Drucksache 17 / 18 995 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Tom Schreiber (SPD) vom 09. August 2016 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 19. August 2016) und Antwort Altersfeststellung und Folgen für unbegleitete minderjährige Geflüchtete Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: 1. Wie viele unbegleitete minderjährige Geflüchtete wurden seit 2012 einer Altersfeststellung unterzogen (in Relation zur Gesamtzahl) und jeweils auf welche Art und Weise (pädagogische und psychologische Befragung, medizinische Begutachtung)? 6. In welchen Fällen wird eine medizinische Altersfeststellung durchgeführt und wie viele Fälle betraf dies relativ gesehen seit 2012? Zu 1. und 6.: Bei allen neu eingereisten nach eigenen Angaben minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen, werden die Voraussetzungen für eine Inobhutnahme geprüft . Werden keine Personenstandsdokumente vorgelegt, die das angegebene Alter nachweisen, wird im Rahmen einer qualifizierten Inaugenscheinnahme durch ein interdisziplinäres Team, bestehend aus einer Sozialpädagogin oder einem Sozialpädagogen des Landesjugendamtes und einer Psychologin oder einem Psychologen eines freien Trägers der Jugendhilfe, eine Einschätzung des Alters mittels eines strukturierten und dokumentierten Gesprächs vorgenommen. Sofern eine Betroffene/ein Betroffener einstweiligen Rechtsschutz gegen eine verfügte Beendigung der Inobhutnahme begehrt - seit dem 1.11.2015 haben Widerspruch und Klage allerdings keine aufschiebende Wirkung mehr, so dass das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 i.V.m. § 80 Abs. 2 Nr. 3 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) anordnen muss - wird ein medizinisches Altersgutachten eingeleitet. 2012 wurden 47, 2013 31, 2014 31, 2015 39 Aufträge zur medizinischen Altersschätzung erteilt, bis zum 31.07.2016 1 Auftrag. 2. Welche Dokumente sind ausreichend für eine Altersfeststellung und in welcher Verfassung? 3. Werden auch Kopien dieser Dokumente als plausibel berücksichtigt und unter welchen Voraussetzungen sowie mit welchen Begründungen werden diese akzeptiert ? Zu 2. und 3.: Das Landesjugendamt orientiert sich daran , welche Personenstandsdokumente von der Ausländerbehörde und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge als Identitätsnachweis anerkannt werden. In der Regel sind dies Reisepässe oder Ausweise, jeweils im Original. 4. Nach welchen Kriterien werden die Fragen zur Altersfeststellung ausgewählt? (Aufstellung erbeten.) Zu 4.: Zur Dokumentation des Erstgesprächs wird ein speziell entwickelter Fragebogen eingesetzt, der den Empfehlungen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter zur Inobhutnahme von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen entspricht. 5. In welchen Fällen wird psychologisches oder pädagogisches Personal in die Altersfeststellung hinzugezogen ? Wie wird das Verfahren gehandhabt, wenn unterschiedliche Meinungen zwischen den Gutachtern auftreten ? Zu 5.: In den Fällen, in denen das regelmäßig mit der Prüfung der Voraussetzung für eine Inobhutnahme befasste pädagogische und psychologische Fachpersonal im Verlauf des Erstgesprächs nicht zu einer gemeinsamen Einschätzung gelangt, wird ein Termin für eine zweite Inaugenscheinnahme festgelegt und mindestens eine weitere Fachkraft des Landesjugendamtes oder des freien Trägers hinzugezogen. Eine Inobhutnahme wird nur dann aufgrund von angenommener Volljährigkeit beendet, wenn sich die anwesenden Personen mit Sicherheit davon überzeugt haben, dass Minderjährigkeit ausgeschlossen werden kann. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 18 995 2 7. Wie gestaltet sich der Ablauf einer medizinischen Altersfeststellung und wann wird diese angewandt? 8. Wer ist mit der Altersfeststellung beauftragt und welche Qualifikationen müssen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei der jeweiligen Methode vorweisen? 