Drucksache 18 / 12 670 Schriftliche Anfrage 18. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Paul Fresdorf (FDP) vom 14. November 2017 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 14. November 2017) zum Thema: Vorschulische Pflichtuntersuchung und Antwort vom 29. November 2017 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 30. Nov. 2017) Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung Herrn Abgeordneten Paul Fresdorf (FDP) über den Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin über Senatskanzlei - G Sen - A n t w o r t auf die Schriftliche Anfrage Nr. 18/12670 vom 14. November 2017 über Vorschulische Pflichtuntersuchung ________________________________________________________________________ Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: 1. Auf der Website der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie steht zur schulärztlichen Eingangsuntersuchung : „Die Durchführung der schulärztlichen Untersuchung ist gesetzlich vorgeschrieben und Voraussetzung für die Aufnahme Ihres Kindes in die Schule. Die Einschulungsuntersuchung beinhaltet die körperliche Untersuchung sowie eine Überprüfung der Hör- und Sehfähigkeit. Der Schwerpunkt der schulärztlichen Untersuchung liegt auf einer medizinischen Beurteilung der sprachlichen, motorischen und geistigen Entwicklung Ihres Kindes. Falls erforderlich, können Ihnen weitergehende Untersuchungen zur Abklärung unklarer Befunde oder Möglichkeiten der familiären bzw. therapeutischen Förderung empfohlen werden.“ Aus welchen Gründen wurde laut „Schul-Informationen, Praxisinformationen für Berliner Schulleitungen“ von September/Oktober 2017, S.5, die Grundschulverordnung im Hinblick auf die schulärztliche Eingangsuntersuchung dahingehend angepasst, „auf eine schulärztliche Eingangsuntersuchung bei zurückgestellten, bereits im Vorjahr untersuchten, gesundheitlich unauffälligen Kindern“ zu verzichten ? Zu 1.: Bei Kindern, deren Eltern eine Zurückstellung wünschen, bei denen jedoch aus schulärztlicher Sicht nichts gegen eine Aufnahme in die Schule spricht und keine Empfehlungen zu einem schulischen oder sonderpädagogischen Förderbedarf vorliegen, kann die Schulärztin bzw. der Schularzt auf dem Vordruck (Schul 109) anmerken, dass im Falle einer durch die Schulaufsicht genehmigten Zurückstellung keine erneute schulärztliche Untersuchung im Folgejahr erforderlich wäre (§ 5 Abs. 3 Grundschulverordnung). Dies erleichtert das Verwaltungsverfahren bei der Anmeldung von im letzten Schuljahr zurückgestellten Kindern, bei denen die Untersuchungsergebnisse des KJGD keine gesundheitlichen Auffälligkeiten ergeben hatten, für die Erziehungsberechtigten und entlastet insbesondere auch den Kinder- und Jugendgesundheitsdienst. Selbstverständlich wird eine erneute Untersuchung ggf. dennoch auf Wunsch der Eltern durchgeführt, beispielsweise bei Veränderungen der Gesundheit des Kindes oder wenn sich in der Kita Hinweise ergeben haben, dass in der Schule doch Probleme auftreten könnten. - 2 - 2 2. Wie stellt der Senat ohne eine weitere schulärztliche Eingangsuntersuchung sicher, dass besagte Kinder nach einem Jahr gesundheitlich unauffällig und damit schulreif sind bzw. dann dem Entwicklungsstand für einen Schulbeginn entsprechen? Zu 2.: Zur Klarstellung sei einleitend angemerkt, dass der in Frage 1 angesprochene Verzicht auf eine zweite Untersuchung sich auf Kinder bezieht, die bereits bei der ersten Untersuchung gesundheitlich unauffällig waren und bei denen aus Sicht der untersuchenden Ärztin bzw. des untersuchenden Arztes bereits im Vorjahr nichts gegen eine Einschulung gesprochen hat. Nachfolgend wird auf Aspekte des Entwicklungsstandes von Kindern bei Schulbeginn eingegangen. In den 1950er Jahren hatten die Annahmen von Artur Kern großen Einfluss, der Schulreife als Resultat eines inneren Reifungsprozesses erklärte. Zentrales Ziel der Schuleingangsdiagnostik war es, die Passfähigkeit des Kindes für die schulischen Anforderungen zu