Drucksache 17 / 18 751 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Tom Schreiber (SPD) vom 01. Juni 2016 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 17. Juni 2016) und Antwort Berliner Aussteigerprogramm für Personen aus der islamistischen Szene? Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: 1. Wie viele gewaltbereite Islamisten sind derzeit nach Erkenntnissen des Senats in Berlin wohnhaft? Zu 1.: Der Senat geht mit Stand vom 1. Quartal 2016 von 710 dem Salafismus zuzurechnenden Personen aus, von denen 380 als gewaltorientiert eingestuft sind. 2. Wie wird der Bedarf an Aussteigerprogrammen für die islamistische Szene in Berlin eingeschätzt? Zu 2.: In Anbetracht des steigenden salafistischen Personenpotenzials sind Deradikalisierungsmaßnahmen von größter Wichtigkeit. Die bestehenden Programme sollten ausgebaut werden, um das Angebot an Betreuungsmöglichkeiten zu erweitern. 3. Ist dem Senat das niedersächsische Aussteigerprogramm „Deradikalisierung und Ausstiegsbegleitung im Justizvollzug des Landes Niedersachsen“ bekannt? 4. Wenn ja, in welcher Form hat sich der Senat damit auseinandergesetzt? Zu 3. und 4.: Im Rahmen der Frühjahrskonferenz im Juni 2015 haben die Justizministerinnen und Justizminister der Länder die derzeitige Bedrohungslage durch den islamistischen Extremismus und die sich hieraus ergebenen Herausforderungen auch für den Justizvollzug erörtert . Der Strafvollzugsausschuss der Länder wurde daraufhin gebeten, sich weiterhin mit dem Thema „Umgang mit kriminellen Formen der Radikalisierung und des politischen und religiösen Extremismus“ zu befassen, insbesondere die Notwendigkeit neuer Strategien zu prüfen und wirksame Handlungskonzepte zum Umgang mit Islamisten und Salafisten zu ermitteln. Hierfür wurde eine Länderarbeitsgruppe unter der Beteiligung von neun Bundesländern eingerichtet, die maßgeblich von der Problematik betroffen sind. Im Rahmen dieser Länderarbeitsgruppe zum Thema „Umgang mit radikal-islamistischen Gefangenen “ wurde unter anderem auch zur Fragestellung Deradikalisierung und Ausstiegsbegleitung Stellung genommen . Neben Niedersachsen war in der Länderarbeitsgruppe auch Berlin vertreten. Die Arbeitsgruppe hat in ihrem Abschlussbericht vom 18. April 2016 für den Justizvollzug unter anderem folgende Empfehlung abgegeben : „Geeignete Gefangene sind in ein vollzugsinternes oder in ein externes Deradikalisierungs- bzw. Aussteigerprogramm zu vermitteln“. Entsprechende Verfahren werden aktuell in den Bundesländern etabliert. Der fachliche länderübergreifende Austausch wird kontinuierlich fortgesetzt . Nach dem, was zu Inhalten und zum Umsetzungsstand des Niedersächsischen Programmes bekannt ist, lässt sich feststellen, dass die Ansätze denen der Berliner Vorgehensweise im Justizvollzug entsprechen. 5. Gibt es Pläne für Aussteigerprogramme nach niedersächsischem Vorbild in Berlin und wenn nicht, warum nicht? Zu 5.: Berlin hat bereits Anfang 2015 Abstimmungen mit externen Trägern bezüglich der Ausweitung bestehender , zielgruppenspezifischer Maßnahmen und der Implementierung ergänzender Maßnahmen im Berliner Justizvollzug vorgenommen. Im Ergebnis wurde der Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz am 12. März 2015 ein Konzept des Trägers Violence Prevention Network e. V. (VPN) über „Ansätze der Deradikalisierung im Berliner Strafvollzug“ vorgelegt. Dieses bildet auch in Niedersachsen die Grundlage des dortigen Programmes . Der Schwerpunkt des Konzeptes liegt, neben Maßnahmen der Prävention, der Intevention und der Deradikalisierung , auch in der Ausstiegsbegleitung. Die Umsetzung der spezifischen Maßnahmen erfolgt auf der Grundlage eines Dienstleistungsvertrages mit dem Träger VPN. Insbesondere die