Drucksache 17 / 18 774 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Alexander Spies (PIRATEN) vom 21. Juni 2016 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 22. Juni 2016) und Antwort Sozialleistungen für EU-Bürger*innen in Berlin Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: 1. Welche Sozialleistungen erhalten EU-Bürger*innen in Berlin? Zu 1.: Die Frage, welche Sozialleistungen EU-Bürgerinnen und EU-Bürger beziehen können, lässt sich nur sehr differenziert beantworten. Ob und welche Sozialleistungen beansprucht werden können, hängt einerseits davon ab, auf welches Freizügigkeitsrecht nach dem Freizügigkeitsgesetz /EU (FreizügG/EU) sich die EU-Bürgerin bzw. der EU-Bürger berufen kann, andererseits, ob die EU-Bürgerin und der EU-Bürger sowie deren Familienangehörige erwerbsfähig im Sinne des § 8 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) sind. EU-Bürgerinnen und EU-Bürger, die über ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a FreizügG/EU verfügen und deren Familienangehörige sind Deutschen sozialhilferechtlich gleichgestellt. Sie sind von den Einschränkungen des § 23 Abs. 1 Satz 1 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) ausgenommen. Das bedeutet, dass diese EU-Bürgerinnen und EU-Bürger und deren Familienangehörige Leistungen nach dem SGB II bzw. SGB XII uneingeschränkt im Rahmen ihrer Bedürftigkeit beanspruchen können. Dies umfasst auch die Gewährung von Leistungen der Grundsicherung im Alter und dauerhafter Erwerbsminderung nach §§ 41 ff. SGB XII. EU-Bürgerinnen und EU-Bürger, die sich als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, zum Zwecke der Berufsausbildung oder zur Ausübung einer selbständigen Tätigkeit im Bundesgebiet aufhalten, sind nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 und 2 FreizügG/EU freizügigkeits-berechtigt. Soweit sie erwerbsfähig sind, können sie im Falle der Bedürftigkeit Leistungen nach dem SGB II beanspruchen. Ein Anspruch auf Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII besteht nach § 21 Satz 1 SGB XII nicht. EU-Bürgerinnen und EU-Bürger, die weder als Arbeitnehmerin /Arbeitnehmer, als Selbständige/Selbständiger sowie als Auszubildende/Auszubildender (§ 7 Abs. 2 Nr. 1 und 2 FreizügG/EU), noch nach § 2 Abs. 3 Freizüg G/EU freizügigkeitsberechtigt sind, sind für die ersten drei Monate ihres Aufenthaltes von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat am 25. Februar 2016 in der Rechtssache C- 299/14 diesen Leistungsausschluss während der ersten drei Monate nach Einreise als europarechtskonform bewertet . Das Freizügigkeitsrecht zur Arbeitssuche besteht für die EU-Bürgerinnen und EU-Bürger gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU für die Dauer von sechs Monaten. Der EuGH hat in seiner Entscheidung vom 15. September 2015 (Rechtsache Alimanovic, C-67/14) den Ausschluss von EU-Bürgerinnen und EU-Bürgern, die sich nur zum Zwecke der Arbeitssuche im Bundesgebiet aufhalten, von Leistungen nach dem SGB II für europarechtskonform erklärt. Das Bundessozialgericht (BSG) hat in der nachfolgenden Entscheidung vom 03. Dezember 2015, B 4 AS 44/15 R den Ausschluss von Leistungen nach dem SGB II für diesen Personenkreis bestätigt. In dem Zeitraum, in dem EU-Bürgerinnen und EU- Bürger