Drucksache 18 / 10 083 Schriftliche Anfrage 18. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Thomas Seerig (FDP) vom 23. November 2016 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 23. November 2016) und Antwort Senatskonzepte bei Wohnungslosigkeit Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: 1. Wie viele Personen sind nach Senatserkenntnis aktuell in Berlin ohne Obdach? 2. Wie viele Übernachtungsplätze gibt es aktuell in Berlin für diese Personengruppe? 3. Hält der Senat diese Anzahl für ausreichend? 4. Wenn nein, wie wird er Bedarf und Angebot besser in Übereinstimmung bringen? Zu 1. bis 4.: Die Begriffe „Obdachlosigkeit“ bzw. „Wohnungslosigkeit“ sind gesetzlich nicht definiert. Als obdachlos gelten Menschen, die auf der Straße leben, an öffentlichen Plätzen wohnen, ohne eine Unterkunft, die sich in Verschlägen, Parks oder unter Brücken etc. aufhalten . Obdachlos sind aber auch Menschen in Notunterkünften , die keinen festen Wohnsitz haben und in Wärmestuben , Notschlafstellen oder anderen niederschwelligen Einrichtungen übernachten. Die Ermittlung valider Zahlen zur tatsächlichen Gesamtzahl der wohnungslosen Menschen im Land Berlin ist grundsätzlich nicht möglich, da konkrete Erhebungen durch Behörden nur in Bezug auf die Personen möglich ist, die dort bekannt geworden sind. Grundsätzlich erhält jeder, der einen Unterbringungsplatz benötigt ein solches Angebot. Die Anzahl der kommunal und ordnungsrechtlich untergebrachten Personen betrug zum Stichtag 31.12.2015 16.696 Personen. (Datengrundlage: Angabe der Bezirke) Das Land Berlin fördert außerdem seit Ende der 70er Jahre niedrigschwellige Projekte der Wohnungslosenhilfe. Ziel aller Angebote ist die Versorgung und Unterstützung Wohnungsloser, die Integration der Menschen in die Regelversorgung. Die Förderung erfolgt im Integrierten Sozialprogramm (ISP) in fünf verschiedenen Angebotsbereichen : Beratungsstellen, Straßensozialarbeit, ambulante medizinische Versorgung, Bahnhofsdienste und Notübernachtungen . Die Hilfen können in der Regel unbürokratisch , anonym und ohne besondere Zugangsvoraussetzungen in Anspruch genommen werden. Zurzeit werden im Rahmen dieses Programms 124 Notübernachtungsplätze angeboten. Um obdachlosen Menschen eine unbürokratische Übernachtungsmöglichkeit während der kalten Jahreszeit anzubieten wurde 1989 die „Berliner Kältehilfe“, ein in Deutschland einmaliges Programm, von Berliner Kirchengemeinden und Wohlfahrtsverbänden sowie der ehemaligen Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales ins Leben gerufen. Zahlreiche Träger, d. h. Kirchengemeinden, Verbände, Vereine und Initiativen beteiligen sich jeweils mit eigenen Angeboten, wie z. B. Notübernachtungen, Nachtcafés, Suppenküchen, Treffpunkten um zu verhindern, dass Menschen ohne Unterkunft in Berlin zu Schaden kommen . Bei der Kältehilfe handelt es sich um ein niedrigschwelliges Angebot vor der Regelversorgung. Das Angebot umfasst zum gegenwärtigen Zeitpunkt bis zu 581 Notschlafplätze je Nacht (Stand: 28.11.2016). Da aller Erfahrung nach mit einer weiteren Inanspruchnahme zu rechnen ist, werden Anfang Dezember weitere 100 Notschlafplätze der Berliner Stadtmission in der Traglufthalle ihren Betrieb aufnehmen. Die Zielplanung für den Winter liegt bei rd. 800 Notschlafplätzen. Die derzeitige Auslastung liegt bei 96 %. Das Angebot wird bei Bedarf weiter nachgesteuert. Abgeordnetenhaus Berlin – 18. Wahlperiode Drucksache 18 / 10 083 2 5. Wie steht der Senat zur Idee, dass im Zuge der Kältehilfe nicht nur die BVG ihre Objekte öffnet, sondern das Land Berlin dies mit den Foyers von Rathäusern und Verwaltungsgebäuden auch tut? 6. Wenn der Senat dies ablehnt, warum? 7. Hält der Senat diese Gründe gegenüber dem Risiko des Kältetodes für hinreichend? 8. Hat der Senat geprüft, ob er durch die unterlassene, temporäre Unterbringung von Obdachlosen in öffentlichen Gebäuden den Tatbestand des § 323 c StGB erfüllen kann? Mit welchem Ergebnis? 