Drucksache 18 / 13 018 Schriftliche Anfrage 18. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Tommy Tabor (AfD) vom 02. Januar 2018 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 03. Januar 2018) zum Thema: Pädophile Pflegeeltern und das Kentler-Experiment und Antwort vom 15. Januar 2018 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 23. Jan. 2018) Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie Herrn Abgeordneten Tommy Tabor (AfD) über den Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin über Senatskanzlei - G Sen - A n t w o r t auf die Schriftliche Anfrage Nr. 18/13 018 vom 02. Januar 2018 über Pädophile Pflegeeltern und das Kentler-Experiment ___________________________________________________________________ Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: Gegenwärtige Situation 1.) Wie viele Kinder werden pro Jahr in Berlin in Pflegefamilien vermittelt? 2.) Wie viele Kinder warten in Berlin auf eine Vermittlung in Pflegefamilien? Zu 1. und 2.: Im Jahr 2016 wurden insgesamt 792 Pflegekinder neu vermittelt. Die Zahl der neu vermittelten Pflegekinder für das Jahr 2017 liegt noch nicht vor. Über die bedarfsgerechte Hilfe wird für jeden Einzelfall im Rahmen der Hilfeplanung (vgl. § 36 Achtes Sozialgesetzbuch (SGB VIII)) entschieden. Wird die Unterbringung in einer Pflegefamilie als die geeignete Maßnahme entschieden, so erfolgt die Vermittlung nach dem Bedarf des Einzelfalles in vielen Fällen bezirksübergreifend. 3.) Welche Programme und Projekte gibt es aktuell zur Inobhutnahme von Kindern in Pflegefamilien? (Bitte um Auflistung) Zu 3.: „Das Jugendamt ist berechtigt und verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen die Inobhutnahme erfordert. Die Inobhutnahme umfasst die Befugnis, ein Kind oder einen Jugendlichen bei einer geeigneten Person, in einer geeigneten Einrichtung oder in einer sonstigen Wohnform vorläufig unterzubringen“ (vgl. § 42 SGB VIII). Im Bereich der Pflegekinderhilfe gibt es in diesem Sinne keine Programme oder Projekte, sondern die Pflegekinderhilfe differenziert sich nach Angebotsformen, wie bspw. die Vollzeitpflege auf Dauer, befristete Vollzeitpflege, Verwandtenpflege, oder die Krisenpflege. - - 2 Für die Inobhutnahme kleiner Kinder in Pflegefamilien stehen jedem Pflegekinderdienst praxiserfahrene und z.T. speziell geschulte Pflegepersonen oder Pflegefamilien zur Verfügung , die Kinder ad hoc entweder in Krisensituationen (Inobhutnahme) oder für eine bestimmte Zeit befristet aufnehmen. Dazu wurde von der für Jugend zuständigen Senatsverwaltung in Zusammenarbeit mit den Jugendämtern der Bezirke unter Beteiligung der in der Pflegekinderhilfe tätigen Jugendhilfeträger das Konzept „Berliner Fachliche Standards zur Unterbringung von kleinen Kindern in Familienpflege- Krisenpflege“ entwickelt (vgl. www.pflegekinder-berlin.de/index.php?article_id=167). 4.) Wie prüfen die zuständigen Stellen heutzutage, ob Personen geeignet sind, Pflegekinder aufzunehmen? 5.) Inwieweit findet eine Prüfung statt, dass es sich bei den Pflegeeltern nicht um Pädophile handelt? 