von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sind, da sie sich nur zum Zweck der Arbeitssuche im Bundesgebiet aufhalten, ist dieser Personenkreis nach § 21 Satz 1 SGB XII von den Grundsicherungsleistungen nach dem SGB XII ausgeschlossen. Nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII ist unter Berücksichtigung der Regelung des § 23 Abs. 3 SGB XII zu prüfen, inwieweit diesem Personenkreis Ermessensleistungen zu erbringen sind. Ist der Antrag auf Leistungen nach dem SGB II der EU- Bürgerin/des EU-Bürgers abgelehnt worden, da sie/er sich nur zum Zwecke der Arbeitssuche in Deutschland aufhält, sind Krankenhilfeansprüche nach § 23 SGB XII zu prüfen . Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 18 774 2 In den Fällen, in denen sich die EU-Bürgerinnen und EU-Bürger und deren Familienangehörige nicht (mehr) auf ein Freizügigkeitsrecht nach § 2 Abs. 2 und 3 Freizüg G/EU berufen können, ist die Erbringung von Sozialhilfeleistungen in Ausübung des Ermessens nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII zu prüfen. Die EU-Bürgerin/der EU-Bürger hat nach Art. 1 und 20 Grundgesetz (GG) das Recht auf Sicherung des Existenzminimums. Unter diesem Aspekt hat die Prüfung der Erbringung der Leistungen nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII nach der Rechtsprechung so lange zu erfolgen, bis die EU-Bürgerin oder der EU-Bürger vollziehbar ausreisepflichtig ist. 2. Welche Sozialleistungen erhalten EU- Bürger*innen in Berlin, denen es bisher nicht gelungen ist, eine Wohnung anzumieten oder einen Wohnsitz zu begründen und die deswegen wohnungs- oder obdachlos sind? 3. Welche Sozialleistungen erhalten EU- Bürger*innen in Berlin, die nach einer Wohnungsanmietung oder Wohnsitzbegründung die Unterkunft verloren haben und deswegen wohnungs- oder obdachlos sind? Zu 2 und 3.: Nach der gesetzlichen Aufgabenverteilung weisen die zuständigen Stellen in den Bezirken bedürftigen wohnungslosen Personen und deren Haushaltsange -hörigen Unterkunftsplätze nach. In den Fällen, in denen die EU-Bürgerinnen und EU- Bürger Leistungen nach dem SGB II beziehen, stellt die zuständige Stelle im Bezirksamt der wohnungslosen Person eine Bescheinigung über den nachgewiesenen Platz inkl. gültigen Tagessatzes für die gemeinsame Einrichtung (Jobcenter) aus. Die Bescheinigung muss von der wohnungslosen Person noch am Ausstellungstag bei der gemeinsamen Einrichtung zwecks Kostenübernahme vorgelegt werden, soweit das Bezirksamt auf der Bescheinigung nichts Gegenteiliges verfügt hat. Der Fachdienst im Sozialamt hat nach der Unterbringung darauf hinzuwirken, dass die wohnungslose Person alle Möglichkeiten zur Beseitigung der Wohnungslosigkeit ausschöpft. Kosten für die Unterbringung werden als Bedarf für Unterkunft und Heizung nach § 22 SGB II bzw. § 35 SGB XII anerkannt, soweit die EU-Bürgerin/der EU- Bürger zum leistungsberechtigten Personenkreis nach dem SGB II bzw. SGB XII gehört. In den Fällen, in denen die EU-Bürgerin/der EU- Bürger nicht zum leistungsberechtigten Personenkreis nach dem SGB II und SGB XII zählt, ist eine ordnungsbehördliche Unterbringung nach § 17 Abs. 1 ASOG zu prüfen und ggf. anzuordnen. Das Land Berlin, vertreten durch die Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales, hat mit der Regionaldirektion Berlin-Brandenburg der Bundesagentur für Arbeit am 27. Oktober 2015 eine Vereinbarung zur Regelung über die örtliche Zuständigkeit für wohnungslose Leistungsberechtigte nach SGB II sowie der Beschreibung des Verfahrens bei der Unterbringung akut wohnungsloser Personen getroffen. Diese ist im Internet unter http://www.berlin.de/sen/soziales/berlinersozialrecht /land/sonstige/vereinbarung _wohnungslose.html abrufbar. 