Drucksache 18 / 10 046 Schriftliche Anfrage 18. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Marc Vallendar (AfD) vom 15. November 2016 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 15. November 2016) und Antwort Kältehilfe und Obdachlosigkeit in Berlin Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: Vorbemerkung: Am 01. November hat die Kältehilfe begonnen. Genaue Zahlen, wie viele Menschen in Berlin als Obdachlose in Parks, unter Brücken und leeren Gebäuden schlafen müssen, gibt es nicht. Es sollen nach Schätzungen 2.000 bis 3.000 sein. Nach Zeitungsberichten beklagt sich die Berliner Stadtmission, die zwei Einrichtungen für Wohnsitzlose betreibt, darüber, dass sie in der Franklinstraße, wenn die dortigen 73 Betten belegt sind, an bestimmten Tagen bis zu 350 Menschen abweisen muss. Wenn der Leiter dieser Unterkunft, Herr M. Z., Obdachlose mit deutschem Pass abweise, höre er immer öfter: „Aber die Knacken dürfen rein?“. Die Fremdenfeindlichkeit nehme unter den Obdachlosen zu. Mit dem Beginn der Kältehilfe am 1. November stünden in Berlin maximal 621 Übernachtungsplätze in 17 Einrichtungen zur Verfügung. Davon stelle die Stadtmission ungefähr die Hälfte. Im letzten Winter seien in den Einrichtungen der Kältehilfe ca. 28.000 Übernachtungen bewältigt worden . Dies werde in diesem Winter voraussichtlich nicht ausreichen, sodass mindestens doppelt so viele Obdachlose draußen schlafen müssten. 1. Wie schätzt der Senat den Bedarf für Notübernachtungen während der Wintermonate 2016/2017 ein? Wie wurde dieser Bedarf konkret ermittelt? Gibt es auf statistische Werte gestützte Prognosen? 2. Ist die Bereithaltung der räumlichen Kapazitäten zur Deckung des festgestellten Bedarfs derzeit schon gesichert? Welche Notunterkünfte für die Kältehilfe 2016/2017 (jeweils unter Nennung der Zahl der Schlafplätze ) gibt es? 3. Wird in diesem Jahr wieder die Traglufthalle (sog. „Halle-Luja“) mit ca. 100 Schlafplätzen der Care-Energy Unternehmensgruppe am Containerbahnhof, welche von der Berliner Stadtmission betreut wurde, erneut zur Verfügung stehen? Zu 1. bis 3.: Die „Berliner Kältehilfe“ ist ein in Deutschland einmaliges Programm, das 1989 von Berliner Kirchengemeinden und Wohlfahrtsverbänden sowie der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales ins Leben gerufen wurde, um obdachlosen Menschen eine unbürokratische Übernachtungsmöglichkeit während der kalten Jahreszeit anzubieten. Zahlreiche Träger, d. h. Kirchengemeinden, Verbände, Vereine und Initiativen beteiligen sich jeweils mit eigenen Angeboten, wie z. B. Notübernachtungen, Nachtcafés, Suppenküchen, Treffpunkten sich am „Kältehilfeprogramm “, um zu verhindern, dass Menschen ohne Unterkunft in Berlin zu Schaden kommen. Hauptamtliche Fachkräfte und eine Vielzahl ehrenamtlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter leisten hierbei mit hohem Engagement eine sozial anerkannte und wichtige Arbeit für das Land Berlin. Hierfür dankt ihnen der Senat ausdrücklich. Der herausragende Einsatz und das Engagement der zumeist ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tragen dabei ganz wesentlich zu hoher Sicherheit in den Einrichtungen der „Kältehilfe“ bei. Es sei betont, dass es sich bei der Kältehilfe nicht um ein reguläres Angebot der Wohnungslosenhilfe handelt. Die Kältehilfe ist ein Notprogramm vor der Regelversorgung. Das Angebot umfasst zum gegenwärtigen Zeitpunkt bis zu 566 Notschlafplätze je Nacht. Die Kältehilfe wird zu großen Teilen mit Hilfe von bezirklich ausgereichten