9. Wie viele Termine werden durchschnittlich für eine Altersfeststellung benötigt und wie lange dauern sie in der Regel? Zu 7., 8., und 9.: In Berlin werden im Rahmen der Altersdiagnostik die von der Arbeitsgemeinschaft für forensische Altersdiagnostik (AGFAD) als Qualitätsstandards empfohlenen Untersuchungen eingesetzt, sie entsprechen bundesweitem und wissenschaftlich neuestem Standard. Vor Beginn der Untersuchung werden die zu Untersuchenden im Beisein einer Dolmetscherin oder eines Dolmetschers über den Ablauf der Untersuchung informiert und ihre Einwilligung eingeholt. Es handelt sich zunächst um eine Ganzkörperuntersuchung zum Ausschluss von hormonellen Erkrankungen und/oder Entwicklungsverzögerungen , da ein Vorliegen einer solchen Erkrankung eine Interpretation der Röntgenaufnahmen sehr erschwert und damit eine Altersdiagnostik unmöglich machen würde. Liegen keine Hinweise auf hormonelle Erkrankungen und/oder Entwicklungsverzögerungen vor, erfolgt ein OPG (Orthopantomogramm/Panoramaschichtaufnahme der Zähne) zur Beurteilung des Zahnstatus und der Weisheitszahn -entwicklung. Je nach Ergebnis des OPG erfolgt dann in einzelnen Fällen ein Röntgen der Handwurzelknochen . Die Computertomographie wird in Berlin derzeit nicht angewendet. Die Untersuchungsschritte bauen aufeinander auf, so dass die jeweils weiteren Untersuchungen nach Erhebung des Zahnstatus nur dann durchgeführt werden, wenn noch keine eindeutige medizinische Feststellung möglich ist. Alle Untersuchungen finden am gleichen Tag statt. Die Ganzkörperuntersuchung wird durch eine Fachärztin oder einen Facharzt für Rechtsmedizin des gleichen Geschlechts wie die/der zu Untersuchende durchgeführt, die Röntgenuntersuchung von Radiologinnen oder Radiologen . Die Begutachtung der Bilder erfolgt durch die Sachverständigen des gemeinsamen Centrums für forensische Altersdiagnostik der Charité und des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE). Die Personen sind Fachärztinnen und Fachärzte mit langjähriger praktischer Erfahrung auf dem Gebiet der Altersschätzung. 10. Nach welchem Verfahren werden die Termine zur Altersfeststellung vergeben und was geschieht mit den Geflüchteten bis zu diesem Zeitpunkt hinsichtlich des Asylstatus und der Wohnsituation? Zu 10.: Die Termine werden vom Rechtsmedizinischen Institut der Charité vergeben. Bis zum Vorliegen eines Ergebnisses verbleiben die Personen in einer Einrichtung für Minderjährige. Dies ist unabhängig vom Asylverfahren, das vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge durchgeführt wird. 11. In wie vielen Fällen konnte die Altersfeststellung nicht in Muttersprache des Kindes bzw. des Jugendlichen erfolgen und wie wird dies in solchen Fällen gehandhabt? 12. Wer darf die Kinder und Jugendlichen auf deren Wunsch hin als Beistand im Gespräch begleiten und wie vielen wurde dies seit 2015 verwehrt und aus welchen Gründen? Zu 11. und 12.: Es werden Sprachmittlerinnen und Sprachmittler bestellt, die sich mit den unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen entweder in ihrer Muttersprache oder in der Landessprache verständigen können. Auf Wunsch der Minderjährigen kann eine Begleitperson am Erstgespräch zur Inobhutnahme teilnehmen. Aufgrund von Verfahrensunklarheiten konnten im Jahr 2015 vorübergehend einzelne Begleitpersonen nicht am Erstgespräch teilnehmen. 13. Ist es korrekt, dass bei der Altersfeststellung die Einschätzung durch verschiedene Betreuungspersonen, wie aus zum Beispiel aus der Schule oder der Unterkunft, nicht einbezogen werden und wenn ja, aus welchen Gründen ? Ist hier eine Änderung geplant? 14. Ist es korrekt, dass die Kinder bzw. Jugendlichen und ihre Beistände die Wartezeit getrennt verbringen müssen und wenn ja, aus welchem Grund und ist hier eine Änderung geplant? 