Drucksache 18 / 12 595 Schriftliche Anfrage 18. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Thomas Seerig (FDP) vom 01. November 2017 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 01. November 2017) zum Thema: Psychatrische Hilfe und Antwort vom 17. November 2017 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 21. Nov. 2017) Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung Herrn Abgeordneten Thomas Seerig (FDP) über den Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin über Senatskanzlei - G Sen - A n t w o r t auf die Schriftliche Anfrage Nr. 18/12595 vom 01. November 2017 über Psychiatrische Hilfe ___________________________________________________________________ Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: Bei der Beantwortung der folgenden Fragen wird die Definition der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe für den Begriff „Obdachlosigkeit“ und „Wohnungslosigkeit “ verwendet, die wie folgt lautet: „Als obdachlos gelten Menschen, die auf der Straße leben, an öffentlichen Plätzen wohnen, ohne eine Unterkunft, die sich in Verschlägen, Parks oder unter Brücken etc. aufhalten. Obdachlos sind aber auch Menschen in Notunterkünften, die keinen festen Wohnsitz haben und in Wärmestuben, Notschlafstellen oder anderen niederschwelligen Einrichtungen übernachten. Nicht als obdachlos, sondern als wohnungslos gelten Menschen, die in Einrichtungen wohnen, in denen die Aufenthaltsdauer begrenzt ist und in denen keine Dauerwohnplätze zur Verfügung stehen, wie z.B. Übergangswohnheime, Asyle und Herbergen, aber auch Übergangswohnungen. Auch Frauen und Kinder, die wegen häuslicher Gewalt ihre Wohnung verlassen haben und kurz- bis mittelfristig in einer Schutzeinrichtung beherbergt sind, wie z.B. in Frauenhäusern , sind wohnungslos. Wohnungslos sind auch Immigrantinnen und Immigranten und Asylwerberinnen und Asylbewerber, die in Auffangstellen, Lagern, Heimen oder Herbergen wohnen, bis ihr Aufenthaltsstatus geklärt ist sowie Ausländerinnen und Ausländer mit befristeter Aufenthalts - und Arbeitserlaubnis, die in Gastarbeiterquartieren leben. Letztlich gelten auch Menschen, die in Dauereinrichtungen für Wohnungslose wohnen, oder sich in ambulanter Wohnbetreuung in Einzelwohnungen befinden, als wohnungslos .“ - 2 - 1. Wie hoch schätzt der Senat den Anteil der Obdachlosen in der Stadt, der behandlungsbedürftige psychische Probleme aufweist? Zu 1.: Für das Land Berlin liegen keine spezifischen Studien zum Anteil von obdach- und wohnungslosen Menschen mit behandlungsbedürftigen psychischen Problemen vor. Zwei aktuelle Übersichtsarbeiten aus dem Deutschen Ärzteblatt (G. 114, Heft 40, 06.10.2017) beschäftigen sich grundsätzlich mit dem Thema „Prävalenzen psychischer Erkrankungen bei wohnungslosen Menschen in Deutschland“ (Schreiter et al.) sowie „Medizinische Versorgung von wohnungslosen Menschen“ (Kadusukiewicz et al.). Die Studie von Schreiter et al. weist bei Obdachlosen/Wohnungslosen einen hohen Anteil mit Suchterkrankungen und /oder psychischen Erkrankungen und Störungen nach (insgesamt 77 % versus 30 % in der Allgemeinbevölkerung (Deutscher Erwachsenen- Gesundheitssurvey)). Die häufigsten Störungen sind dabei substanzbezogene Störungen (61 %, v.a. Alkoholabhängigkeit), gefolgt von Angststörungen (18 %), Depressionen (12 %) und psychotischen Erkrankungen (8 %). Die Autoren bemerken ferner, dass die in die Analyse einbezogenen Studien sehr heterogen sind und daher die Daten nur eingeschränkt aussagefähig sind. Ferner finden sich körperliche Erkrankungen mit somatischem Behandlungsbedarf bei rd. 65 % der untersuchten Obdachlosen/Wohnungslosen. Diese Feststellungen bestätigen die seit vielen Jahrzehnten bekannten und beschriebenen Lebensumstände obdachloser /wohnungsloser Menschen. In den Steuerungsgremien Psychiatrie, die für Empfehlungen hinsichtlich der Betreuungsangebote für die Eingliederungshilfe zuständig sind, sind rd. 20 % (bei den Klienten mit Suchterkrankungen rd. 30 %) vorher wohnungslos. 