6.) Gibt es für Pflegekinder regelmäßig in einem geschützten Bereich Feedback-Gespräche mit Psychologen? Zu 4. bis 6.: Interessierte Familien bzw. Einzelpersonen werden zunächst grundsätzlich und allgemein in Informationsveranstaltungen, Informationsabenden und Vorbereitungskursen informiert und darüber beraten, was es bedeutet, ein Pflegekind aufzunehmen. Diese Vorbereitung ist eine Voraussetzung für die weitere Überprüfung. Der Überprüfungsprozess wird auf Grundlage der in Berlin gültigen fachlichen Standards zur Überprüfung von Bewerberinnen und Bewerbern zur Vollzeitpflege durchgeführt und dauert in der Regel 6 - 9 Monate (vgl. www.pflegekinder-berlin.de). Die Träger der öffentlichen und freien Jugendhilfe dürfen für die Wahrnehmung der Aufgaben in der Kinder- und Jugendhilfe keine Personen beschäftigen oder vermitteln, die im Sinne des § 72a SGB VIII vorbestraft sind. Zu diesem Zweck müssen auch Pflegepersonen und alle im Haushalt lebenden Erwachsenen regelmäßig erweiterte Führungszeugnisse ohne Eintrag gemäß Gesetz über das Zentralregister und das Erziehungsregister (Bundeszentralregistergesetz - BZRG) vorlegen. Bei positivem Ergebnis der Überprüfung nimmt die Pflegeperson verpflichtend an einer 6-monatigen Pflegeelternschulung teil (vgl. Ausführungsvorschriften über Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege (§ 33 SGB VIII) und teilstationärer Familienpflege (§ 32 Satz 2 SGB VIII) (AV- Pflege) vom 21.06.2004). Nach der Aufnahme in einer Pflegefamilie erfolgt neben der regelmäßigen Prüfung des Hilfeverlaufes im Rahmen der Hilfeplanung gemäß § 36 SGB VIII die regelmäßige – in der Regel monatliche - Beratung und Begleitung der Pflegefamilie (vgl. § 37 SGB VIII). Die Unterbringung des Kindes richtet sich nach dem Bedarf des Kindes, der im Hilfeplanverfahren gemäß § 36 SGB VIII bzw. gemäß den Ausführungsvorschriften für Planung und Durchführung von Hilfe zur Erziehung und Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche sowie Hilfe für junge Volljährige (AV-Hilfeplanung) festgestellt wird. Im Zuge des Aufenthaltes bei den Pflegeeltern findet anlassbezogen oder mindestens jährlich eine Überprüfung statt, ob die Hilfe noch bedarfsgerecht ist oder ob es Änderungsbedarf gibt. Im Rahmen der regelmäßigen Hilfeplanung wird auch über den weiteren Bedarf eines Pflegekindes entschieden, wie bspw. Gesprächstherapie, Spieltherapie oder Bewegungstherapie oder über Supervision für Pflegeeltern. Auch die Angebotspalette der Erziehungs- und Familienberatungsstellen steht Pflegefamilien zur Verfügung. Darüber hinaus werden anlassbezogene Prüfungen vorgenommen. Anlässe für eine Überprüfung sind z.B. Verhaltensauffälligkeiten oder andere Hinweise auf Entwicklungsstörungen . Unabhängig von der Überprüfung im Rahmen der Hilfeplanung gelten die Vor- - - 3 schriften des Kinderschutzes. Die Prüfungs- und Meldepflichten im Rahmen des Kinderschutzes gelten sowohl für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jugendämter, als auch für die Fachkräfte von Trägern der Jugendhilfe, die Pflegeeltern beraten (vgl. §§ 8a, 8b SGB VIII). Soweit ein Verdacht auf Kindeswohlgefährdung (§ 8a SGB VIII) vorliegt, sind die Einrichtungen der Jugendhilfe verpflichtet das Jugendamt über die wahrgenommen Auffälligkeiten zu unterrichten (Berliner Netzwerk Kinderschutz). All diese Maßnahmen sollen u.a. gewährleisten, dass ein Kind, welches vorübergehend oder auf Dauer nicht mehr in seiner Herkunftsfamilie leben kann und in einer Pflegefamilie stationär untergebracht wird, eine bedarfsgerechte Hilfe erhält und vor Gefahren geschützt ist. Opferzahlen 7.) Über welchen Zeitraum erstreckte sich das Kentler-Experiment? 8.) Welche Erkenntnis hat der Senat über die Zahl der Opfer? 9.) Wie viele Opfer der Missbrauchsfälle im Zuge des Kentler-Experiments sind dem Senat namentlich bekannt? 