Drucksache 17 / 19 074 Schriftliche Anfrage 17. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Alexander Spies (PIRATEN) vom 30. August 2016 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 12. September 2016) und Antwort Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung im Maßregelvollzug - eine benachteiligte Gruppe? Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: 1. Wie viele Personen mit einer sogenannten geistigen Behinderung befinden sich aktuell in Einrichtungen des Maßregelvollzugs Berlin (absolut und prozentual)? 2. Aufgrund welcher strafbaren Handlungen sind Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung aktuell in den Einrichtungen des Maßregelvollzugs untergebracht ? 3. Wie hoch ist die durchschnittliche Verweildauer insgesamt sowie der vorgenannten Personengruppe in Einrichtungen des Maßregelvollzugs in Berlin? Woraus ergeben sich mögliche Abweichungen in Bezug auf die Verweildauer? Zu 1., 2. und 3.: Zum Stichtag 31.12.2015 waren 676 Patientinnen/Patienten gem. § 63 StGB im Krankenhaus des Maßregelvollzugs – Krankenhausbetrieb des Landes Berlin (KMV) untergebracht. Darunter befand sich kein/e Patient/in mit der alleinigen Diagnose „leichte, mittlere oder schwere Intelligenzminderung (ICD-10: F7)“ Bei 30 Patientinnen/Patienten (das entspricht 4,4 % der Patientinnen /Patienten) wurde eine klinisch relevante Intelligenzminderung neben einer Persönlichkeitsstörung (17 Pat.), einer Schizophrenie (3 Pat.), einer Substanzabhängigkeit /-missbrauch (4 Pat.) bzw. einer Störung der sexuellen Orientierung (6 Pat.) im Sinne einer komorbiden Störung diagnostiziert. Zum Stichtag 13.09.2016 behandelte das KMV 683 Patientinnen und Patienten, hierunter sind 25 Patientinnen /Patienten (3,7 %) mit einer Intelligenzminderung als Komorbidität. Bei der Delinquenz handelt es sich um Tötungsdelikte, Körperverletzungsdelikte, Sexualdelikte, Brandstiftungen sowie Eigentumsdelinquenz und Sachbeschädigung. Die durchschnittliche Verweildauer aller gem. § 63 StGB untergebrachter Patientinnen und Patienten im KMV, deren Unterbringung im Jahr 2015 beendet wurde, betrug 3611 Tage. Eine Aufgliederung der Unterbringungsdauer nach Diagnosen ist für einen rückwirkenden Zeitraum nicht möglich, zumal diese Daten in der Vergangenheit nicht erfasst wurden. Die aktuell untergebrachten 25 Patientinnen/Patienten mit einer F7 Diagnose (im Speziellen: Intelligenzminderung als Komorbidität) sind im Durchschnitt seit 3397 Tagen untergebracht. Abweichungen zur durchschnittlichen Verweildauer aller nach § 63 StGB untergebrachter Patientinnen und Patienten lassen sich insoweit nicht erkennen, da der Vollzug der Maßregel gegenwärtig noch andauert. 4. Welche Herausforderungen ergeben sich im Rahmen der Diagnostik von Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung im Kontext des Maßregelvollzugs und wie wird diesen begegnet? 5. Welche medizinischen und pädagogischen Behandlungskonzepte finden speziell für Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung Anwendung? Welchen Stellenwert haben pädagogische Konzepte im Rahmen der Behandlung von Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung im Maßregelvollzug? Zu 4. und 5.: Das intellektuelle Fähigkeitsniveau wird mit standardisierten Testverfahren erfasst, wie z. B. dem Wechsler Intelligenztest für Erwachsene (WIE) oder dem Culture Fair Test von Cattel (CFT-20). Die Diagnostik von evtl. bestehenden Co-Diagnosen richtet sich nach dem allgemeinen Standard psychiatrischer Diagnosestellung . Die Behandlung orientiert sich an den kriminogenen Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten. Gefördert und verbessert werden in der Behandlung Sozial- und Handlungskompetenzen, Übernahme sozialer Normen Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 19 074 2 und Werte, Einhaltung von Regeln, Selbstwert und Autonomie , Impulskontrolle, sinnvolle Freizeitgestaltung, Entwicklung realistischer Zukunftsperspektiven sowie der Wunsch und die Fähigkeit, deliktfrei zu leben. Die Gemeinschaft auf der Station wird im Rahmen des Zusammenlebens als regulierendes Übungsfeld genutzt. Im Gruppensetting wird z. B. soziales Kompetenztraining und Problemlösetraining durchgeführt. Die Edukation, u. a. in lebenspraktischen Bereichen, spielt eine wichtige Rolle. In der Einzeltherapie wird versucht, die Verantwortungsübernahme für das Delikt zu fördern und eine Veränderungsmotivation zu erreichen. Es werden realistische Ziele erarbeitet. Die Behandlung dieser Personengruppe hat denselben Stellenwert wie die Behandlung von Patientinnen/Patienten mit anderen Diagnosen. In drei von sechs Abteilungen des Krankenhauses des Maßregelvollzugs gibt es Stationen mit einer besonderen Expertise in der Behandlung intelligenzgeminderter Patientinnen und Patienten. 