Drucksache 17 / 18 852 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Wolfram Prieß (PIRATEN) vom 06. Juli 2016 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 12. Juli 2016) und Antwort Befreiung am Leipziger Platz 18 – beugt der Senat Baurecht für „alte Freunde“? Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: Frage 1: Von welcher Festsetzung des Bebauungsplanes am Leipziger Platz wurde für das Bauvorhaben Leipziger Platz 18 konkret befreit, und welche städtebaulichen Gründe gaben den Ausschlag? Antwort zu 1: Befreit wurde von der textlichen Festsetzung Nummer 3.3, die einen 20-pozentigen Wohnanteil vorsieht, und von der textlichen Festsetzung Nummer 3.4, die die ausschließliche Zulässigkeit von Wohnungen im sogenannten „Wohn-Kranz“ regelt, das heißt in den oberen , zurückgesetzten Geschossen. Bedeutung der Wohnung nach den Planungszielen des Bebauungsplans I-15a Die Planungsziele, die mit dem 20-prozentigen Wohnanteil und dem sogenannten „Wohn-Kranz“ verfolgt wurden, haben sich am Leipziger Platz nur sehr mangelhaft verwirklichen lassen. Nach der Begründung zum Bebauungsplan I-15a sollte das Wohnen zur vielfältigen Nutzungsmischung und zur Belebung des Leizpiger Platzes in den Abend- und Nachtstunden beitragen. Das Wohnen sollte sich durch die geschlossene umlaufende Nutzung im sogenannten „Wohn-Kranz“ darstellen und eine besondere sichtbare Präsenz erhalten. Die Wohnungen sollten damit die homogene architektonische Ausformung des „Dachkranzes“ stützen. Dringend erforderlicher Wohnungsbau Für den dringend erforderlichen Wohnungsbau wären diese Wohnungen wenig geeignet, denn diese Wohnungen sind wegen der besonderen Lage, der Wohnungsgröße und auch der Kosten für Lärmschutzmaßnahmen sehr teuer. Die bereits errichteten Wohnungen im sog. „Wohn- Kranz“ vermitteln nicht ihre Wohnfunktion nach außen, weil die meisten Wohnungen bisher nur zeitweise genutzt werden. Die neu zu errichtenden Wohnungen im sogenannten „Wohn-Kranz“ würden auf Grund des Zuschnitts des Grundstücks (zwischen Leipziger Platz und Potsdamer Platz) zu keiner lärmabgewandten Seite ausgerichtet werden können. Nach der Begründung zum Bebauungsplan I- 15a ist der Einsatz von mechanischen Lüftungsanlagen (also keine Lüftung durch Fensteröffnungen) erforderlich. Durch permanent geschlossene Fenster und eine zwingende mechanische Dauerbelüftung ergibt sich im Vergleich zu den sonstigen Wohnungen am Leipziger Platz (mit Aufenthaltsräumen zur lärmabgewandten Seite) eine geringere Wohnqualität. Besondere Lage der Wohnungen Die zum Schutz vor Straßenlärm notwendigen sogenannten „durchgesteckten Wohnungen“ nach der textlichen Festsetzung Nummer 9 sind auf dem Grundstück nur sehr schwer umsetzbar. Nur zum Innenhof der Kanadischen Botschaft ist ein sehr kleiner Bereich für Aufenthaltsräume mit den notwendigen Fenstern von den Verkehrstraßen und dem Leipziger Platz abgewandten Seite möglich. Städtebauliche und rechtliche Situation auf dem Grundstück Leipziger Platz 18/19 Derzeit ist das Grundstück mit einer Werbeanlage mit Fassadensimulation basierend auf einer Gerüstkonstruktion bebaut. Hierfür hat der ehemalige Eigentümer eine unbefristete Genehmigung vom Bezirksamt Mitte erhalten . Versuche seitens des Bezirks und der Senatsverwaltung , die Fassadensimulation zurückbauen zu lassen, scheiterten bisher an der bestandskräftigen Baugenehmigung ohne Befristung. Eine einvernehmliche Beseitigung der