Drucksache 18 / 10 071 Schriftliche Anfrage 18. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Tom Schreiber (SPD) vom 08. November 2016 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 18. November 2016) und Antwort Altersfeststellung und Folgen für unbegleitete minderjährige Geflüchtete II Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: 1. Wie viele unbegleitete minderjährige Geflüchtete wurden seit 2012 einer medizinischen und nichtmedizinischen Altersfeststellung in Relation zur Gesamtzahl der unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten unterzogen ? (Bitte nach Art und Jahren aufschlüsseln.) 2. Laut Antwort zu 17/18995 wurden in 2016 bis zum 31. Juli 42 Klagen gegen die Beendigung der Inobhutnahme eingereicht, im gleichen Jahreszeitraum jedoch nur eine medizinische Feststellung durchgeführt. Wurden in allen weiteren Fällen mittlerweile medizinische Prüfungen zur Altersfeststellung eingeleitet und wenn ja, mit welchem Ergebnis? (Wenn nicht, warum nicht?) Zu 1. und 2.: Bei allen neu eingereisten, nach eigenen Angaben minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen werden die Voraussetzungen für eine Inobhutnahme geprüft. Werden keine Personenstandsdokumente vorgelegt, die das angegebene Alter nachweisen, wird im Rahmen einer qualifizierten Inaugenscheinnahme durch ein interdisziplinäres Team, bestehend aus einer Sozialpädagogin oder einem Sozialpädagogen des Landesjugendamtes und einer Psychologin oder einem Psychologen eines freien Trägers der Jugendhilfe, eine Einschätzung des Alters mittels eines strukturierten und dokumentierten Gesprächs vorgenommen . Seit dem 01.11.2015 haben Widerspruch und Klage gemäß § 42f Abs. 3 Achtes Sozialgesetzbuch (SGB VIII) generell keine aufschiebende Wirkung, so dass das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 i.V.m. § 80 Abs. 2 Nr. 3 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) anordnen muss. Bislang wurde noch in keinem Fall die aufschiebende Wirkung angeordnet und infolgedessen ein medizinisches Altersgutachten eingeleitet . 2012 2013 2014 2015 2016 bis 30.10. insgesamt 758 913 1134 4486 1544 Nicht-medizinisch 758 913 1134 4486 1544 Anteil 100,00% 100,00% 100,00% 100,00% 100,00% medizinisch 47 31 31 39 10 Anteil 6,20% 4,09% 4,09% 5,15% 1,32% 3. Wer ist mit der nicht-medizinischen Altersfeststellung bzw. der qualifizierten Inaugenscheinnahme beauftragt und welche Qualifikationen müssen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei der jeweiligen Methode vorweisen ? Zu 3.: Die mit einer Altersschätzung beauftragten Sozialpädagoginnen oder Sozialpädagogen bzw. Sozialarbeiterinnen oder Sozialarbeiter sowie die Psychologin oder der Psychologe besitzen eine langjährige Berufserfahrung im Umgang mit jungen Menschen und sind in die Abgeordnetenhaus Berlin – 18. Wahlperiode Drucksache 18 / 10 071 2 Wahrnehmung dieser speziellen Aufgabe von erfahrenen Vorgängern eingearbeitet. Das Anforderungsprofil für die Fachkräfte enthält folgende Merkmale: Fundierte Berufserfahrung in der Kriseninterventionsarbeit Staatliche Anerkennung für Sozialpädagoginnen oder Sozialpädagogen bzw. Sozialarbeiterinnen oder Sozialarbeiter Erfahrungswissen in der sozialpädagogischen /psychotherapeutischen Arbeit mit Migrantinnen und Migranten aus unterschiedlichen Kulturen Kenntnisse über die kulturellen und ethnischen Hintergründe von Flüchtlingen. 4. Wie viele Termine werden durchschnittlich für eine qualifizierte Inaugenscheinnahme (siehe 3.) benötigt bzw. angesetzt und wie lange dauern diese in der Regel? 15. Wie wird aus Sicht des Senats generell die Verlässlichkeit der nicht-medizinischen Altersfeststellung gewährleistet, sodass unterschiedliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zum selben Ergebnis kommen? Zu 4. und 15.: In der Regel wird ein Termin für eine qualifizierte Inaugenscheinnahme angesetzt. Das strukturierte und dokumentierte Gespräch dauert ca. eine Stunde. In den Fällen, in denen das regelmäßig mit der Prüfung der Voraussetzung für eine Inobhutnahme befasste pädagogische und psychologische Fachpersonal im Verlauf des Erstgesprächs nicht zu einer gemeinsamen Einschätzung gelangt, wird ein Termin für eine zweite Inaugenscheinnahme festgelegt und mindestens eine weitere Fachkraft hinzugezogen. Eine Inobhutnahme wird nur dann aufgrund von angenommener Volljährigkeit beendet , wenn die anwesenden Personen zu der gemeinsamen Auffassung gelangt sind, dass Minderjährigkeit ausgeschlossen werden kann. Alle eingesetzten Fachkräfte bedürfen der unter der Antwort zu 3. dargestellten Qualifikation . 5. Nach welchem Verfahren werden die Termine zur qualifizierten Inaugenscheinnahme vergeben? 11. Wie viele afghanische Jugendliche befinden sich derzeitig in der Obhut des Landes und müssen noch in Augenschein genommen werden? Zu 5. und 11.: Die Termine für das Erstgespräch werden unabhängig von Staatsangehörigkeiten nach Ankunftszeitpunkt vergeben. Aktuell finden die Erstgespräche maximal drei Werktage nach Ankunft statt. Mit Stand 22.11.2016 warteten drei junge Flüchtlinge aus Afghanistan auf das Erstgespräch. 