15. Dürfen Beistände im Gespräch Fragen stellen bevor das Protokoll unterschrieben und ein rechtskräftiger Beschluss der Mitarbeiter über das Alter des Betroffenen erklärt wird? Zu 13., 14. und 15.: Die Prüfung der Voraussetzungen für eine Inobhutnahme obliegt dem Jugendamt. Eine Änderung des bewährten Verfahrens der Kooperation mit unabhängigen Psychologinnen oder Psychologen eines freien Trägers ist nicht geplant. Es ist gewünscht, dass die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge zusammen mit ihren Beiständen auf den Beginn des Gesprächs warten. Das Erstgespräch selbst findet auf den Wunsch der Flüchtlinge im Beisein ihres selbstgewählten Beistandes statt, der jegliche Person des Vertrauens sein kann. Fragen können gerne nach dem Interview gestellt werden. Mit ihrer/seiner Unterschrift bestätigt die/der um Obhut Bittende , dass ihre/seine Angaben korrekt aufgenommen wurden. Die Entscheidung über die Inobhutnahme erfolgt im Anschluss und wird ausführlich erklärt. 16. Wie viele Geflüchtete wurden als volljährig eingestuft , obwohl sie eine Geburtsurkunde vorweisen konnten , die eine Minderjährigkeit angab und wie viele Geflüchtete wurden seit 2014 entgegen der eigenen Aussage insgesamt als volljährig eingestuft? Zu 16.: Eine Geburtsurkunde allein stellt nach den Ausführungen der Ausländerbehörde regelmäßig keinen ausreichenden Nachweis (kein Foto) für das angegebene Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 18 995 3 Alter dar, weshalb in diesen Fällen das Alter geschätzt wird. Seit 2014 wurde bei 1273 Personen Minderjährigkeit ausgeschlossen. 17. Wenn Altersgutachten eine Volljährigkeit für möglich halten, jedoch auf Fehlertoleranzen von ein bis zwei Jahren hinweisen, in wie vielen Fällen wurde dann gegen eine Minderjährigkeit entschieden und warum? Zu 17.: Wie in Antwort zu 1. und 6. bereits dargestellt, wird ein medizinisches Gutachten im Rahmen eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens erstellt. Dementsprechend hat das Landesjugendamt nur die Möglichkeit dem Gutachten und der Entscheidung des Gerichts zu folgen. 18. In wie vielen Fällen lag eine Altersfeststellung anderer Bundesländer vor, die in Berlin wieder revidiert wurde? Zu 18.: Wird während des Erstgespräches oder während des Clearings bekannt, dass eine Person bereits in einem anderen Bundesland registriert ist, so gilt das zuerst registrierte Geburtsdatum, es sei denn es bestehen erhebliche Zweifel an der registrierten Altersangabe. Bei den bekannten Fällen, in denen eine bereits erfolgte Altersfeststellung anderer Bundesländer in Berlin wieder revidiert wurde, handelt es sich um Einzelfälle. 19. Inwieweit ist es möglich Dokumente wie Geburtsnachweise nach dem Verfahren zur Altersfeststellung nachzureichen um eine Neubewertung des Verfahrens zu ermöglichen? Wenn nicht, warum nicht? Zu 19.: Siehe Antwort zu 16. Da Geburtsnachweise keinen Nachweis der Identität und damit des Alters darstellen , wird eine Alterseinschätzung nur dann geändert, wenn ein Ausweis oder ein Reisepass vorgelegt und von der Ausländerbehörde anerkannt wird. 20. Wann und wie werden die unbegleiteten Geflüchteten über die Vornahme der Altersfeststellung, die Methode der Altersfeststellung, sowie über die möglichen Folgen der Altersfeststellung informiert und wie wird sichergestellt, dass sie die Informationen verstehen können ? Zu 20.: Vor dem Erstgespräch zur Prüfung der Voraussetzungen für eine Inobhutnahme werden die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge darüber informiert, wie das Gespräch abläuft und welchem Zweck es dient. Soll ein medizinisches Altersgutachten eingeleitet werden , wird Bildmaterial genutzt um die einzelnen Untersuchungsschritte anschaulich zu erklären. Vor der Untersuchung selbst findet nochmals eine Aufklärung durch die Ärztin/den Arzt der Charité statt. 