Drucksache 17 / 18 642 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Alexander Spies (PIRATEN) vom 31. Mai 2016 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 01. Juni 2016) und Antwort Versorgungssituation von Menschen mit seelischer Behinderung Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: 1. Wie viele Neuaufnahmen in Einrichtungen für Menschen mit seelischer Behinderung (hier: BEWSB, TWGSB und TBTSB) gab es im Rahmen der §§ 53, 54 SGB XII im Land Berlin zwischen 2011 und 2015 (bitte aufschlüsseln nach Jahren und Bezirken)? Wie viele dieser Neuaufnahmen sind über Zuweisung durch das jeweilige Steuerungsgremium Psychiatrie erfolgt? Zu 1.: In Angebote der Eingliederungshilfe für Menschen mit seelischer Behinderung im Rahmen des ambulant betreuten Wohnens (BEW, TWG, Verbünde von betreutem Wohnen) sowie Tagesstätten wurden in den Jahren 2011 bis 2014 jährlich zwischen ca. 2.100 und 2.300 Klientinnen und Klienten neu aufgenommen. Bezirk Jahr 2011 Jahr 2012 Jahr 2013 Jahr 2014 Charlottenburg-Wilmersdorf 141 175 156 160 Friedrichshain-Kreuzberg 152 164 181 179 Lichtenberg 201 249 206 205 Marzahn-Hellersdorf 145 192 157 152 Mitte 218 285 281 283 Neukölln 182 185 190 176 Pankow 264 279 278 249 Reinickendorf 107 116 120 129 Spandau 91 114 129 123 Steglitz-Zehlendorf 107 121 113 97 Treptow-Köpenick 113 146 134 96 Tempelhof-Schöneberg 301 275 213 214 Neuaufnahmen gesamt 2022 2301 2158 2063 Valide Daten zu den Neuaufnahmen ohne Beteiligung der bezirklichen Steuerungsgremien Psychiatrie liegen erst ab 2014 vor. Hier betrug der Anteil unter 1 %, entsprechend wurden in 99 % aller Neuaufnahmen die bezirklichen Steuerungsgremien beteiligt. Eine Datenauswertung für 2015 liegt noch nicht vor. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 18 642 2 2. Inwieweit findet das Wunsch- und Wahlrecht von Menschen mit seelischer Behinderung bzgl. des Wohnortes /Sozialraumes, des Leistungserbringers und der Betreuungsform im Rahmen der Zuweisung über das Steuerungsgremiums Psychiatrie Berücksichtigung? Zu 2.: Die Rahmengeschäftsordnung für die Steuerungsgremien Psychiatrie in den Berliner Bezirken (RGO- SGP) vom 20. Februar 2012 macht in der Ziffer 1 Allgemeines , Absatz 2, Nr. 1 und 5. Aussagen zum Wunsch und Wahlrecht von Menschen mit einer seelischen Behinderung . 1 - Allgemeines (1) ... (2) Mit dieser Rahmengeschäftsordnung sollen die Arbeit dieser Gremien einen verbindlichen, einheitlichen Rahmen erhalten, die Transparenz der Arbeitsweise gefördert , ein Mindeststandard gesichert und die überbezirkliche Zusammenarbeit erleichtert werden. Die Arbeit der Gremien basiert auf folgenden Grundsätzen für die psychiatrische Versorgung: 1. Der Bezirk trägt als Pflichtversorgungsregion Verantwortung für die Ausgestaltung des regionalen psychiatrischen Hilfesystems. Dies bedeutet, dass die Bürgerinnen und Bürger eines Bezirks in diesem auch alle psychiatrischen Unterstützungsleistungen erhalten sollen, ohne das Wunsch- und Wahlrecht der Klientin oder des Klienten einzuschränken. Regionale Pflichtversorgung setzt eine verbindliche, transparente Kooperation und Abstimmung zwischen allen Beteiligten im Bezirk voraus. 2. Die Versorgung der am schwersten seelisch behinderten Menschen steht im Vordergrund und ist Ausgangspunkt regionaler psychiatrischer Versorgungsverpflichtung . 3. Die Hilfeleistungen orientieren sich am jeweiligen konkreten individuellen Hilfebedarf der seelisch behinderten Menschen. 4. Der Vorrang ambulanter vor stationären Hilfen berücksichtigt die Aufrechterhaltung natürlicher Lebensbezüge und die Erhaltung und Erweiterung der persönlichen Stärken und der Selbstbestimmung. Zudem sind bei der Vergabe von Hilfen immer die Hilfeformen vorzuziehen, die am ehesten dem Normalitätsprinzip entsprechen. Insofern sind psychiatrische Hilfen nachrangig. 