6. Was können unbegleitete minderjährige Flüchtlinge und ihre Beistände unternehmen, wenn ihnen – wie von mehrere Betroffenen berichtet – das gemeinsame Warten vor einem Termin zu einer Altersfeststellung (medizinisch und nicht-medizinisch) oder die gemeinsame Teilnahme am Erstgespräch verwehrt wird? Zu 6.: Jeder junge Flüchtling hat das Recht eine Begleitperson am Erstgespräch (mit qualifizierter Inaugenscheinnahme ) und auch bei der medizinischen Untersuchung zur Altersfeststellung teilnehmen zu lassen. 7. Beinhalten die unter der Antwort auf Frage 17 der Anfrage 17/18995 aufgeführten Angaben eines medizinischen Gutachtens immer ein konkretes Jahr bzw. Monat oder wird ein zeitlicher Alterskorridor bestimmt? Ist letzteres der Fall, welcher Wert – der höhere oder niedrigere – wird zur Altersfeststellung angenommen? Zu 7.: Im Rahmen der medizinischen Altersbegutachtungen werden einzelne Teilgutachten angefertigt und in einem abschließenden Gutachten zusammengefasst. In den Teilgutachten werden Altersspannen angegeben. Durch die Begutachtenden wird das Mindestaltersprinzip angewandt und somit immer das jüngste mögliche Alter angegeben. 8. Wie geht der Senat mit Jugendlichen um, denen in ihren Heimatländern ein Pass oder Reisedokument erst mit Erreichen der Volljährigkeit ausgestellt wird? Zu 8.: Es ist bekannt, dass Jugendliche in einigen Ländern keinen Pass oder ein Reisedokument erhalten und es wird selbstverständlich beachtet, dass die Situation der Flucht häufig keine Möglichkeiten lässt, alle Dokumente zu beantragen. 9. Ist dem Senat bekannt, dass in einigen Bundesländern Geburtsurkunden zur Altersfeststellung akzeptiert werden, in Berlin jedoch nicht und wo liegen die Gründe dafür? 10. Warum wurde der afghanische Geburtsnachweis „Tazkira“ ein Jahr lang anerkannt und nun nicht mehr? Zu 9. und 10.: Das Landesjugendamt ist gehalten, sich an den von der Ausländerbehörde und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) als Identitätsnachweis anerkannte Personenstandsdokumente zu orientieren. In der Regel sind dies Reisepässe oder Ausweise, jeweils im Original. Eine Geburtsurkunde gilt im Land Berlin generell nicht als Nachweis der Identität einer Person, da diese kein Foto enthält. Abgeordnetenhaus Berlin – 18. Wahlperiode Drucksache 18 / 10 071 3 Die aktuellen Erkenntnisse der beteiligten Behörde [Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF), Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten (LA- BO), BAMF und Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft (SenBildJugWiss)] zeigen, dass bei der Tazkira von einer nicht akzeptablen hohen Fälschungsquote auszugehen ist. Weiterhin wurde in mehreren Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts und des Verwaltungsgerichts Berlin mit Verweis auf die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Kabul festgestellt, dass der Tazkira im Hinblick auf die Unzuverlässigkeit des afghanischen Urkundenwesens kein Beweiswert zukommt . Deshalb wurde übereinstimmend zwischen den Behörden (LAF, LABO, BAMF, SenBildJugWiss) in Berlin beschlossen, dass der Alterseinschätzung des Landesjugendamtes gefolgt wird und die Tazkira keinen Nachweis des Alters darstellt. 12. Wie viele Fälle von Jugendlichen, die in der Obhut die Volljährigkeit erreicht haben, und in einer Turnhalle untergebracht waren, gab es in 2016? Zu 12.: Die Überleitung aus der Zuständigkeit der SenBildJugWiss an das LAF erfolgt in einem für diese Zielgruppe gesondert vereinbarten Verfahren. Es wurde gemeinsam festgelegt, dass diese jungen Menschen nicht in Turnhallen untergebracht werden. Gemeldeten Einzelfällen des Verstoßes gegen diese Vereinbarung wird durch die SenBildJugWiss nachgegangen. 13. Für wie viele Jugendliche wurde eine Hilfsbedürftigkeit für junge Volljährige im Clearing-Verfahren festgestellt und wie viele haben durch die Berliner Jugendämter eine Betreuung erhalten? Zu 13.: Über die Gewährung von Hilfe für junge Volljährige entscheiden die bezirklichen Jugendämter aufgrund der individuellen Bedarfe der jungen Flüchtlinge. Derzeit ist keine verlässliche Angabe möglich. Von den Bezirken werden die Hilfen für junge Volljährige erfasst, unabhängig davon ob diese im Clearingverfahren oder in der Betreuung der Bezirke volljährig geworden sind. 14. In wie vielen Fällen musste das Ergebnis der Altersfeststellung (medizinisch und nicht-medizinisch) und die Beendigung der Inobhutnahme in den letzten drei Jahren revidiert werden und was waren die Ursachen dafür? Zu 14.: Die Alterseinschätzung wurde in 2013 in fünf Fällen, in 2014 in zwei Fällen und in 2015 in drei Fällen revidiert. In diesen Fällen bestätigte das medizinische Altersgutachten, die in der qualifizierten Inaugenscheinnahme gewonnene Einschätzung nicht. In diesen Fällen wurde die Beendigung der Inobhutnahme aufgehoben und der junge Mensch im Rahmen von Hilfen zur Erziehung durch das zuständige bezirkliche Jugendamt untergebracht . Berlin, den 29. November 2016 In Vertretung Sigrid Klebba Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 05. Dez. 2016)