Einzeltrainingsmaßnahmen für radikalisierte Gefangene (auch Ausreisewillige und so genannte Rückkehrer aus Krisengebieten) beinhalten die Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 18 751 2 gemeinsame Entwicklung einer langfristigen Ausstiegsstrategie . Ausstiegswillige Gefangene partizipieren, neben den beschriebenen Programmen, in den Berliner Justizvollzugsanstalten an allen Beratungs- und Behandlungsangeboten und haben durch die feste Zuordnung zu einer Gruppenleiterin oder einem Gruppenleiter eine feste Ansprechpartnerin bzw. einen festen Ansprechpartner aus der Berufsgruppe der Sozialarbeit. Darüber hinaus stimmen sich die Sicherheitsabteilungen der Justizvollzugsanstalten mit den Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartnern der Sicherheitsbehörden über individuelle Entwicklungen von Einzelpersonen ab. Dieser Austausch ist - neben anderen grundsätzlichen Regelungen - im Konzept zum „Umgang mit radikalem Islamismus im Berliner Justizvollzug“ geregelt. 6. Welche Anlaufstellen bietet das Land Berlin für ausstiegsbereite Islamisten und deren Angehörige? Zu 6.: Der Senat bietet ausstiegsbereiten Salafisten und Islamisten insbesondere folgende Angebote: - Beratungsstelle KOMPASS – Toleranz statt Extremismus - On-/Offline Intervention im Internet (Website: traenen -der-dawa.de) - On-/Offline Intervention im Internet, über Soziale Medien (Facebook) - spezifische Maßnahmen der Justizvollzugs- und - arrestanstalten (zum Beispiel Anti-Gewalt und Kompetenztrainings ) 7. Wie gestaltet sich die Hilfe für in Berlin inhaftierte ausstiegswillige Straftäterinnen und Straftäter mit islamistischem Hintergrund? Zu 7.: Es wird auf die Beantwortung der Frage 5 verwiesen . 8. Inwiefern beschäftigt sich der Landespräventionsrat Berlin mit dem Thema Islamismus und Salafismus hinsichtlich der ausstiegsbereiten Personen? Zu 8.: Die Landeskommission Berlin gegen Gewalt fördert im Rahmen des Landesprogramms Radikalisierungsprävention die Deradikalisierung radikalisierungsgefährdeter und bereits radikalisierter Jugendlicher und junger Erwachsener und stellt für die Beratungsstelle KOMPASS im Jahr 2016 Mittel in Höhe von 150.000 Euro zur Verfügung. Die dafür von VPN betriebene Beratungsstelle KOMPASS wurde zum 1. April 2015 eingerichtet . Aufgabe der mobilen Beratungs- und Interventionsteams ist die Ansprache von gefährdeten jungen Menschen sowie die Initiierung von Ausstiegsprozessen. Wichtig ist es, die Personen zielgruppengerecht zu erreichen . Nur so kann eine Arbeitsbeziehung aufgebaut werden , die die Grundlage für eine erfolgreiche Deradikalisierungsarbeit ist. Neben den Betroffenen selbst richtet sich das Beratungsangebot auch an Angehörige, Bekannte und Unterstützerinnen und Unterstützer von ausstiegsund distanzierungswilligen Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Angesichts der Tatsache, dass die Ansprache sowie eine spätere Rekrutierung radikalisierungsgefährdeter Personen insbesondere durch den sogenannten Islamischen Staat häufig über das Internet beziehungsweise über die sozialen Netzwerke erfolgt, werden auch entsprechende Projekte im Rahmen des Landesprogramms Radikalisierungsprävention gefördert. - Die Beteiligung in den Sozialen Netzwerken mit einem starken Fokus zur Kontaktaufnahme („call of action “) zu den radikalisierten beziehungsweise ausstiegsbereiten Personen und im Idealfall die Unterbreitung eines aufsuchenden Gesprächsangebots zur Einleitung und Vermittlung der Deradikalisierungsarbeit. Hierbei geht es um niedrigschwellige Prävention sowie die Umkehr von (gewalttätigen) Radikalisierungsprozessen durch das frühzeitige Erreichen von radikalisierten, radikalisierungsgefährdeten und ausstiegsbereiten Personen via Facebook (On-/Offline Intervention