5. Die Hilfegewährung erfolgt unter Mitwirkung und Beteiligung der seelisch behinderten Menschen und berücksichtigt deren Wunsch und Wahlrecht zwischen unterschiedlichen Angeboten oder Einrichtungen. (3) ... 3. Unter welchen Bedingungen können Träger die Aufnahme von Bewerber_innen durch Zuweisung über das Steuerungsgremium Psychiatrie verweigern? Zu 3.: Das Steuerungsgremium Psychiatrie nimmt keine Zuweisungen vor. Es erarbeitet fachliche Empfehlungen für eine sachgerechte Betreuung psychisch kranker Menschen. Inwiefern diese fachlichen Empfehlungen umgesetzt werden, ist von vielen Faktoren abhängig. Hierzu gehört zuallererst das Maß der verabredeten Verbindlichkeit und somit die entsprechende Bindungswirkung der Empfehlungen - aber schlussendlich auch die Entscheidung des jeweiligen Kostenträgers. Eine „Verweigerung “ im Sinne der Frage gibt es in aller Regel nicht, aber es gibt Gründe für eine Ablehnung der Aufnahme . Diese liegen beispielsweise darin, dass der Träger keine freien Kapazitäten hat, dass das Störungsbild der Klientin, des Klienten derart ist, dass es mit Blick auf die bereits in Betreuung befindlichen Klientinnen und Klienten therapeutisch nicht vertretbar und auch nicht zu gewährleisten ist. Letztlich kann man nicht die Augen davor verschließen, dass sich ein konstruktives Betreuungsverhältnis kaum erzwingen lässt, dazu ist dieses viel zu störanfällig und störbar. 4. Das Steuerungsgremium Psychiatrie Charlottenburg -Wilmersdorf informiert: „Nicht zuständig ist das SGP für Menschen mit geistiger, neurologischer oder körperlicher Behinderung.“ a) Gilt diese Regelung für alle Steuerungsgremien Psychiatrie im Land Berlin? b) Wie erfolgt die Zuweisung von „Menschen mit geistiger, neurologischer oder körperlicher Behinderung“ und gleichzeitiger seelischer Behinderung in psychiatrische Unterstützungsangebote in den Bereichen Wohnen und Tagesstruktur? Zu 4 a): In Berlin erfolgt die Vergabe von Leistungen der Eingliederungshilfe gemäß den §§ 53 und 54 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) für Menschen mit seelischer Behinderung unter Einbeziehung der Steuerungsgremien Psychiatrie in den zwölf Berliner Bezirken. Steht eine andere Behinderung als eine seelische Behinderung im Vordergrund ist in aller Regel das Steuerungsgremium Psychiatrie nicht das geeignete fachliche Instrument zur Empfehlung eines Betreuungsangebotes . Zu 4 b): Im Land Berlin ist das Fallmanagement unmittelbar Ansprechpartner für die Feststellung von Hilfebedarfen für Menschen mit geistiger/körperlicher oder mehrfacher Behinderung. In vielen Fällen werden begleitende seelische Erkrankungen oder Behinderungen, die sich auch in Verhaltensauffälligkeiten äußern können, diagnostiziert. Die Aufgabe der jeweiligen Fallmanagerin bzw. des Fallmanagers besteht insbesondere darin, den im Vordergrund stehenden Hilfebedarf zu erkennen und daraus geeignete Hilfen zu realisieren. Insofern werden bei diesem Personenkreis die Gremien der psychiatrischen Versorgungstrukturen nicht eingebunden. 5. Was passiert, wenn der im Rahmen des BEWSB betreute Mensch mit seelischer Behinderung seine Wohnung verliert und keine neue Wohnung findet? Endet die Leistungserbringung im Rahmen des BEWSB mit Verlust der Wohnung bzw. ist die Leistungserbringung an das Vorhandensein einer Wohnung geknüpft? Zu 5.: Die Leistungserbringung im Rahmen des betreuten Wohnens für seelisch behinderte Menschen ist nicht an eine eigene Wohnung oder eine Trägerwohnung gebunden. Eine Betreuungsleistung kann auch in Einrichtungen der Wohnungslosen-hilfe erfolgen, beispielsweise weil nach einer Krankenhausbehandlung keine Wohnvermittlung möglich war. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 18 642 3 6. Erfordert das Auslaufen bzw. die Aufkündigung der Kostenübernahme für einen Platz in einem betreuten Wohnangebot (BEWSB/TWGSB) den unmittelbaren Auszug des jeweiligen Menschen mit seelischer Behinderung aus einer Trägerwohnung/-wohngemeinschaft? Zu 6.: In der Regel werden durch die Träger bei planbaren Beendigungen (wenn ein Auslaufen der Kostenübernahme rechtzeitig vorher angezeigt wird) mit der Klientin oder dem Klienten Alternativen und Perspektiven erarbeitet. Das heißt, es wird gemeinsam mit der Klientin oder dem Klienten und möglichen weiteren Beteiligten langfristig der Auszug in eine eigene Wohnung oder eine andere Wohnformen vorbereitet. Ein Verbleiben in einer Therapeutischen Wohngemeinschaft ist häufig nicht zu realisieren, da dies den Betreuungsrahmen sprengen würde . Sehr selten ist ein Verbleiben in einer Trägerwohnung möglich. Sollte einer Klientin/einem Klienten die Kostenübernahme aufgekündigt werden, da keinerlei Mitwirkung seinerseits erfolgt, sie oder er beispielsweise eine weitere Versorgung nicht mehr wünscht, Gewalt ausübt bzw. auch nach mehreren Abmahnungen wiederholt bewusst die Hausordnung zum Beispiel in einer Therapeutischen Wohngemeinschaft verletzt, ist ein Auszug die Folge. Ein unmittelbarer Auszug - wie dies in der Frage formuliert wurde - ist äußerst selten. Anzumerken ist aber, dass bezahlbarer Wohnraum für den Personenkreis häufig schwer zu erlangen ist. 7. Welche Möglichkeiten der Beratung und Unterstützung haben Menschen mit seelischer Behinderung, die als Folge des Auslaufens bzw. der Aufkündigung der Kostenübernahme Trägerwohnungen/-wohngemeinschaften verlassen müssen und vor dem Hintergrund der angespannten Wohnungsmarktsituation keine eigene Wohnung finden können? 8. Wie viele Fälle sind dem Senat bekannt, in denen Menschen mit einer seelischen Behinderung nach Auslaufen bzw. Aufkündigung der Kostenübernahme und dem damit verbundenen Auszug aus einer Trägerwohnung/- wohngemeinschaft im unmittelbaren Anschluss keine eigene Wohnung bereitgestellt werden konnte? Zu 7. und 8.: Dem Senat liegen keine eigenen Erkenntnisse darüber vor, ob nach Auszug aus einer Therapeutischen Wohngemeinschaft oder einer Trägerwohnung für seelische behinderte Menschen im Anschluss eine eigene Wohnung bereitgestellt werden konnte. Von den bezirklichen Psychiatriekoordinatorinnen und Psychiatriekoordinatoren wird berichtet, dass die Wohnungssuche auch für seelisch behinderte Menschen in den letzten Jahren erheblich schwieriger wurde. Zahlenmäßige Aussagen können für das Land Berlin nicht getroffen werden, da sie nicht regelhaft erhoben werden. Im Bezirk Mitte erfolgte auf Anregung der Psychosozialen Arbeitsgemeinschaft eine Abfrage für das Jahr 2015 zu Entlassungen. Demnach wurden in 2015 im Bezirk Mitte 8 Klientinnen und Klienten in die Wohnungslosigkeit entlassen. Zumeist werden Entlassungen von Klientinnen und Klienten in die Wohnungslosigkeit von den bezirklichen Psychiatriekoordinatorinnen und Psychiatriekoordinatoren als Ausnahmen beschrieben. Üblicherweise sind bei einer Entlassung die rechtliche Betreuung, das Fallmanagement der Eingliederungshilfe, der psychiatrische Fachdienst, zum Teil das Steuerungsgremium Psychiatrie aber auch die Soziale Wohnhilfe beteiligt. Berlin, den 13. Juni 2016 In Vertretung Emine D e m i r b ü k e n - W e g n e r _____________________________ Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 16. Juni 2016)