6. Wie bewertet der Senat das Spannungsfeld zwischen dem auf medizinisch-therapeutischen Konzepten basierenden Maßregelvollzug und dem vordergründigen Bedarf an pädagogischen Interventionsmaßnahmen zur Rehabilitation von Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung im Maßregelvollzug? Zu 6.: Im psychiatrischen Maßregelvollzug kommen im Rahmen der Kriminaltherapie Behandlungsstrategien zur Anwendung, von denen sowohl normalintelligente Patientinnen und Patienten als auch Patientinnen und Patienten mit Intelligenzminderung profitieren. Die Strategien werden hier den Lernmöglichkeiten und Bedürfnissen der verschiedenen Patientengruppen angepasst. Pädagogische Konzepte spielen selbstverständlich eine wichtige Rolle, gerade auch z. B. im Rahmen der Psychoedukation . 7. In welche Wohn- und/oder Betreuungsformen wurden Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung aus dem Maßregelvollzug in den Jahren 2010 - 2015 entlassen (bitte aufschlüsseln nach Jahr, Anzahl und Wohn-/Betreuungsform)? 8. Hält der Senat die Bereithaltung von Wohn- bzw. Betreuungseinrichtungen für aus dem Maßregelvollzug entlassene Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung in qualitativer und quantitativer Hinsicht für ausreichend? 9. Welche Herausforderungen (z.B. Finanzierungskonflikte , fehlende pädagogische Konzepte, Vorbehalte der aufnehmenden Einrichtung etc.) ergeben sich im Rahmen einer Entlassung von Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung in Wohn- bzw. Betreuungseinrichtungen ? Zu 7., 8. und 9.: Eine solche zahlenmäßige Auswertung ist mit der im KMV vorhandenen Datenverarbeitung nicht möglich. Entlassungen von intelligenzgeminderten Patientinnen und Patienten erfolgten meist in geeignete Heimeinrichtungen. Das Entlassungssetting wird nach Betreuungsbedarf und verbleibendem Risikoprofil ausgesucht und gestaltet. Für den zu entlassenen Personenkreis der (vornehmlich) Intelligenzgeminderten werden spezielle Einrichtungen gesucht, deren Setting auf die besonderen Bedürfnisse dieser Klientel ausgerichtet ist. Die Herausforderung besteht darin, eine passende Einrichtung im Land Berlin zu finden, zumal mitunter Einrichtungen in anderen Bundesländern, z. B. im ländlichen Bereich, wegen einer reizärmeren Umgebung, der Beschäftigungsangebote im landwirtschaftlichen Bereich oder der Nähe zu Angehörigen, besser geeignet sind. Schwierigkeiten können sich im Einzelfall auch im Rahmen von Entlassungserprobungen ergeben. Aus diesem Grund scheiterte unlängst eine Aussetzung der Unterbringung zugleich mit der Anordnung (§ 67b StGB), da die ausgewählte Einrichtung nur bereits entlassene Patientinnen und Patienten (also jene, bei deren die Maßregel aufgehoben oder zur Bewährung ausgesetzt ist) aufnimmt. 10. Wie wird verfahren, wenn keine geeignete Wohnbzw . Betreuungseinrichtung für einen aus dem Maßregelvollzug entlassenen Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung bereitgestellt werden kann? Zu 10.: Wenn in Berlin keine geeignete Einrichtung gefunden wird, wird in anderen Bundesländern nach einer solchen gesucht. Im Land Brandenburg, in Mecklenburg- Vorpommern und Sachsen-Anhalt können geeignete Einrichtungen gefunden werden. 11. Welche medizinischen, therapeutischen und pädagogischen Berufsgruppen sind in den Einrichtungen des Maßregevollzugs im Land Berlin beschäftigt und in welcher Anzahl? Zu 11.: Im KMV sind aktuell 41,42 Arztstellen, 298,79 Stellen im Pflegedienst, 18 Psychologenstellen, 8 Erzieherstellen sowie 29,25 Stellen in der Ergotherapie besetzt. 12. Teilt der Senat die Auffassung, dass die in § 20 StGB gewählten Termini zur Bestimmung der Schuldunfähigkeit teilweise historisch belastet sind und Menschen in diskriminierender Weise herabwürdigen? Was wird der Senat unternehmen, um auf eine Änderung des § 20 StGB hinzuwirken? Zu 12.: Nein Berlin, den 21. September 2016 In Vertretung Emine D e m i r b ü k e n - W e g n e r _____________________________ Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 26. Sep. 2016)