9. Wie erfolgt die Abwägung zwischen der Fürsorgepflicht gegenüber den Menschen auf der Straße und deren Schutz vor dem Kältetod einerseits und dem Recht auf Selbstbestimmung andererseits? Zu 5. bis 9.: Der Berliner Senat hält die Unterbringung von Obdachlosen im Rahmen der Kältehilfe in den U- Bahnhöfen der BVG für nicht geeignet, da sie nicht beheizt sind. Die BVG hält in der Kältesaison trotzdem zwei U-Bahnhöfe offen. Die Foyers von Rathäusern und anderen öffentlichen Verwaltungsgebäuden sind aus fachlicher Sicht auch nicht geeignet. Es fehlt außerdem eine Betreuung . Auch andere Sicherungsaspekte wie. z. B. Brandschutz sind nicht gegeben. Die Bezirke stehen in der Verpflichtung aus o. g. Gründen Plätze zu schaffen. Der Berliner Senat wird die Bezirke weiterhin dabei unterstützen. Im Rahmen der Unterbringung von Obdachlosen wird zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Obdachlosigkeit unterschieden. Dabei begründet grundsätzlich nur die unfreiwillige Obdachlosigkeit die sachliche Zuständigkeit der Polizei - und Ordnungsbehörden, Maßnahmen zur Vermeidung bzw. Beseitigung der Obdachlosigkeit durchzuführen. Ziel dieser Maßnahmen ist die Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit, zur der in ihrer individualbezogenen Schutzrichtung auch die Unverletzlichkeit der subjektiven Rechte und Rechtgüter des Einzelnen gehören. Zu diesen Rechten gehört insbesondere auch das Recht auf Leben und die körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 GG. In Notlagen besteht daher die Pflicht des Staates zur Erhaltung der notwendigen Lebensbedingungen die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen. Mit Blick auf die Obdachlosigkeit ist der Staat insoweit verpflichtet Räume zur Verfügung zu stellen , die Schutz vor den Unbilden des Wetters bieten. Im Fall einer unfreiwilligen Obdachlosigkeit wird den Betroffenen insofern durch die zuständige Behörde eine Unterkunftsmöglichkeit zugewiesen. Eine Verpflichtung, die Unterkunft tatsachlich in Anspruch zu nehmen, besteht dabei seitens der/des Betroffenen nicht. Nimmt die/der Betroffene die ihr/ihm zugewiesene Unterkunft nicht an, ist sie/er formal gesehen nicht mehr unfreiwillig obdachlos und ein ordnungsrechtlicher Handlungsbedarf ist nicht mehr gegeben. Denn die Entscheidung des Einzelnen , Tag und Nacht im Freien leben zu wollen (freiwillig Obdachlosigkeit) ist Ausdruck des verfassungsrechtlich geschützten Rechtes auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit gemäß Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG. Das Selbstbestimmungsrecht des einzelnen Menschen verbietet es in diesem Fall den staatlichen Organen, der/dem Einzelnen Hilfe gegen ihren/seinen Willen aufzuzwingen . Von einer freiwilligen Obdachlosigkeit kann hingegen nicht mehr gesprochen werden, wenn die Selbstbestimmung der/des einzelnen Betroffenen wegen Hilflosigkeit oder Desorientierung nicht mehr gegeben ist. Kann die/der Betroffene die Tragweite ihres/seines Handelns nicht mehr erkennen oder befindet sie/er sich in einem die freie Willensbildung ausschließenden Zustand und droht eine unmittelbare Gefahr für das Recht auf Leben oder die körperliche Unversehrtheit besteht eine Pflicht zum Eingreifen der staatlichen Organe zum Schutz der Rechte der/des Betroffenen. Die oder der Betroffene ist in diesem Fall zum eigenen Schutz von den zuständigen Stellen zur unmittelbaren Abwendung der Gefahr für Leib und Leben in Gewahrsam zu nehmen. Eine unterlassene Hilfeleistung i. S. d. § 323 c StGB kann nach Kenntnis des Senates aufgrund der bestehenden Systematik der Wohnungslosenhilfe grundsätzlich nicht vorliegen. 10. Welche Bedeutung hat das ASOG bei der Übernachtung in Parks oder leerstehenden Gebäuden, d.h. inwieweit lässt das ASOG wildes Campen im öffentlichen Raum zu und wo werden Grenzen gezogen? Zu 10.: Nach dem Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz (ASOG) können die zuständigen Ordnungsbehörden oder die Polizei gegen wildes Campen im öffentlichen Raum vorgehen, soweit dies zur Abwehr einer im Einzelfall bestehenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung erforderlich ist. Die Gefahr kann sich insbesondere aus dem Verstoß gegen Normen der einschlägigen Fachgesetze (z. B. Grünanlagengesetz oder Straßengesetz) ergeben. Im Übrigen können Ordnungsbehörden und Polizei die notwendigen Maßnahmen ergreifen , soweit eine konkrete Gefahr für Leib oder Leben der Betroffenen besteht. Abgeordnetenhaus Berlin – 18. Wahlperiode Drucksache 18 / 10 083 3 11. Weshalb werden bei dem Campieren in Parks und Grünflächen nicht Platzverweisungen nach § 29 ASOG ausgesprochen und durchgesetzt? Zu 11.: Die zuständigen Ordnungsbehörden oder die Polizei prüfen anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls , welche Maßnahmen zur Abwehr der festgestellten Gefahr geeignet und erforderlich sind und ob diese Maßnahmen in Abwägung mit der Schwere des drohenden oder bereits eingetretenen Schadens verhältnismäßig erscheinen. Berlin, den 09. Dezember 2016 In Vertretung Alexander Fischer _____________________________ Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 12. Dez. 2016)