überprüfen. Diese Vorstellung einer Schulreife, die durch innere Reifungsprozesse entsteht , wurde bereits zu Beginn der 1960er Jahre widerlegt, auch wurde in empirischen Untersuchungen die prognostische Unzuverlässigkeit der Schulreifetests nachgewiesen. Das Einschulungsalter von sechs Jahren, das im Grundschulgesetz von 1920 festgeschrieben worden war, wurde bereits ab den 1970er Jahren immer kritischer diskutiert. Heute werden die Bedeutung von Lernvorgängen beim Erwerb von Schulfähigkeit und die Bedeutung früher Lernangebote betont. Schulfähigkeit ist nicht absolut festzulegen. Sie hängt nicht nur vom Kind, sondern auch von den Lernanregungen und Anforderungen ab, die von der Schule an das Kind gestellt werden. Individualisierung des Unterrichts gehört zu den zentralen didaktisch-methodischen Prinzipien - nicht nur des Anfangsunterrichts in der Grundschule. In allen Schulstufen gilt es, jede Schülerin und jeden Schüler entsprechend ihren bzw. seinen individuellen Lernmöglichkeiten und Begabungen zu fördern und zu fordern. Auf diesen Individualisierungsanspruch reagiert die Schulanfangsphase mit der Flexibilisierung der Lernzeit (1 - 3 Jahre Verweildauer), mit individueller Förderung und mit gemeinsamem Lernen in jahrgangsgemischten oder jahrgangsbezogenen Klassen. 3. Welche Gründe gibt es für eine Rückstellung eines Kindes und wie wird ein zurückgestelltes Kind für den Schulbeginn ein Jahr später qualifiziert? Zu 3.: Entwicklungsverzögerungen zeigen sehr individuelle Ausprägungen, die im kognitiven, motorischen oder auch emotional-sozialen Bereich vorliegen können. Für die Entscheidung darüber, ob ein Kind ein weiteres Jahr vorschulischer Förderung benötigt, um bestmögliche Voraussetzungen für den Eintritt in die Schulanfangsphase zu erlangen, ist eine individuelle Betrachtung seiner emotionalen, sozialen und kognitiven Entwicklung (z. B. seiner Konzentrationsfähigkeit und Sprachkompetenz, seiner schrift- und mathematikbezogenen Vorkenntnisse) ebenso wie seiner körperlichen Entwicklung erforderlich. Im Falle einer Zurückstellung ist das Kind – analog der Schulpflicht – verpflichtet, in dem Jahr eine Kita zu besuchen. Die Kita beschreibt in ihrer fachlichen Stellungnahme den Entwicklungsstand des Kindes und die geplante Förderung. Um zu gewährleisten, dass das Kind eine regelmäßige Förderung in der Kita erhält, meldet die Kita einen unregelmäßigen Besuch, längere Fehlzeiten bzw. einen Abbruch der Förderung an das zuständige Jugendamt. Dieses informiert die regional zuständige Schulaufsicht. - 3 - 3 Die pädagogische Förderung des zurückgestellten Kindes erfolgt auf der Grundlage des Berliner Bildungsprogramms für Kitas und Kindertagespflege, das eine Fülle von Anregungen zur Gestaltung von Bildungssituationen jeder Altersstufe enthält. Die individuelle Förderung jeden Kindes ist im Bildungsverständnis verankert. Aufschluss über den jeweiligen Entwicklungsstand erhalten die Pädagoginnen und Pädagogen über Beobachtungen und Dokumentationen. Für den Bereich der sprachlichen und kommunikativen Entwicklung steht das Sprachlerntagebuch zur Verfügung, das auch Gegenstand regelmäßig stattfindender Elterngespräche ist. Darüber hinaus ist es in vielen Kindertageseinrichtungen üblich , der Gruppe der ältesten Kinder besondere Angebote zu machen, die gezielt die Kompetenzen für einen gelingenden Übergang in den Blick nehmen. Vielfältige Kooperationen zwischen Kindertageseinrichtungen und Grundschulen sind in den Einrichtungskonzeptionen und den Schulprofilen verankert. 