Drucksache 18 / 10 499 Schriftliche Anfrage 18. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Philipp Bertram (LINKE) vom 20. Februar 2017 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 21. Februar 2017) und Antwort Obdachlosigkeit trotz Verantwortung? Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: 1. Wie bewertet der Senat, dass das Bezirksamt Mitte Geflüchteten, die ein Hausverbot in ihrer Unterkunft bekommen haben, eine Vermittlung in eine alternative Einrichtung verweigert und sie so bewusst in die Obdachlosigkeit schickt? 2. Welche Gründe sind dem Senat für diese Verfahrensweise bekannt? 3. Auf welcher Rechtsgrundlage erfolgt diese Verfahrensweise ? Zu 1. bis 3.: Im Rahmen der Unterbringung von Obdachlosen wird zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Obdachlosigkeit unterschieden. Von einer „freiwilligen Obdachlosigkeit“ wird dann ausgegangen, wenn die Entscheidung der/des Einzelnen zu Grunde liegt, Tag und Nacht im Freien leben zu wollen. Diese Entscheidung ist – als Ausdruck des verfassungsrechtlich geschützten Rechtes auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit gemäß Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) – behördlich zu respektieren. Das Selbstbestimmungsrecht des einzelnen Menschen verbietet es in diesem Fall den staatlichen Organen, der/dem Einzelnen Hilfe gegen ihren /seinen Willen aufzuzwingen. Daher begründet grundsätzlich nur die unfreiwillige Obdachlosigkeit die sachliche Zuständigkeit der Polizeiund Ordnungsbehörden, Maßnahmen zur Vermeidung bzw. Beseitigung der Obdachlosigkeit durchzuführen. Ziel dieser Maßnahmen ist die Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit, zur der in ihrer individualbezogenen Schutzrichtung auch die Unverletzlichkeit der subjektiven Rechte und Rechtsgüter der/des Einzelnen gehören. Zu diesen Rechten gehört insbesondere auch das Recht auf Leben und die körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 GG. In Notlagen besteht daher die Pflicht des Staates zur Erhaltung der notwendigen Lebensbedingungen die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen . Mit Blick auf die Obdachlosigkeit ist der Staat insoweit verpflichtet Räume zur Verfügung zu stellen, die Schutz vor den Unbilden des Wetters bieten. Im Fall einer unfreiwilligen Obdachlosigkeit muss der oder dem Betroffenen durch die zuständige Behörde aufgrund der Bestimmungen § 17 Absatz 1 Allgemeines Sicherheits- und Ordnungsgesetz (ASOG) i. V. m. Nr.19 Zuständigkeitskatalog Ordnungsaufgaben (ZustKatOrd) eine Unterkunftsmöglichkeit angeboten und zugewiesen werden. Nicht abschließend rechtlich geklärt ist die hier betroffene Fragestellung, ob das bewusste Herbeiführen eines Hausverbotes durch einen beabsichtigten Verstoß gegen die Hausregeln mit einer freiwilligen Obdachlosigkeit gleichzusetzen ist. Unter dem Gesichtspunkt, dass die Unterbringung der Abwehr einer Gefahr für die körperliche Unversehrtheit und des Lebens dient, vertritt der Senat die Auffassung, dass bei einem derartigen Sachverhalt von einer freiwilligen Obdachlosigkeit nur in Ausnahmefällen ausgegangen werden kann und insbesondere die Voraussetzungen für ein Hausverbot unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit stets sorgfältig geprüft und mit alternativen Optionen – wie etwa der Verlegung in eine andere Einrichtung – abgewogen werden sollten. Inwiefern ein solcher Ausnahmefall geben ist, ist anhand der konkreten Umstände des jeweiligen Einzelfalles zu beurteilen. Eine pauschale Bewertung der Verfahrensweisen der Bezirke bei der Wahrnehmung dieser bezirkseigenen Aufgaben ohne Fachaufsicht ist insoweit nicht möglich. Abgeordnetenhaus Berlin – 18. Wahlperiode Drucksache 18 / 10 499 2 4. Wie bewertet der Senat die Tatsache, dass das Bezirksamt Mitte als Erklärung den Betroffenen ohne Einzelfallprüfung unterstellt, sie hätten ihr Hausverbot mutwillig herbeigeführt und damit ihr Anrecht auf Unterbringung /Obdach verwirkt, obwohl es für das Erteilen eines Hausverbotes unterschiedliche Gründe geben kann? Zu 4.: Inwieweit Maßnahmen im Einzelfall geboten bzw. erforderlich sind, obliegt stets einer umfassenden Würdigung des Einzelfalls. Der Bezirk Mitte teilt mit, dass er jeden Einzelfall prüft und nach Aktenlage entscheidet. 5. Welche weiteren Vorfälle dieser Art sind dem Senat aus anderen Bezirken bekannt (bitte nach Bezirken aufschlüsseln )? Zu 5.: Eine gesonderte Erhebung liegt dem Berliner Senat nicht vor. 6. Welche Maßnahmen wird der Senat ergreifen, um Obdachlosigkeit von Geflüchteten, die auf diese Weise entsteht, in Zukunft zu verhindern? Zu 6.: Die Versorgung von Geflüchteten, die im Ergebnis eines erfolgreich abgeschlossenen Asylverfahrens bleibeberechtigt sind, mit einer Unterkunft obliegt den für die Leistungsgewährung nach dem Zweiten bzw. Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB II bzw. SGB XII) zuständigen Behörden. Der Senat verkennt allerdings nicht, dass auf Grund der hohen Nachfrage nach geeigneten Unterkunftsplätzen sowie Wohnungen insoweit Versorgungsengpässe bestehen, die die Leistungsbehörden nicht zu vertreten haben. Daher ist das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) bereit, Geflüchteten den Verbleib in einer Gemeinschaftsunterkunft auch nach Wechsel der leistungsrechtlichen Grundlage vom Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) in das SGB II oder SGB XII (sog. Statuswechsel) zu ermöglichen, sofern andernfalls Obdachlosigkeit eintreten würde und die Unterbringungskosten vom zuständigen dezentralen Leistungsträger übernommen werden. Davon unberührt obliegt die Zuständigkeit für Ordnungsaufgaben bei Obdachlosigkeit – auch von statusgewechselten Geflüchteten – gemäß § 2 ASOG i. V. m. Nr. 19 Absatz 1 ZustKatOrd den Bezirken. Für eine bedarfsgerechte Unterbringung von Wohnungslosen unabhängig von ihren aufenthalts- und leistungsrechtlichen Verhältnissen strebt der Senat an, die Angebote der Wohnungslosenhilfe in Abstimmung mit den Bezirken gesamtstädtisch zu steuern. Berlin, den 06. März 2017 In Vertretung Alexander F i s c h e r _____________________________ Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 08. Mrz. 2017)