2. Wer ist für die Behandlung und Betreuung von Obdachlosen mit behandlungsbedürftigen psychischen Problemen zuständig? Zu 2.: Diagnostik, Behandlung und Betreuung – sowohl für psychische als auch für somatische behandlungsbedürftige Erkrankungen – erfolgt dem Grundsatz nach im Regelversorgungssystem . Obdachlose/Wohnungslose Menschen nehmen allerdings oftmals nur sehr niedrigschwellige Angebote der Wohnungslosenhilfe in Anspruch, da der Zugang zu relativ höherschwelligen Hilfen (z.B. Suchthilfesystem, psychiatrisches (aber auch medizinisches) Hilfe- und Versorgungssystem) für sie äußerst schwierig und mit z.T. erheblichen Vorbehalten gegenüber dem Versorgungssystem verbunden ist. Die bereits erwähnte Studie von Kadusukiewicz et al. zeigt entsprechend auch, dass selbst in niedrigstschwellig arbeitenden Ambulanzen für Wohnungslose nur ca. 15 % der Patientinnen und Patienten eine psychische Erkrankung haben, was in einem deutlichen Kontrast zu der Gesamthäufigkeit dieser Störungen in dieser Personengruppe steht. Suchtmittelgebrauch und fehlende Krankheitseinsicht erschweren ferner häufig die Aufnahme in die Suchtkrankenhilfe oder das psychiatrische Hilfe- und Versorgungssystem, bzw. schließen diese aus. Dieser Tatbestand hat sich auch durch eine Vielzahl von niedrigschwelligen Angeboten, die in den Hilfesystemen entstanden sind, nicht wesentlich verändert. Wie unter 1. angeführt, wird jedoch z.B. durch die niedrigschwellige Öffnung bereits ein erheblicher und in Bezug auf die Allgemeinbevölkerung überproportionaler Anteil an - 3 - Obdachlosen/Wohnungslosen in die Betreuungsangebote der Eingliederungshilfe gesteuert . Neben dem Regelsystem beschäftigen sich folgerichtig bereits verschiedene bei der Sozialverwaltung verortete Projekte mit der medizinischen/gesundheitlichen Versorgung von obdachlosen und wohnungslosen Menschen. Die nachfolgende Tabelle gibt hierzu einen Überblick. Trägername - Projektbezeichnung Ambulanz für Obdachlose, Lehrterstraße (Träger: Berliner Stadtmission) Ambulanz für Wohnungslose, Jebenstraße (Träger: Caritasverband Berlin) AWO Kiez-Café, Petersburger Straße (Träger: Arbeiterwohlfahr Berlin Spree-Wuhle e.V.) Gesundheitszentrum „Jenny de la Torre Stiftung“, Pflugstraße (Träger: Jenny de la Torre Stiftung) Malteser Migranten Medizin, Aachener Straße (Träger: Malteser Hilfsdienst e.V.) Caritasverband für das Erzbistum Berlin e.V. - Arztmobil GEBEWO pro GmbH - Ambulanz HVD Berlin-Brandenburg e. V - Ambulanz Der Schlüssel zur Heranführung von Obdachlosen an die medizinische (inklusive psychiatrische ) Diagnostik, Behandlung und Betreuung ist aufgrund der besonderen Spezifika bei Obdachlosigkeit primär die niedrigstschwellige Sozialarbeit, um das Vertrauen der Betroffenen zu gewinnen und Hemmschwellen gegenüber der Regelversorgung zu beseitigen. Gleichzeitig muss das Regelversorgungssystem anhaltend für die besonderen Bedarfe dieser Personengruppe sensibilisiert werden. Grundsätzlich muss der Fokus aber auch auf die Vermeidung von Wohnungslosigkeit ausgerichtet sein, welche weit über einen gesundheitspolitischen Anteil hinaus reicht und interdisziplinäre Ansätze erfordert: So gilt es, Wohnungspolitik als essentiellen Teil der Daseinsvorsorge in engem Zusammenhang mit der Sozial- und auch Gesundheitspolitik zu verstehen. 3. Welche Sach- und Personalmittel sind dafür im Berliner Gesamthaushalt vorgesehen? 