10.) Welche Kenntnis hat der Senat darüber, was aus den Kindern geworden ist? Wiedergutmachung gegenüber den Opfern 11.) Was hat die Senatsverwaltung unternommen und was unternimmt die Senatsverwaltung zukünftig, um Opfer des Kentler-Experiments ausfindig zu machen? 12.) Hat die Senatsverwaltung – wie in der Göttinger Studie empfohlen – einen Ansprechpartner benannt, „an den sich Betroffene wenden können, damit sie mit ihren leidvollen Erfahrungen nicht mehr länger allein sind und, sofern gewünscht, therapeutische Unterstützung erhalten.“? Wenn ja, mit welchem Ergebnis? Wie viele Betroffene haben sich gemeldet? Wenn nein, warum nicht? 13.) Geht der Senat, soweit diese namentlich bekannt sind, proaktiv auf die Opfer zu, um Hilfe, Entschädigung etc. anzubieten? Wenn nein, warum nicht? Wenn ja, in welcher Form geschieht dies konkret? Wenn nein, warum nicht? 14.) Auf welcher Gesetzesgrundlage steht den Opfern eine Entschädigung zu? 15.) In welcher Form und in welcher finanziellen Höhe werden die bekannten Opfer aktuell entschädigt? 16.) Hat der Senat – wie in der Göttinger Studie „Die Unterstützung pädosexueller bzw. päderastischer Interessen durch die Berliner Senatsverwaltung“ empfohlen – darüber nachgedacht, einen Hilfsfond einzurichten? Wenn ja, zu welchem Ergebnis ist der Senat gekommen und welche Maßnahmen wurden in die Wege geleitet? Wenn nein, warum nicht? Zu 7. bis 16.: Der Senat hat bereits in 2016 zur Aufklärung des Komplexes des sog. „Kentler- Experiments“ zur Unterbringung von Pflegekindern bei pädophilen Pflegepersonen in den 70er Jahren das Institut für Demokratieforschung der Georg-August-Universität Göttingen mit einem ersten Forschungsbericht beauftragt. Das Gutachten ist unter www.berlin.de/sen/bjf/aktuelles2/artikel.537776.php veröffentlicht. Der Senat hatte in diesem Zusammenhang etwaige Betroffene gebeten, sich bei der Senatsverwaltung für Bildung , Jugend und Familie zu melden und eine Ansprechstelle benannt. Insgesamt gab es Kontaktaufnahmen von insgesamt drei Personen. Auch in 2017 hat der Senat die Aufklärung des Komplexes weiter vorangetrieben, um gemäß den Empfehlungen des Göttinger Instituts dazu insbesondere ein weiteres Forschungsvorhaben zu den damaligen Geschehnissen der Vermittlung von Pflegekindern und evtl. Vermittlungen an die Odenwaldschule zu beauftragen. Dazu waren ein Interessenbekundungsverfahren und Abstimmungen mit dem Landesarchiv erforderlich, um größtmögliche Erfolgschancen eines Erkenntnisgewinns auszuloten. Der Vertrag befindet sich in der finalen Feinabstimmung mit dem potentiellen Auftragnehmer, so dass in 2018 das Forschungsvorhaben durchgeführt wer- - - 4 den kann. Soweit Betroffene damit einverstanden sind, können deren Erfahrungen in die weitere Forschungsarbeit einbezogen werden. Darüber hinaus hat der Senat aufgrund konkreter Schilderungen eines Betroffenen Strafanzeige zur Ermittlung in einem konkreten Einzelfall gestellt. Für die Betroffenen ist ein Antrag nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) möglich. Nach diesem Gesetz sind z.B. Einzelleistungen wie die Gewährung einer Grund- und Ausgleichsrente als Berufsschadensausgleich möglich. Weiterhin besteht die Möglichkeit, einen Antrag an den Fonds "Sexueller Missbrauch im familiären Bereich" (FSM) bei der Geschäftsstelle des Fonds Sexueller Missbrauch (GStFSM) des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) bzw. entsprechend