Zuwendungsmitteln des Landes Berlin finanziert. In der letzten Saison 2015/2016 wurden rd. 1,5 Mio. EUR an Zuwendungsmitteln aufgewandt. Die Auslastungsdaten liegen vollständig vom 01.11. bis zum 13.11.2016 vor. Danach lag der Auslastungsgrad für die zweite Novemberwoche bei rd. 85 % im wöchentlichen Mittel. Da aller Erfahrung nach mit einer weiteren Inanspruchnahme zu rechnen ist, werden Anfang Dezember weitere 100 Notschlafplätze der Berliner Stadtmission Abgeordnetenhaus Berlin – 18. Wahlperiode Drucksache 18 / 10 046 2 in der Traglufthalle ihren Betrieb aufnehmen. Die Zielplanung für den Winter liegt bei rd. 800 Notschlafplätzen. Die Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales finanziert darüber hinaus das „Kältehilfe-Telefon“ in der Trägerschaft der Gebewo pro gGmbH. Das „Kältehilfe- Telefon“ erfasst die Kapazitäten sowie die Inanspruchnahme , so dass bei Bedarf eine Belegungssteuerung erfolgen kann. Die Busse der Berliner Stadtmission und des Deutschen Roten Kreuzes Landesverband Berlin e. V. können im Bedarfsfall die Menschen in Einrichtungen mit noch vorhandenen freien Plätzen bringen. Das „Kältehilfe-Telefon“ führt darüber hinaus eine Übersicht über alle Angebote. Wegen der Nachsteuerung bzw. des zeitversetzten Projektbeginns wird der „Kältehilfewegweiser “ regelmäßigen zum 01.12. eines jeden Jahres veröffentlicht. 4. Werden bei nicht gedecktem Bedarf die Zivilschutzbunker in Berlin als Notunterkünfte der Kältehilfe zur Verfügung stehen? Wenn nein, warum nicht? Zu 4.: Zivilschutzbunker sind Bestandteil des Katastrophenschutzes . Da die „Kältehilfe“ nicht im Rahmen des Katastrophenschutzes erfolgt, ist eine Einbeziehung von Zivilschutzbunkern derzeit nicht geplant. 5. Werden die laufend frei werdenden Plätze in den Erstaufnahmelager für Asylbewerber und Flüchtlinge als Winternotunterkünfte für Obdachlose zur Verfügung stehen? Wenn nein, warum nicht? Zu 5.: Die Unterbringung von Flüchtlingen erfolgt seit Jahren aus konzeptionellen Gründen in unterschiedlichen Immobilien. Eine Vermischung beider Zielgruppen im Rahmen der „Kältehilfe“ ist derzeit nicht geplant. 6. Wie viele von Obdachlosen bewohnte „wilde Lager “ (Zeltlager, Wildcampen, usw.) sind dem Berliner Senat bekannt? Wie viele dieser Lager wurden in diesem Jahr mit Kräften des Ordnungsamtes und der Polizei geräumt ? Ist es richtig, dass zuletzt ein Lager im Großen Tiergarten nur deswegen geräumt wurde, weil die Obdachlosen die dort lebenden Schwäne und anderen Vögel gefangen und gegessen haben? Zu 6.: Die Polizei Berlin unterstützte in diesem Jahr die Bezirksämter Charlottenburg-Wilmersdorf, Lichtenberg , Mitte, Reinickendorf und Tempelhof-Schöneberg bei der Beräumung von insgesamt neun Örtlichkeiten, an denen Obdachlose campierten. Ergänzende Erkenntnisse aus den bezirklichen Ordnungsämtern liegen nicht vor. 7. Welche Gründe sind dem Senat für die Entstehung dieser Lager bekannt? Ist es richtig dass, diese zumeist von EU-Bürgern ohne Sozialhilfeanspruch errichtet werden ? Wenn ja, was gedenkt der Senat gegen diese Entwicklung zu tun? Zu 7.: Dem Senat ist bekannt, dass obdachlose Menschen entlang der Bahnstrecke auf öffentlichen Flächen, u. a. Nähe Bahnhof Zoo und im Tiergarten im Freien übernachten. Darunter befinden sich auch EU-Bürger/innen . Die Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales hat deswegen den Träger Gangway beauftragt, mehrere Schwerpunktorte aufzusuchen. Auftrag der aufsuchenden Sozialarbeit ist, die Zielgruppe der auf der Straße lebenden Menschen über die