Werbeanlage mit dem damaligen Grundstückseigentümer war nicht möglich, weil die Einnahmen durch die Werbeanlage (bereits 2008 ca. 1 Mio. Euro) viel höher waren als die voraussichtlichen Gewinne durch eine Bebauung des Grundstücks und weil der damalige Grundstückseigentü- Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 18 852 2 mer mit weiteren Grundstückspreis-Steigerungen für die Zukunft rechnete. Eine zwangsweise Beseitigung der Werbeanlage scheiterte an der unbefristeten Baugenehmigung des Bezirksamtes Mitte. Auch ein Baugebot nach den Vorgaben des Bebauungsplans I-15a war nicht möglich. Städtebauliche Situation am Leipziger Platz Auf der Seite der öffentlichen Belange steht das Interesse der Stadt Berlin an der baldigen Vollendung der Bebauung am Leipziger Platz. Die Werbeanlage stört das städtebauliche Erscheinungsbild des Leipziger und Potsdamer Platzes. Auch die Anlieger des Leipziger Platzes werden durch die Werbeanlage in ihrer Nutzung beeinträchtigt . Die Werbeanlage wirkt auf der Nordseite des Platzes als städtebauliche Sperre zwischen dem Bereich am Potsdamer Platz und dem Leipziger Platz. Städtebauliche Vollendung des Leipziger Platzes Der Leipziger Platz zusammen mit dem Potsdamer Platz ist eines der wichtigen „Wahrzeichen“ der Stadt Berlin. Die beiden Plätze sind ein Magnet für viele Touristen aus der ganzen Welt und damit eine „Visitenkarte“ für die Stadt. Die jetzige großflächige Werbeanlage mit Fassadensimulation wird dieser wichtigen Funktion nicht gerecht. Das Interesse an der Einhaltung des festgesetzten 20- prozentigen Wohnanteils wurde daher im Vergleich zum öffentlichen Interesse an der zügigen Vollendung des Leipziger Platzes zurückgestellt. Frage 2: Wie bewertet der Senat die Tatsache, dass der Bezirk Mitte zunächst, in Anwendung des rechtsverbindlichen Bebauungsplanes, auf den festgesetzten mindestens 20-prozentigen Wohnanteil bestanden hatte, und hält der Senat den Bescheid des Bezirks Mitte hierzu für rechtskonform ? Wenn nein, warum nicht? Antwort zu 2: Der ursprüngliche Bauvorbescheid des Bezirks Mitte war rechtskonform, denn eine Befreiung muss nicht erteilt werden, sondern sie steht im Ermessen der Genehmigungsbehörde. Der ursprüngliche Bauvorbescheid berücksichtigte aber nicht die gesamtstädtischen Interessen Berlins (vgl. Antwort zu Frage 1). Frage 3: Sieht der Senat das Planungsziel des Bebauungsplanes , einen mindestens 20-prozentigen Wohnanteil auch bei zentral gelegenen Gebäuden am Leipziger Platz zur Vermeidung der Verödung der Innenstadt, als jederzeit disponibel an, wenn ein Investor mit Nicht- Wohnnutzungen eine höhere Rendite zu erzielen wünscht? Antwort zu 3: Nein, der Senat hat deshalb auch in allen Fällen, in denen der Wohnanteil nicht zu einem nachhaltigen Realisierungshindernis wurde, die Wohnnutzung durchgesetzt. Frage 4: Welchen Einfluss auf die Entscheidung des Senats, von den Festsetzungen des Bebauungsplanes zu befreien, hatte der ehemalige Bausenator Peter Strieder (SPD), der inzwischen die Seiten gewechselt hat und den Bauherrn berät? Antwort zu 4: Keine. Frage 4.1.: Ist der Eindruck falsch, dass hier ehemalige Senatsmitglieder wie Herr Strieder im Auftrag von Investoren den „Türöffner“ bei aktuellen Senatsmitgliedern und Parteifreunden wie Herrn Geisel spielen, um Projekte durchzubekommen, bei denen man auf Bezirksebene aus rechtlichen Gründen nicht durchgekommen ist? Antwort zu 4.1.: Ja. Frage 4.2.: Hält der Senat