dem ergänzenden Hilfesystem sexueller Missbrauch bei der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie zu stellen. Auf der Grundlage dieser Hilfesysteme können unter bestimmten Voraussetzungen Sachleistungen , wie beispielsweise Komplementärtherapien, die von der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) nicht übernommen werden oder z.B. Hilfen bei der beruflichen Weiterqualifizierung gewährt werden. Schuld der Senatsverwaltung 17.) Welche Schuld und welches Versagen sieht der Senat auf Seiten der damaligen Senatsverwaltung für die Fälle des Missbrauchs durch pädophile Pflegeväter? 18.) In welcher Art und Weise hat die zuständige Senatsverwaltung gegenüber den Opfern eine Schuld der Senatsverwaltung artikuliert? 19.) In welcher Art und Weise hat die zuständige Senatsverwaltung gegenüber den Opfern eine Bitte um Entschuldigung ausgesprochen? Zu 17. bis 19.: Der Senat hat bereits sein Unverständnis und seine tiefe Betroffenheit zu den damals offenbar von handelnden Personen vertretenen Auffassungen zum Ausdruck gebracht. Diese nicht akzeptablen Ansätze führten zu leidvollen Erfahrungen von Betroffenen. Der Senat sieht sich in der Verpflichtung, weiter die Aufklärung der Hintergründe und Folgen zu gewährleisten und Betroffene, die dies wünschen, bei der Aufarbeitung und Folgenminderung zu unterstützen. Fortsetzung der Göttinger Studie 20.) Wieweit sind die Verhandlungen über die Fortsetzung der Göttinger Studie gediehen? 21.) Wann wird das neue Forschungsprojekt seine Arbeit aufnehmen und welche Hindernisse standen der Fortsetzung bislang im Wege? 22.) Wie viel Mittel werden für die Fortsetzung der Göttinger Studie bereitgestellt? Unter welcher Haushaltsposition werden diese Mittel veranschlagt? 23.) Inwieweit werden Opfer in Form einer Befragung in die Studie einbezogen? 24.) Welche Wertigkeit besitzt die Aufklärung der „Unterstützung pädosexueller bzw. päderastischer Interessen durch die Berliner Senatsverwaltung“ für die Senatsverwaltung? 25.) Wurde und wird die Bereitstellung der notwendigen Akten in der Arbeit des Landesarchivs mit Priorität betrieben? 26.) Inwiefern hat sich die Senatsverwaltung für eine prioritäre Bereitstellung der für das Forschungsprojekt notwendigen Akten beim Landesarchiv eingesetzt? 27.) Inwiefern hat sich die Senatsverwaltung um die Aufhebung von Schutzfristen für bereits erfasste Akten bemüht? 28.) Wird die „Akte B Rep. 020 (Bestand: Der Polizeipräsident in Berlin), Nr. 7848“, die „unter anderem Materialien zum Pflegekinderschutz und zur Fürsorgeerziehung von Minderjährigen die Jahre 1954 bis 1970“ betreffen, den Göttinger Forschern zur Verfügung gestellt? - - 5 Zu 20. bis 28.: Die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie misst der weiteren Aufarbeitung des sogenannten „Kentler-Experiments“ eine hohe Priorität zu. Die Vertragsverhandlungen mit dem Institut für Demokratieforschung stehen kurz vor dem Abschluss. Die auftragsvergebene Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie war und ist in der Aufklärungsarbeit unterstützend und vermittelnd tätig. Dies beinhaltet eine entsprechende Abstimmung verschiedener Stellen, insbesondere mit dem Landesarchiv und der Berliner Beauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit, die Grundlage für eine vertiefende Forschung ist. Berlin, den 15. Januar 2018 In Vertretung Sigrid Klebba Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie S18-13018 S18-13018