4. Welche Sozialleistungen erhalten EU- Bürger*innen in Berlin, die sich in einer Notlage befinden , z.B. bei einer Krankheit oder Schwangerschaft? Zu 4.: Für die EU-Bürgerinnen und EU-Bürger, die sich zum Zwecke der Arbeitssuche in Deutschland aufhalten und nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von den Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgeschlossen sind, können im Falle der Bedürftigkeit Krankenhilfeansprüche nach § 23 SGB XII geltend machen . Für in Berlin lebende schwangere EU-Bürgerinnen in prekären Lebenslagen, ohne Krankenversicherung und ohne Zugang zu Leistungen nach SGB II oder SGB XII, hat der Senat einen „Notfallfonds zur Finanzierung von Entbindungen bei nicht krankenversicherten Unionsbürgerinnen in prekären Verhältnissen“ im Umfang von 300.000,--€ jährlich eingerichtet. Dieser Notfallfonds wird seit Mai 2015 in Anspruch genommen. Die Arbeitshilfe zum Zugang zur medizinischen Versorgung von EU-Bürgerinnen und EU-Bürger vom 08. Mai 2015 ist eingestellt unter: http://www.berlin.de/sen/soziales/berlinersozialrecht /land/sonstige/arbeits-hilfe_krankenhilfe.html. 5. Wie viele EU-Bürger*innen in Berlin erhielten in den letzten zwei Jahren (von Januar 2014 bis Dezember 2015) Leistungen nach SGB II? (Bitte nach Jahren und Bezirken aufschlüsseln). Zu 5.: Zur Ermittlung der Anzahl der EU-Bürgerinnen und EU-Bürger, die Leistungen nach dem SGB II beziehen , wurde die Regionaldirektion Berlin-Brandenburg der Bundesagentur für Arbeit angefragt. In der folgenden Tabelle, basierend auf der Statistik der Bundesagentur für Arbeit, wird die Anzahl leistungsberechtigte EU- Bürgerinnen und EU-Bürger aufgeschlüsselt nach den Berliner Jobcentern dargestellt. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 18 774 3 Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) Regelleistungsberechtigte EU-Ausländer Berlin Zeitreihe, Datenstand: Juni 2016 Jan Feb Mrz Apr Mai Jun Jul Aug Sep Okt Nov Dez 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 Berlin 35.826 36.625 37.104 37.508 37.933 38.358 38.670 38.964 39.449 39.831 40.143 40.656 JC Neukölln 6.094 6.187 6.214 6.279 6.309 6.364 6.351 6.399 6.442 6.414 6.482 6.540 JC Treptow-Köpenick 981 1.022 1.059 1.054 1.043 1.061 1.094 1.119 1.131 1.190 1.227 1.245 JC Steglitz-Zehlendorf 1.488 1.519 1.515 1.520 1.539 1.550 1.574 1.563 1.582 1.572 1.580 1.588 JC Tempelhof-Schöneberg 3.353 3.371 3.412 3.455 3.460 3.547 3.540 3.530 3.534 3.534 3.536 3.565 JC Charlottenburg-Wilmersdorf 2.961 3.035 3.043 3.045 3.061 3.086 3.067 3.062 3.072 3.069 3.074 3.148 JC Pankow 1.537 1.556 1.583 1.611 1.633 1.654 1.674 1.678 1.720 1.739 1.787 1.804 JC Reinickendorf 3.292 3.396 3.465 3.482 3.587 3.615 3.616 3.615 3.684 3.765 3.761 3.817 JC Spandau 3.008 3.138 3.200 3.256 3.272 3.327 3.405 3.493 3.571 3.607 3.680 3.751 JC Friedrichshain-Kreuzberg 