wie viele der in der Kostenschätzung des Senats angenommenen 2.250 km Radverkehrsanlagen entlang von Hauptverkehrsstraßen müssten a. als Radfahr- bzw. Schutzstreifen neu angelegt, b. als separierter Radweg neu gebaut, c. wegen Baufälligkeit saniert, d. an die Standards des vorgestellten Radverkehrsgesetzes angepasst werden? Antwort zu 6: Eine weitergehende und detaillierte Differenzierung der unterschiedlichen Radverkehrsanlagen war im Rahmen der amtlichen Kostenschätzung nicht möglich. Solche detaillierten Angaben hätten einer Vorplanung (Leistungsphase 2 der HOAI) bedurft. Die Berechnungsgrundlage der Kostenschätzung sieht folgende Annahmen für den Neubau und für die regelgerechte Herstellung von Radverkehrsanlagen pro Straßenseite vor: Die Länge des übergeordneten Netzes der Hauptstraßen beträgt rund 1.600 km, das entspricht laut Radverkehrsgesetz einem Bedarf von rund 3.200 km Radverkehrsanlagen bezogen auf beide Straßenseiten. Derzeitig sind ca. 1.500 km Radverkehrsanlagen an den Straßenseiten in Berlin vorhanden. Hinzu kommen noch 100 km Bussonderfahrstreifen (Radfahren frei). Daraus ergibt sich lt. Forderungen des Radverkehrsgesetzes ein Neubauumfang von 1.800 km (inkl. Bussonderfahrstreifen) Radverkehrsanlagen pro Straßenseite. Für die bestehenden Radverkehrsanlagen wurde geschätzt , dass mindestens 50 % der Anlagen auf das geforderte Qualitätsniveau ausgebaut werden müssen. Damit ergibt sich ein zusätzlicher Ausbaubedarf von rund 750 km Radverkehrsanlagen pro Straßenseite. Es entsteht somit ein Umfang der Baumaßnahmen in 8 Jahren von insgesamt 2550 km Radverkehrsanlagen. Frage 7: Wie kommt der Senat zu seiner Kostenschätzung von rund 1,4 Mrd. Euro für den Bau oder die Sanierung von 2.250 km, d. h. rund 620 Euro pro Meter, während in der Drs. 17/18296 Neubau-Kosten von 10 Euro pro laufenden Meter Radfahrstreifen bzw. 200 Euro pro laufenden Meter Radweg angegeben wurden? Antwort zu 7: Für die Kostenermittlung wurden geprüfte aktuelle Bauplanungsunterlagen ausgewertet. Bauplanungsunterlagen setzen sich neben den z. B. in der Drs. 17/18296 genannten Teilleistungen aus einer Vielzahl von Kostenpositionen, die für die Baumaßnahme erforderlich sind, zusammen. Der erforderliche Aufwand für Radverkehrsmaßnahmen umfasst z. B.: • Markierungsarbeiten oder Beschilderungen, • dem baulichen Zustand der Straßen entsprechende Fahrbahnsanierungsarbeiten im Bereich der Radverkehrsanlagen , • bauliche Anpassungen in den Seitenbereichen, • Anpassung der Straßenregenentwässerung, • Anpassungen an den Lichtsignalanlagen. Der hierfür ermittelte Kostenwert beträgt rund 350 € pro Meter Radverkehrsanlage pro Straßenseite. Dazu kommen aufgrund der geforderten Mindeststandards laut Radverkehrsgesetz noch weitere plausible Kostenzuschläge (zuzüglich Baunebenkosten). Frage 8: Aus welchen konkreten Gründen nimmt der Senat Kosten von rund 6,5 Mio. Euro für die Einrichtung von 350 km Fahrradstraßen, d. h. rund 18.500 Euro pro km, an, wenn der Bezirk Steglitz-Zehlendorf laut Drs. 17/18297 mit rund 11.000 Euro pro km auskommt? Antwort zu 8: Bei der Kostenschätzung wurden Umsetzungsfälle bisheriger Fahrradstraßen in den Berliner Bezirken ausgewertet. Die Kosten beinhalten dabei Anpassungen von Markierungen, Beschilderung, Piktogramme sowie kleine bauliche Anpassungen. Da im Radverkehrsgesetz weitreichende zusätzliche Qualitäten für die Fahrradstraßen (z. B. 5 m-Mindestbreite der Fahrgasse, zusätzliche Piktogramme, Maßnahmen zu Unterbindung des Durchgangsverkehrs) gefordert sind, wurde dafür ein plausibler Qualitäts-Zuschlag ermittelt . Darin sind noch keine Kosten für mögliche Anpassungen von Lichtsignalanlagen enthalten, falls Fahrradstraßen an lichtsignalgeregelten Knotenpunkten beginnen sollen. Frage 9: Aus welchen konkreten Gründen plant der Senat mit 100 Mio. Euro für den radfahrgerechten Umbau von 200 Kreuzungen, d. h. im Durchschnitt 500.000 Euro pro Kreuzung, während die in Drs. 17/18276 genannten Umbauten im Durchschnitt rund 260.000 Euro kosteten, und nur eine dieser Umbaumaßnahmen einen Kostenrahmen von 500.000 Euro überstieg? Antwort zu 9: Die hoch angesetzten Qualitätsansprüche des Entwurfs für ein Radverkehrsgesetz lassen es i. d. R. nicht zu, lediglich die Markierungen (wie z. B. aufgeweitete Radaufstellstreifen, farblich unterlegte Radfahrerfurten ) an den Knotenpunkten zu verändern. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 18 595 3 Aufgrund der Qualitätsanforderungen werden ähnlich wie beim Herstellen der regelkonformen Radverkehrsanlagen an Hauptstraßen (vgl. Antwort 7) auch an den Knotenpunkten umfangreiche bauliche Anpassungen einschließlich Programmierung ggf. Ersatz-/ Neubau, insbesondere bei Altanlagen, erforderlich. Tatsächlich wurde hier ein Umbauaufwand nur für rund 200 Kreuzungen geschätzt (die Forderungen der Initiative summieren sich auf über 600 Kreuzungen), da Synergien mit den unter Frage 7 Baumaßnahmen erwartet werden. Frage 10: Wie viele der 200.000 Fahrradabstellanlagen sollen in Fahrradparkhäusern oder als Doppelstockanlagen gebaut werden, wenn der Senat von Kosten von rund 630 Euro pro Fahrradabstellplatz ausgeht, und laut Drs. 17/18277 für den Bau eines sogenannten Kreuzberger Bügels 250 Euro veranschlagt werden? Antwort zu 10: Es wurde unterstellt, dass aufgrund der fehlenden Flächen an Nachfrageschwerpunkten von den 200.000 Abstellplätzen rund 50.000 Abstellplätze als Doppelstockanlagen bzw. in (teils automatischen) Fahrrad -Parkhäusern benötigt werden. Frage 11: Wie erklärt der Senat die erhebliche Differenz in der Kostenschätzung von 10 Mio. Euro für die Einrichtung von 50 Grünen Wellen für den Radverkehr, d.h. jeweils 200.000 Euro, während laut Drs. 17/18276 von Kosten in Höhe von rund 50.000 Euro für eine Grüne Welle ausgegangen werden muss? Antwort zu 11: Im Radverkehrsgesetz sind verschiedene verkehrstechnische Anforderungen an die Knotenpunkte mit Lichtsignalanlage entlang der grünen Welle für den Radverkehr gestellt. Dazu zählen die ÖPNV (Öffentlicher Personennahverkehr)-Beeinflussung sowie die Verringerung der Fußgängerräumgeschwindigkeit auf 0,8 m/s. Für die Umprogrammierung und bauliche Anpassung mit den zuvor genannten verkehrstechnischen Anforderungen entstehen Kosten von ca. Kosten 40.000 € je Lichtsignalanlage (vgl. Drs. 17/18276). Bei den Berechnungen in der amtlichen Kostenschätzung wurde berücksichtigt, dass viele der lichtsignalisierten Straßenzüge in Berlin i. d. R. aus mehr als 3 lichtsignalisierten Knotenpunkten bestehen. Es wurde hierfür ein realistischer durchschnittlicher Wert von 5 Knotenpunkten pro Straßenzug mit grüner Welle für den Radverkehr (inklusive der zuvor genannten weiteren verkehrstechnischen Anforderungen) angenommen. Frage 12: Wie bewertet der Senat die erhebliche Abweichung seiner Kostenschätzung von derjenigen der Initiative Volksentscheid Fahrrad, auch vor dem Hintergrund der Äußerung des ADAC-Bereichsleiters Becker vor dem rbb, der letztere für „sehr realistisch“ hält? Antwort zu 12: Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt hat unter den im Radverkehrsgesetz zeitlichen und qualitativen Anforderungen und den rechtlichen und straßenräumlichen Randbedingungen eine plausible Kostenschätzung vorgelegt, die im Gegensatz zu den Berechnungen der Initiative des Radverkehrsgesetzes mit allen Berechnungsgrundlagen offengelegt wurde. Eine Einschätzung des Senats zu den Abweichungen kann aufgrund der fehlenden Informationen zu den Berechnungsgrundlagen der Initiative des Radverkehrsgesetzes nicht erfolgen. Berlin, den 06. Juni 2016 In Vertretung C h r i s t i a n G a e b l e r ................................ Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 09. Juni 2016)