Drucksache 18 / 11 805 Schriftliche Anfrage 18. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Dr. Michail Nelken (LINKE) vom 12. Juli 2017 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 14. Juli 2017) zum Thema: Milieuschutz ohne Bestandsschutz in Pankow und Antwort vom 31. Juli 2017 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 02. Aug. 2017) Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. 1 Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen Herrn Abgeordneten Dr. Michail Nelken (Linke) über den Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin über Senatskanzlei - G Sen - A n t w o r t auf die Schriftliche Anfrage Nr. 18/11805 vom 12. Juli 2017 über Milieuschutz ohne Bestandsschutz in Pankow Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: Frage 1: Was für ein Verwaltungsakt ist die „Aufhebung des Bestandsschutzes“, den das Bezirksamt Pankow zur Begründung einer fragwürdigen erhaltungsrechtlichen Genehmigung für die Modernisierung des Hauses Immanuelkirchstraße 35 anführt? Auf welche baurechtlichen Vorschriften stützt sich dieser Verwaltungsakt und welche Rechtsmittel können von wem gegen diesen eingelegt werden? Antwort zu 1: Einen eigenen Verwaltungsakt „Aufhebung des Bestandsschutzes“ gibt es nicht. Insofern gibt es auch keine Rechtsmittel, die eingelegt werden können. Bestandsschutz im bauordnungsrechtlichen Sinne bedeutet, dass der Bauherr oder Grundstückseigentümer eines rechtmäßig bestehenden Gebäudes davor geschützt ist, das Gebäude an sich änderndes Recht anpassen zu müssen. Voraussetzung ist allerdings, dass der Bestand legal ist und tatsächlich noch besteht. Im Rahmen des Bestandsschutzes sind alle Maßnahmen zur Erhaltung eines funktionsfähigen Zustandes bestehender Anlagen, auch Instandsetzungs-, Instandhaltungs- und Reparaturarbeiten möglich. Wesentliche Veränderungen an der baulichen Anlage bewirken den Verlust des Bestandsschutzes. Indizien für den Verlust des Bestandsschutzes können sein: Standfestigkeit berührt, Aufwand wie Neubau, Bausubstanz ausgetauscht, Bauvolumen erheblich ausgeweitet. 2 Frage 2: Warum kann ein Wohngebäude seinen bauordnungsrechtlichen „Bestandsschutz“ für das Milieuschutzrechtliche Genehmigungsverfahren dadurch verlieren, dass ein Bauherr weitreichende Umbauten beantragt hat? Frage 3: Ist es nicht Ziel des sozialen Erhaltungsrechtes, bauliche Veränderungen von Wohngebäuden zu begrenzen? Und sind damit Veränderungen, die den Bestandsschutz eines Wohngebäudes aushebeln, per se in Erhaltungsgebieten nicht genehmigungsfähig? Antwort zu 2 und 3: Jeder Eigentümer genießt im Rahmen des geltenden Baurechts Baufreiheit. Schranken ergeben sich in den sozialen Erhaltungsgebieten gemäß § 172 Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 Baugesetzbuch (BauGB), wenn dies für die Erhaltung der Zusammensetzung der Wohnbevölkerung notwendig ist. Der Rückbau, die Änderung oder die Nutzungsänderung von Gebäuden, die ganz oder teilweise zu Wohnzwecken genutzt werden, stehen daher unter einem besonderen Genehmigungsvorbehalt. Bauliche Änderungen sind in den sozialen Erhaltungsgebieten nicht generell verboten. So ist gemäß § 172 Absatz 4 Satz 3 Nummer 1 BauGB die Genehmigung zu erteilen, wenn die Änderung der baulichen Anlage der Herstellung des zeitgemäßen Ausstattungsstandards einer durchschnittlichen Wohnung unter Berücksichtigung der bauordnungsrechtlichen Mindestanforderung dient. Solche erhaltungsrechtlich zulässigen Änderungen können unter Umständen zur Aufhebung des Bestandsschutzes führen. In diesem Fall sind die jeweils zum Zeitpunkt der Erteilung der Baugenehmigung geltenden bauordnungsrechtlichen Bestimmungen für die baulichen Veränderungen anzuwenden. Nach Angabe des Bezirksamtes Pankow liegt eine solche Fallgestaltung vor. Das Objekt Immanuelkirchstraße 35 hat im Bestand Wohnungen ohne Bäder, Außentoiletten, Ofenheizungen und ist in einem baulich desolaten Zustand. Für den Eigentümer ergibt sich aus § 172 Absatz 4 Satz 3 Nummer 1 BauGB ein Genehmigungsanspruch für den erstmaligen Badeinbau in 38 Wohnungen. Aufgrund der sich daraus ergebenden umfangreichen Eingriffe in die Substanz konnte kein Bestandsschutz geltend gemacht werden, so dass die Planung so erfolgen musste, dass das öffentliche Recht in Gänze eingehalten wird. Frage 4: Ist dem Senat der Fall Immanuelkirchstraße 35 im Milieuschutzgebiet Winsviertel bekannt? Hat das Bezirksamt Pankow die für Bauen und Wohnen zuständige Senatsverwaltung in diesem Fall in irgendeiner Weise informiert oder gar konsultiert und mit welchem Ergebnis? Antwort zu 4: Nein, der Fall war der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen nicht bekannt. Die Bezirke entscheiden über erhaltungsrechtliche Genehmigungen. Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen hat keine Fachaufsicht. Zudem lag kein Widerspruch zum bauaufsichtlichen Verfahren vor. 3 Frage 5: Wie bewertet der Senat den Vorgang, dass das Bezirksamt Pankow auf Grund des sehr großen Umfanges der beantragten Sanierungsmaßnahmen das Erhaltungsrecht nicht mehr für anwendbar erklärte, da der bauordnungsrechtliche Bestandsschutz aufgrund der weitreichenden Antragstellung aufgehoben sei? Antwort zu 5: Auf Basis der Angaben des Bezirksamtes wird eingeschätzt, dass das Erhaltungsrecht gemäß § 172 Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 BauGB rechtskonform angewendet wurde. Die erhaltungsrechtlich zulässige Veränderung der Substanz zog die Aufhebung des Bestandsschutzes nach sich. Die Aufhebung war nach den bauordnungsrechtlichen Maßstäben im Rahmen der bauordnungsrechtlichen Genehmigung zu beurteilen. Frage 6: Welchen Sinn macht nach Ansicht des Senats die soziale Erhaltungssatzung, wenn Baumaßnahmen genehmigt werden, die zur völligen Auflösung der bisherigen Wohnungsstruktur führen und zur Kündigung fast aller Mieterinnen und Mieter mit Verweis auf die behördliche Genehmigung zur Liquidierung ihrer Wohnungen, wie dies in der Immanuelkirchstraße 35 geschehen ist? Antwort zu Frage 6: Das soziale Erhaltungsrecht gemäß § 172 BauGB regelt neben den Beschränkungen für das Eigentum auch Tatbestände, für die ein Eigentümer oder Bauherr einen Genehmigungsanspruch hat. Demnach ist es bundesgesetzliches Ziel, dass sich Substandards für das Wohnen nicht verfestigen, sondern die Herstellung eines durchschnittlichen zeitgemäßen Ausstattungsstandards angestrebt wird. Um das zu erreichen, sind in einzelnen Fällen auch umfassende Eingriffe in die Substanz notwendig. Sie können auch mit besonderen Lasten für die jeweiligen Mieterinnen und Mieter verbunden sein, für die ein Ausgleich gefunden werden sollte. Das Instrument des sozialen Erhaltungsrechtes wird damit nicht in Frage gestellt. Frage 7: Sieht der Senat hier einen Präzedenzfall, der Konsequenzen für die behördliche Genehmigungspraxis in Sachen Milieuschutz haben kann oder sollte? Antwort zu 7: Nein, grundsätzlich ist im sozialen Erhaltungsrecht durch die Bezirke immer der Einzelfall zu prüfen. Frage 8: Sieht der Senat im Fall der Immanuelkirchstraße 35 eine Fehlentscheidung oder ein systematisches Behördenversagen? Wenn ja, wird er eine dienstrechtliche Untersuchung durchführen, um Fehlverhalten oder Verfehlungen ggf. aufzudecken und zu ahnden? Antwort zu 8: Nein, auf Basis der vom Bezirksamt Pankow gemachten Angaben ist eine Fehlentscheidung nicht erkennbar. 4 Frage 9: Wird der Senat darüber hinaus die auffällige Genehmigungspraxis in Pankow grundsätzlich auf den Prüfstand stellen und auf eine Vereinheitlichung der Genehmigungskriterien und der Genehmigungspraxis in den Berliner Milieuschutzgebieten hinwirken? Antwort zu 9: Es liegen keine Anhaltspunkte für eine auffällige Genehmigungspraxis in Pankow vor, auch im Vergleich mit anderen Bezirken. Eine gesonderte Prüfung ist nicht erforderlich. Eine einheitliche Auslegung und Gegenehmigungspraxis im Bereich des sozialen Erhaltungsrechts in den Bezirken wird von Seiten des Senats begrüßt und unterstützt. So werden die Bezirke von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen bei der Anwendung der Umwandlungsverordnung in den sozialen Erhaltungsgebieten in einem seit dem Jahr 2015 laufenden Prozess begleitet. Die Bezirke tauschen sich zudem regelmäßig in der Arbeitsgruppe „Soziale Erhaltungsverordnungen“ zu Fragen der Genehmigungspraxis aus. Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen ist in dieser Arbeitsgruppe vertreten und unterstützt eine möglichst einheitliche Anwendung des sozialen Erhaltungsrechts in Berlin. Berlin, den 31.07.2017 Sebastian Scheel ................................ Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen S18-11805 S18-11805