4. Inwieweit ist dies auch künftig ausreichend? Zu 3. und 4.: Ein Gesamtüberblick über alle zu dieser Problematik in den Einzelplänen der Hauptverwaltungen und in den Bezirkshaushalten eingestellten Mittel liegt dem Senat nicht vor. Der künftige Bedarf wird davon abhängen, wie gut es gelingt, den beschriebenen Personenkreis durch niedrigschwellige Angebote der Wohnungslosenhilfe mit vertrauensbildenden Maßnahmen an das Regelsystem heranzuführen und in dieses zu integrieren . - 4 - 5. Wie hoch schätzt der Senat den Anteil der Flüchtlinge – vor und nach einer Statuswandlung - in der Stadt, der behandlungsbedürftige psychische Probleme aufweist? Zu 5.: Es liegen keine umfassenden empirischen Daten im Land Berlin dazu vor, wie hoch der Anteil behandlungsbedürftiger Erkrankungen an allen psychischen Erkrankungen ist. Denn das Vorliegen einer psychischen Erkrankung impliziert nicht immer einen Behandlungsbedarf . Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde hat im März 2016 komprimiert die folgenden Daten veröffentlicht (Positionspapier Psychosoziale Versorgung von Flüchtlingen verbessern, DGPPN, 22.03.2016): „Die Erfahrungen in Krisengebieten und auf der Flucht sowie deren Folgen und die Stressoren nach der Migration im Aufnahmeland können bei den Betroffenen neben einer Anpassungsstörung auch zu chronischen Störungsbildern wie Depressionen und Angststörungen führen (Lindert et al., 2009; Hansson et al. 2012). So berichten Lindert et al. (2009), dass unter Flüchtlingen und Asylbewerbern bei 44,5 % eine Depression, bei 40 % eine Angststörung und bei 36 % eine PTBS zu finden sind, während Gerritsen et al. (2006) Depression bei 56 %, Angststörung bei 56 % und PTBS bei 21 % gefunden haben. Demgegenüber haben Heeren et al. (2014) eine Rate an Depressionen bei 42– 85 %, eine Angststörung bei 39–63 % und eine PTBS bei 5–54 % diagnostiziert. Dagegen weisen andere Studien darauf hin, dass die Rate der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) bei Flüchtlingen und Asylbewerbern im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung um das zehnfache erhöht ist (Fazel et al. 2005; Crumlish et al. 2010). Aus Deutschland stammt die kürzlich veröffentlichte Studie von Richter et al. (2015), in der 2012 in einer zentralen Aufnahmeeinrichtung in Bayern bei 63,6 % der Asylbewerber eine oder mehrere psychische Diagnosen gestellt wurden. Die häufigste Diagnose war die Posttraumatische Belastungsstörung (F43.1) mit 32,2 %, gefolgt von depressiven oder rezidivierenden depressiven Episoden (F32, F33), 21,9 % Anpassungsstörung (F43, 2) und chronischer Insomnie (F51.0). Suizidgedanken wurden bei 26 % der Selbstzuweiser, aber nur bei 6% in der Zufallsstichprobe exploriert.“ Die Behandlungsstatistik der von der Charité betriebenen und vom Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) finanzierten temporären zentralen Clearingstelle weist nur einen kleinen, partiellen Ausschnitt auf. Sie kann nicht zur Beantwortung einer Gesamtanzahl behandlungsbedürftiger Flüchtlinge dienen. In dieser Statistik sind auch durch Kurzintervention genesene bzw. nicht weiter behandlungsbedürftige Geflüchtete erfasst: - 5 - 6. Wer ist für die Behandlung und Betreuung von Flüchtlingen - vor und nach einer Statuswandlung - mit behandlungsbedürftigen psychischen Problemen zuständig? Zu 6.: Im leistungsrechtlichen Sinne befinden sich geflüchtete Personen, die einen Asylantrag gestellt haben, vor dem sog. aufenthaltsrechtlichen „Statuswandel“ im Leistungsbezug nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG). Dieser Personenkreis ist nicht gesetzlich krankenversichert. Ihre Krankenbehandlung wird nach §§ 4, 6 AsylbLG i. V. m. 264 Abs. 1 bzw. 2 Fünftes Buch Sozialgesetz (SGB V) sichergestellt. Nach dem sog. „Statuswandel“ sind die Personen, sofern sie hilfebedürftig und erwerbsfähig sind bzw. deren Familienangehörige, leistungsberechtigt nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) und damit nach § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V gesetzlich pflichtversichert in der gesetzlichen Krankenversicherung. Zuständig für die