3.082 3.140 3.156 3.190 3.226 3.237 3.249 3.253 3.273 3.330 3.321 3.321 JC Mitte 7.077 7.247 7.367 7.466 7.573 7.648 7.779 7.851 7.934 7.991 8.027 8.125 JC Marzahn-Hellersdorf 1.415 1.437 1.466 1.511 1.580 1.606 1.634 1.690 1.748 1.798 1.841 1.910 JC Lichtenberg 1.538 1.577 1.624 1.639 1.650 1.663 1.687 1.711 1.758 1.822 1.827 1.842 Berlin 41.307 41.890 42.507 42.778 43.077 43.383 43.558 43.727 44.095 44.429 44.728 45.063 JC Neukölln 6.579 6.670 6.781 6.831 6.880 6.976 6.954 6.953 6.992 7.037 7.026 7.078 JC Treptow-Köpenick 1.274 1.313 1.333 1.323 1.362 1.368 1.392 1.422 1.462 1.486 1.492 1.499 JC Steglitz-Zehlendorf 1.605 1.607 1.648 1.653 1.645 1.652 1.659 1.625 1.636 1.638 1.633 1.626 JC Tempelhof-Schöneberg 3.604 3.635 3.704 3.715 3.794 3.792 3.781 3.819 3.816 3.807 3.852 3.875 JC Charlottenburg-Wilmersdorf 3.222 3.277 3.347 3.322 3.321 3.318 3.310 3.335 3.364 3.346 3.373 3.397 JC Pankow 1.830 1.893 1.885 1.889 1.909 1.886 1.894 1.880 1.900 1.939 1.942 1.929 JC Reinickendorf 3.916 3.990 4.068 4.134 4.169 4.174 4.243 4.260 4.288 4.295 4.330 4.406 JC Spandau 3.862 3.927 3.988 4.017 4.082 4.193 4.247 4.265 4.337 4.422 4.455 4.465 JC Friedrichshain-Kreuzberg 3.318 3.342 3.362 3.382 3.396 3.379 3.390 3.362 3.389 3.412 3.461 3.465 JC Mitte 8.234 8.288 8.393 8.469 8.432 8.454 8.474 8.589 8.620 8.716 8.776 8.878 JC Marzahn-Hellersdorf 1.948 2.012 2.047 2.086 2.125 2.162 2.169 2.187 2.261 2.298 2.323 2.334 JC Lichtenberg 1.915 1.936 1.951 1.957 1.962 2.029 2.045 2.030 2.030 2.033 2.065 2.111 Erstellungsdatum: 24.06.2016, Statistik-Service Ost, Auftragsnummer 227420 © Statistik der Bundesagentur für Arbeit Gebiet Daten zu Leistungen nach dem SGB II nach einer Wartezeit von 3 Monaten. 2014 2015 Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 18 774 4 6. Wie viele EU-Bürger*innen in Berlin erhielten in den letzten zwei Jahren (von Januar 2014 bis Dezember 2015) Leistungen nach SGB XII? (Bitte nach Jahren und Bezirken aufschlüsseln). Zu 6.: Das Gesundheits- und Sozialinformationssystem (GSI) der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales weist folgende Werte zur Fragestellung aus: Ausländische EU-Bürgerinnen und EU-Bürger mit Leistungen nach dem SGB XII in Berlin in den Jahren 2014 und 2015 nach Bezirken Bezirk Jahr 2014 2015 Mitte 662 719 Friedrichshain-Kreuzberg 370 379 Pankow 134 164 Charlottenburg-Wilmersdorf 491 547 Spandau 215 247 Steglitz-Zehlendorf 218 237 Tempelhof-Schöneberg 481 553 Neukölln 599 660 Treptow-Köpenick 69 69 Marzahn-Hellersdorf 64 80 Lichtenberg 125 150 Reinickendorf 254 291 insgesamt 3.682 4.096 Datenquelle: SenGesSoz Berlin / Berechnung: SenGesSoz - I A- 7. Wie viele EU-Bürger*innen wurden in den letzten zwei Jahren (von Januar 2014 bis Dezember 2015) in den Berliner Obdachlosenunterkünften nach ASOG untergebracht ? (Bitte nach Jahren, Bezirken und Ursprungsländern aufschlüsseln). Zu 7.: Derzeit erfolgt keine bezirksübergreifende oder bezirkseinheitliche Erfassung der abgefragten Daten. Eine zentrale Datenbank zur Erhebung der ordnungsrechtlichen /kommunalen Unterbringung von wohnungslosen Personen befindet sich im Aufbau. Berlin, den 04. Juli 2016 In Vertretung Dirk G e r s t l e _____________________________ Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 07. Juli 2016)