Angebote der Regelversorgung zu informieren und zu motivieren, auch Angebote der Wohnungslosenhilfe in Anspruch zu nehmen. Die Nutzung dieser Angebote erfolgt auf freiwilliger Basis. Die Erfahrung der letzten Jahre zeigt, dass trotz dieser Angebote diese nur zögerlich angenommen werden. Ein besonderer Aspekt liegt darin, dass diese aufgrund ihrer Erfahrungen mit den dortigen Behörden der Herkunftsländer - die teilweise stark restriktiv und rein ordnungsbehördlich auf Hilfegesuche reagieren - Hilfeangebote in Berlin aus Angst vor Sanktionierung vermeiden. In welcher Höhe die Betreffenden tatsächlich Ansprüche auf Leistungen haben, wäre nur im Rahmen einer Einzelfallprüfung feststellbar. Nach dem Kenntnisstand des Berliner Senats geht das Campen im Winter regelmäßig zurück. Ein großer Teil der Menschen nutzt dann die Notschlafplätze der „Kältehilfe “. 8. Welche Zuschüsse und Fördergelder erhält der Verein der Berliner Stadtmission vom Senat für die Obdachlosenbetreuung ? Sind diese Mittel zweckgebunden? Bitte um detaillierte Aufschlüsselung, welche Mittel für die Obdachlosenunterbringung und welche für die Lebensmittelhilfe zur Verfügung gestellt werden? 9. Ist dem Berliner Senat bekannt, dass die Berliner Stadtmission keine öffentlichen Mittel zum Erwerb von Nahrungsmitteln erhält oder zumindest die öffentlichen Mittel nicht für diesen Zweck verwendet, sondern ausschließlich auf Spenden (insb. der Berliner Tafel) angewiesen ist? Was gedenkt der Senat gegen diesen Missstand zu unternehmen? Zu 8. und 9.: Der Verein für Berliner Stadtmission ist ein gemeinnütziger Träger, der in vielen Feldern der Sozialen Arbeit tätig ist, u. a. in der Wohnungslosenhilfe und in der Kältehilfe. Im Winter 2015/2016 erhielt der Träger zweckgebundene Zuwendungen von vier Bezirken in folgender Höhe: Bezirk Förderung in TEUR Mitte 233 Friedrichshain-Kreuzberg 225 Charlottenburg-Wilmersdorf 30 Reinickendorf 96 Summe 584 Abgeordnetenhaus Berlin – 18. Wahlperiode Drucksache 18 / 10 046 3 Darin enthalten sind nach Kenntnis des Berliner Senats grundsätzlich auch Kostenbestandteile für Lebensmittel . Davon abweichende Festlegungen sind nicht bekannt . Die Höhe der Zuwendungen für den kommenden Winter 2016/2017 stehen noch nicht fest. Die Zuwendungsbescheide sind noch nicht vollständig erlassen. Darüber hinaus sind im Rahmen des Integrierten Sozialprogramm /ISP für das Haushaltsjahr 2017 fünf gesamtstädtische Projekte der Wohnungslosenhilfe und Straffälligenhilfe Zuwendungsmittel in Höhe von rd. 1,9 Mio. EUR eingeplant. 10. Liegen dem Senat Erkenntnisse dafür vor, dass es nachts in den Notunterkünften regelmäßig zu Übergriffen (Diebstähle, Gewaltakte etc.) kommt? Ist dem Senat die Problematik bekannt, dass Obdachlose die Nachtquartiere meiden, weil sie sich vor derartigen Übergriffe fürchten und was gedenkt der Senat dagegen zu tun? Zu 10.: Im Jahr 2014 wurden gemäß Polizeilicher Kriminalstatistik (PKS) 110 Obdachlose Opfer eines Gewaltdeliktes, 2015 waren es 195. In diesem Jahr wird sich die Zahl weiter erhöhen, weil bereits im September die Werte des gesamten Vorjahres erreicht wurden. Da die PKS nur Opferdaten zu Straftaten gegen die Freiheit und körperliche Unversehrtheit enthält, sind entsprechende Angaben zu Eigentumsdelikten nicht möglich. Auch die gewünschten Tatörtlichkeiten und Tatzeiten werden in der PKS nicht abgebildet. Berlin, den 05. Dezember 2016 In Vertretung Dirk G e r s t l e _____________________________ Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 06. Dez. 2016)