21. Wie viele Geflüchtete haben gegen die Einstufung als Volljährige Widerspruch eingelegt bzw. geklagt und in wie vielen Fällen führte dies zu einer Revidierung des Urteils? 22. Wie lange schätzt die Senatsverwaltung die Dauer eines Rechtsverfahrens bei Widerspruch bzw. Klage ein? 23. Welche Möglichkeiten bietet das Land Berlin für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge zur Rechtshilfe und wie können sie einen Rechtsbeistand erhalten bzw. finanzieren? Zu 21., 22. und 23.: Im laufenden Jahr haben bis 31.07.2016 42 Personen gegen die Beendigung der Inobhutnahme geklagt. In 2 Fällen wurde der Bescheid zur Beendigung der Inobhutnahme zurückgenommen. Die Dauer der Klageverfahren wird statistisch nicht erfasst. Das Landesjugendamt weist bei Aushändigung des Bescheides zur Beendigung der Inobhutnahme auf den Rechtsweg hin und auf das zuständige Verwaltungsgericht . Außerdem wird eine Liste von Beratungsstellen angeboten. Wenden sich die Personen an einen Anwalt, so beantragt dieser Prozesskostenhilfe. 24. Wie viele unbegleitete minderjährige Geflüchtete befinden sich derzeit in der Obhut der Senatsverwaltung – geprüft und nicht geprüft – und wie viele wurden jeweils in andere Bundesländer verteilt? Zu 24.: Es befinden sich derzeit ca. 1050 UMF in der Obhut des Landesjugendamtes. Bis Ende Juni 2016 wurden insgesamt 42 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nach § 42 a Sozialgesetzbuch (SGB) VIII auf ein anderes Bundesland verteilt. Seit Juli 2016 findet keine Verteilung mehr statt, da Berlin unter der nach dem Königsteiner Schlüssel vorgesehenen Aufnahmequote liegt. 25. Wird sichergestellt, dass Geflüchtete über die Dauer des Clearingverfahrens in Berlin bleiben können und auch trotz Feststellung der Volljährigkeit danach dort verbleiben können, wo sie sich über die Dauer des verzögerten Verfahrens integriert haben? 26. Wie viele der als volljährig altersbestimmten Geflüchteten sind in eine Turnhalle oder einer anderen Notunterkunft untergebracht worden und inwieweit fällt dies unter das für diese Zielgruppe gesondert vereinbarte Verfahren (siehe Drs. 17/18126)? 27. Für wie viele der volljährig eingestuften Geflüchteten wurde seit Januar 2015 ein Antrag auf Jugendhilfe für junge Volljährige gestellt und wie viele von ihnen wurden positiv beschieden und wie viele wurden dennoch in andere Bundesländer verteilt? Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 18 995 4 Zu 25., 26. und 27.: Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF) durchlaufen zunächst ein Vorclearing im Rahmen einer vorläufigen Inobhutnahme nach § 42 a SGB VIII. Verbleiben die Minderjährigen in Berlin, weil Ausschlussgründe für eine Verteilung vorliegen bzw. eine Verteilung aufgrund der Nicht-Erfüllung der Aufnahmequote ausgeschlossen ist, wird ein Clearingverfahren in Berlin durchgeführt. Personen mit einer Altersschätzung und Beendigung der Inobhutnahme werden an das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) weitergeleitet . Vollendet ein junger Mensch, der als Minderjähriger durch das Landesjugendamt in Obhut genommen wurde, das 18. Lebensjahr, verbleibt er in der Regel nach einem mit dem LAF gesondert vereinbarten Verfahren in Berlin (Drs. 17/18126). Meldungen über eine Unterbringung vom Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) in Turnhallen oder anderen Notunterkünften wurde durch das Landesjugendamt nachgegangen. Diese Art von Unterbringung geschah nach Angaben des LaGeSo aufgrund von vorübergehenden Engpässen bei den Unterbringungsmöglichkeiten und wurde nach kurzer Zeit wieder beendet . Über Anträge auf Hilfen für junge Volljährige nach § 41 SGB VIII in Verbindung mit § 36 SGB VIII entscheiden die fallzuständigen Jugendämter. Berlin, den 02. September 2016 In Vertretung Mark Rackles Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 07. Sep. 2016)