4. Was ist mit der Beschreibung „umschriebene(n) Entwicklungsrückstände(n), die besondere schulische Unterstützung benötigen“ gemeint? Zu 4.: Im Zentrum steht das Anliegen, jedes Kind individuell zu fördern, um an seinem Leistungsvermögen und Können anzuschließen. Lebensalter und Entwicklungstand können bei jüngeren Kindern stark voneinander abweichen. Um individuell zu fördern und den Lernprozess systematisch und kontinuierlich zu diagnostizieren, wird in den ersten sechs Schulwochen die Lernausgangslage des einzelnen Kindes ermittelt (Grundschulverordnung § 7). An die Erhebung der Lernausgangslage knüpft sich eine kontinuierliche Beobachtung und Dokumentation des Lernfortschritts des einzelnen Kindes an. 5. Wer definiert die Entwicklungsrückstände bzw. Entwicklungsstände von Kindern, die mindestens 5 Jahre alt sind? Zu 5.: Bei den Einschulungsuntersuchungen in Berlin kommen landesweit einheitliche, standardisierte Verfahren zum Einsatz. Diese werden dem medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand stetig angepasst. Derzeit werden in Berlin sämtliche Tests des Verfahrens „Screening des Entwicklungsstandes bei Einschulungsuntersuchungen (S-ENS)“ sowie ausgewählte Tests des Verfahrens „Sozialpädiatrisches Entwicklungsscreening bei Schuleingangsuntersuchungen (SOPESS)“ eingesetzt. Beide Verfahren sind für Kinder im Einschulungsalter ab fünf Jahren entwickelt und an großen Stichproben von Einschulungskindern in Nordrhein-Westfalen normiert worden. Die Tests erfassen die Entwicklungsbereiche Körperkoordination, Visuomotorik (Auge-Hand-Koordination), visuelle Wahrnehmung und Informationsverarbeitung (schlussfolgerndes Denken), Mengenvorwissen (als mathematische Vorläuferfertigkeit) sowie Sprachentwicklung. Die emotional-soziale Entwicklung und die Aufmerksamkeit des Kindes werden in der Untersuchungssituation beobachtet und eingeschätzt. 6. Worauf beruhen die Bewertungskriterien der schulärztlichen Eingangsuntersuchung? - 4 - 4 Zu 6.: Die Ergebnisse der Kinder im Entwicklungsscreening werden anhand der Werte aus der Normstichprobe in „unauffällig“, „grenzwertig“ und „auffällig“ klassifiziert. In den ärztlichen Befund zum jeweiligen Entwicklungsbereich fließen weitere Beobachtungen, mögliche Vorbefunde und ggf. vertiefende Diagnostik ein. Schulische oder sonderpädagogische Förderempfehlungen wie auch die Entscheidung darüber, ob ein Kind in der Schule oder besser ein weiteres Jahr in der Kita gefördert werden sollte, sind jeweils individuell auf das Kind bezogen, um ihm in seinem weiteren Lernweg bestmöglich gerecht werden zu können . 7. Wer genau wird vom Gesundheitsamt und den Kinder- und Jugendgesundheitsdiensten zur Durchführung der schulärztlichen Eingangsuntersuchungen beauftragt bzw. was sind die Mindestanforderungen für diese Tätigkeit? Zu 7.: Zur Durchführung der schulärztlichen Eingangsuntersuchungen werden einschlägig qualifizierte Ärztinnen und Ärzte der Kinder- und Jugendgesundheitsdienste der Gesundheitsämter beauftragt. 8. Welche Personen erfahren das Ergebnis der schulärztlichen Eingangsuntersuchung? Zu 8.: Das Ergebnis der schulärztlichen Eingangsuntersuchung wird mit den Eltern bzw. dem bei der Untersuchung anwesenden Elternteil besprochen. Auf dem Formular „Schul 109 – Anmeldung und Aufnahme in die Grundschule“ werden Ergebnisse der Einschulungsuntersuchung der Grundschule mitgeteilt, an der das Kind angemeldet wurde. Für den Fall eines Antrags der Eltern auf Zurückstellung ihres Kindes von der Schulbesuchspflicht wird das Formular über die Grundschule an die regional zuständige Schulaufsicht zur Prüfung weitergereicht. Sofern eine von den Eltern gewünschte Zurückstellung des Kindes von der untersuchenden Ärztin bzw. dem untersuchenden Arzt befürwortet wird, sendet sie bzw. er zudem eine gutachterliche Stellungnahme an die zuständige Schulaufsicht. Die Empfehlungen , die im Ergebnis der schulärztlichen Untersuchung erfolgen, werden für die schulische Förderung aufgegriffen, z. B. in den Bereichen sprachliche, körperlich-motorische oder emotional-soziale Entwicklung, Visuomotorik (Auge-Hand-Koordination) oder Sprachförderung . Gegebenenfalls wird auf Empfehlung des Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes eine Überprüfung sonderpädagogischen Förderbedarfs eingeleitet. Berlin, den 29. November 2017 In Vertretung Boris Velter Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung S18-12670 S18-12670