psychische, psychosoziale und psychiatrische Betreuung bzw. Behandlung sind niedergelassene Fachärztinnen und Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie , Neurologinnen und Neurologen, Psychologinnen und Psychologen, Behandlungszentren , Krankenhäuser. Darüber hinaus ist es Aufgabe des Sozialdiensts des LAF, der psychosozialen Kontaktund Beratungsstellen und der Betreiber der Flüchtlingsunterkünfte, besonders schutzbedürftige Personen zu identifizieren und an die zuständigen Fachdienste zu vermitteln. Hierzu gehören auch Menschen mit psychischen Störungen. Insbesondere für Menschen mit Traumata ist es nicht leicht, sich anderen Menschen öffnen. Viele klagen über verschiedene Symptomatiken wie Aggressionen, Schlafstörungen, Weinen oder Unruhe . Von der Möglichkeit, psychosoziale, psychiatrische oder psychologische Hilfs- und Unterstützungsangebote in Anspruch zu nehmen, machen die betroffenen Personen nicht immer Gebrauch. Im Übrigen wird auf die Sozialpsychiatrischen Dienste in den Bezirken verwiesen. Diese bieten Hilfe und Unterstützung für erwachsene Menschen mit einer psychischen Erkrankung , einer Suchterkrankung oder geistigen Behinderung an. Beratung, Hilfevermittlung und Krisenintervention werden in den jeweiligen Dienststellen oder bei Hausbesuchen für die Betroffenen selbst, für Angehörige und auch für das soziale Umfeld angeboten. - 6 - Schließlich wird die bereits erwähnte vom Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten finanzierte und von der Charité geführte zentrale psychiatrische Clearingstelle seit Februar 2016 als temporäre Sofortmaßnahme für alle Geflüchteten, unabhängig vom Aufenthaltsstatus , betrieben. Die Aufgabe bei Beginn ihrer Konzeption beinhaltete die Schaffung einer schnellen, niedrigschwelligen Kontaktmöglichkeit zum professionellen psychiatrischen Hilfesystem sowie die Kurzintervention im Krisenfall. Die dort gesammelten Erfahrungen – insbesondere auch die Arbeit mit Sprachmittlern und Dolmetschern , bzw. muttersprachlichen Ärztinnen und Ärzten stellen eine wichtige Bedarfsund Informationsgrundlage für das Regelversorgungssystem nach SGB V dar. Wichtig ist anzumerken, dass grundsätzlich nicht beabsichtigt ist, mit Einrichtungen wie der Zentralen Clearingstelle Parallelstrukturen zum bereits bestehenden Regelversorgungssystem zu schaffen oder diese gar perspektivisch in eine regelhafte Finanzierung der Senatsgesundheitsverwaltung zu überführen. Vielmehr gilt es das bereits bestehende und in weiten Teilen gut funktionierende Regelversorgungssystem nach SGB V z.B. durch Fortbildungen nachhaltig zu befähigen, sich auch um die Geflüchteten (und später Bürgerinnen und Bürger mit Migrationshintergrund) vollumfänglich zu kümmern. 7. Welche Sach- und Personalmittel sind dafür im Berliner Gesamthaushalt vorgesehen? Zu 7.: Für 2017 stehen für die medizinische Versorgung (inklusive der psychiatrischen Versorgung ) von Geflüchteten rd. 20 Mio. € zur Verfügung. 8. Inwieweit ist dies auch künftig ausreichend? Zu 8.: Der künftige finanzielle Bedarf wird von zahlreichen, teils exogenen Faktoren bestimmt: Die Anzahl von Neuzugängen von Flüchtlingen, auch deren Dimension an belastenden Faktoren aus den Herkunftsländern und auf dem Fluchtweg, ist unserseits nicht vorhersehbar . Die Integration Geflüchteter nach dem sog. aufenthaltsrechtlichen „Statuswandel“ ist gleichbedeutend mit dem zügigen und möglichst weitgehend friktionslosen Zugang in das gesundheitliche Regelsystem. Dazu bedarf es zum einen der Befähigung der Geflüchteten selbst (Förderung der Gesundheits(system)kompetenz), u.a. durch Integrationslotsen , und der interkulturellen Befähigung und Öffnung der Akteure des Regelversorgungssystems zum anderen. Berlin, den 17. November 2017 In Vertretung Boris Velter Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung S18-12595 S18-12595