im Internet über Soziale Medien ( Facebook)). - Darüber hinaus erfolgt zum 1. Juli 2016 mit der Website „Die Tränen der Dawa - www.traenen-derdawa .de/“ der Ausbau eines Medienangebots im Internet gegen islamistische Propaganda, welches weit über die Verbreitung von Counter-Narratives hinausgeht. Im Fokus stehen hier zum einen die Beratung sowie das Aufzeigen von Hilfsangeboten für Jugendliche und junge Erwachsene sowie deren soziales Umfeld; zum anderen die Einleitung von langfristigen Prozessen der Deradikalisierung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen und ausstiegsbereiten Personen. Dabei bestehen Kontaktmöglichkeiten zu den entsprechenden Ansprechpartnern unter anderem via der Webseite, Facebook, Twitter, Instagram. Ziel ist auch hier, die Unterbreitung eines aufsuchenden Gesprächsangebots. 9. Gibt es Aus- und Weiterbildungsprogramme für Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, Lehrerinnen und Lehrer oder auch Institutionen und Behörden, die sich mit gewaltbereiten Islamisten beschäftigen? Zu 9.: Der Senat setzt sich für umfangreiche Aus- und Fortbildungen ein, zum Beispiel: Die Polizei Berlin führt regelmäßig und anlassbezogen polizeiinterne Schulungen und Veranstaltungen zum Phänomenbereich Islamismus durch. Der Berliner Verfassungsschutz bringt seine Expertise sowohl in Lehrerfortbildungen und –informationsveranstaltungen als auch in der Justizverwaltung ein. Das Angebot besteht für alle Behörden des Landes Berlin. Das Sozialpädagogische Fortbildungsinstitut Berlin- Brandenburg bietet für die Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe Fortbildungsveranstaltungen zum Thema „gewaltbereite Islamisten“ an. Das Themenspektrum umfasst kulturelle Wertekonflikte, interreligiöse Konflik- Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 18 751 3 te, Islam und Islamfeindlichkeit. Weiterhin werden für Einrichtungen auch Inhouse-Schulungen zum Thema Salafismus angeboten. Die Senatsverwaltung für Inneres und Sport hat der für Jugend zuständigen Senatsverwaltung Informationsmaterial zur Verfügung gestellt in Form einer Handreichung zu den Aktivitäten islamistischer Akteure im Zusammenhang mit der Flüchtlingssituation und ein Fortbildungsangebot zur Islamistische Radikalisierung: Erkennen , Unterscheiden, Begegnen, das auf Anfrage durchgeführt werden kann. Diese Informationen wurden auch an die mit der Betreuung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen beauftragten sozialpädagogischen Träger weitergeleitet. Im Rahmen der Fortbildungsreihe „ Aktiv gegen Salafismus und Antisemitismus“, die von 2015 bis 2017 von der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft , dem Landesinstitut für Schule und Medien Berlin- Brandenburg und dem American Jewish Committee angeboten wird, setzen sich Lehrkräfte aus circa 15 Schulen präventiv mit dem Thema islamistische Radikalisierung auseinander. Die Fortbildung findet in pädagogischen Werkstätten unter Einbeziehung von Experten statt. Themen sind unter anderem: Strategien zum Umgang mit islamistischer Radikalisierung im Unterricht, ideologische Grundlagen des Salafismus, Geschlechter- und Familienbilder im Salafismus, Auseinandersetzung mit Medien und Propaganda im Bereich islamistischer Radikalisierung . Darüber hinaus bietet das von der Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen geförderte Projekt „Protest, Provokation und Propaganda“ Fortbildungen, Begleitungen und Beratungen von pädagogischen Fachkräften im Bereich der Islamismusprävention an. Die Projektlaufzeit ist zunächst bis Ende 2019 geplant. Berlin, den 29. Juni 2016 In Vertretung Bernd Krömer Senatsverwaltung für Inneres und Sport (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 05. Juli 2016)