solche Formen des „Senior- Lobbyismus“ für besonders zielführend, um die Gleichbehandlung aller Investoren in Berlin, unabhängig von deren Lobbyarbeit, bei jeglichem gebundenen Verwaltungshandeln , wozu auch eine Befreiung gehört, sicherzustellen ? Antwort zu 4.2.: Entfällt, da die Voraussetzungen nicht gegeben sind (siehe auch Antworten zu 4 und 4.1). Frage 4.3.: Hat der Investor, oder Herr Strieder, dem Senat die rechtliche Argumentation für die Zulässigkeit der Befreiung vorgelegt, und hat der Senat diese geprüft? Wenn ja, in welcher Tiefenschärfe wurde diese Prüfung vorgenommen und welche Qualifikation hatten der oder die Prüfer? Antwort zu 4.3.: Die rechtliche Argumentation von verschiedenen Rechtsanwälten des Investors wurde durch die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt geprüft. Die vorgebrachten Argumente wurden wie in solchen Verfahren üblich vorbehaltsfrei und umfassend überprüft. An der Prüfung waren Stadtplaner, Verkehrsspezialisten und Immissionsschutzfachleute sowie Juristen beteiligt. Frage 5: Gab es Gegenleistungen des Investors als Kompensation für die Erteilung der Befreiung, beispielsweise durch zusätzliche Errichtung von Wohnraum an anderem, zentrumsnahen Ort im Plangebiet oder in dessen Nähe, oder durch andere Leistungen? Wenn ja, welche? Antwort zu 5: Nein. Frage 6.: Leidet der Bebauungsplan, der ja in voller Kenntnis der Situation vor Ort 20% Wohnanteil vorschreibt , bezüglich der Problematik der Verlärmung durch den Straßenverkehr an einem Abwägungsdefizit, so dass die Befreiung städtebaulich geboten war? Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 18 852 3 Frage 6.1.: Wenn ja, wie will der Senat verhindern, dass zukünftig solche Abwägungsdefizite bei zentrumsnahen Kerngebieten erneut auftreten und durch weitere Befreiungen nachträglich kompensiert werden müssen? Antwort zu 6 und 6.1.: Der Bebauungsplan I-15a leidet nicht an einem Abwägungsdefizit. Die textlichen Festsetzungen Nummer 3.3 und 3.4 wurden im Bebauungsplanverfahren auf ihre Machbarkeit anhand einer Studie geprüft. Die Abwägung bezüglich der Gewährleistung der allgemeinen Anforderungen an gesunde Wohnund Arbeitsverhältnisse erfolgte unter Berücksichtigung aller Belange. Die jetzige Entscheidung betrifft den gegenwärtigen Einzelfall und kann nicht Gegenstand der Abwägung im Bebauungsplan sein. Frage 7: Wie vereinbart der Senat diese von ihm erteilte Befreiung mit seinen Verlautbarungen, in Berlin sei es sehr wichtig, bevorzugt weiteren Wohnungsbau zu realisieren, und an welcher Stelle der Stadt soll der durch die Befreiung wegfallende Wohnanteil ersatzweise geschaffen werden? Antwort zu 7: Der dringend erforderliche Wohnungsbau wird an geeigneteren Stellen in Berlin geschaffen. Ein Ersatz von durch die Befreiung wegfallender Wohnanteile ist in § 31 Absatz 2 BauGB nicht vorgesehen (siehe Antwort zu Frage 5). Eine faktische Kompensation kann aber darin gesehen werden, dass der Senat auf dem Wege von Befreiungen alle rechtlich vertretbaren Möglichkeiten ausschöpft, um in Kerngebieten, in denen regulär nur ein geringer Wohnanteil umgesetzt wird, den tatsächlich gebauten Wohnanteil spürbar zu erhöhen. Dies ist bereits bei einigen Projekten , beispielsweise am Alexanderplatz, erfolgreich praktiziert worden. Berlin, den 21. Juli 2016 In Vertretung Christian Gaebler ................................ Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 26. Juli 2016)