Drucksache 18 / 15 618 Schriftliche Anfrage 18. Wahlperiode Schriftliche Anfrage der Abgeordneten Bettina Jarasch (GRÜNE) vom 11. Juli 2018 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 16. Juli 2018) zum Thema: Deradikalisierung und Radikalisierungsprävention und Antwort vom 27. Juli 2018 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 01. Aug. 2018) Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Seite 1 von 5 Senatsverwaltung für Inneres und Sport Frau Abgeordnete Bettina Jarasch (GRÜNE) über den Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin über Senatskanzlei - G Sen - Antwort auf die Schriftliche Anfrage Nr. 18/15 618 vom 11. Juli 2018 über Deradikalisierung und Radikalisierungsprävention ----------------------------------------------------------------------------------------------------------------- Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: 1. Mit den Themen Deradikalisierung und Radikalisierungsprävention sind verschiedene Senatsverwaltungen befasst: Senatsverwaltung für Inneres und Sport (Landeskommission gegen Gewalt sowie die Zentralstelle Prävention beim LKA), Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz (Gefängnisse, LADS als Landesstelle für Gleichbehandlung - gegen Diskriminierung), Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie (Präventionsarbeit in Schulen und Jugendarbeit, aber auch Umgang mit Radikalisierung einzelner Jugendlicher/Schüler*innen) a) Wie wurde und wird die Koordination der unterschiedlichen Aktivitäten sowie eine entsprechende Kooperation der Ressorts sichergestellt? b) Gibt bzw. wird es eine Stelle innerhalb der Verwaltung geben, die die Koordination der verschiedenen Ressorts sicherstellt? c) Welche Aufgaben/ Funktionen können und sollen die verschiedenen nachgeordneten Gremien und Strukturen jeweils übernehmen? Wie werden Dopplungen und Reibungsverluste vermieden? Bitte unterscheiden Sie hier zwischen den Aufgaben der Landeskommission gegen Gewalt, der LADS und der Zentralstelle Prävention des LKA. d) Wo ist das Thema Deradikalisierung/ Radikalisierungsprävention in der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie angesiedelt und welche Schwerpunkte setzt die Verwaltung? Zu 1 a) und b): Zur Bekämpfung der Gefahren, die von einer islamistischen bzw. salafistischen Radikalisierung ausgehen, hat der Senat am 22.12.2015 mit dem Berliner Landesprogramm Radikalisierungsprävention ein umfassendes, ressortübergreifendes Konzept auf den Weg gebracht. Die Entscheidungs- und Steuerungsfunktion für das Landesprogramm wurde der Landeskommission Berlin gegen Gewalt übertragen, die der Senatsverwaltung für Inneres und Sport organisatorisch zugeordnet ist. Dadurch sind die fachlich zuständigen Ressorts auf Staatssekretärsebene unter Einbindung der Bezirke gesamtheitlich über die Umsetzung des Landesprogramms informiert und wirken bei der Weiterentwicklung und Fortschreibung der inhaltlichen Ausrichtung mit. Hierzu trifft sich die ressortübergreifende Koordinierungsgruppe der Seite 2 von 5 Fachebene der Landeskommission Berlin gegen Gewalt regelmäßig. Des Weiteren besteht ein Informations- und Beratungsgremium, in das Vertreterinnen und Vertreter der Projektträger neben Verwaltung und Wissenschaft einbezogen sind. Damit ist bereits jetzt die hierfür eingerichtete Landeskoordinierungsstelle der Geschäftsstelle der Landeskommission Berlin gegen Gewalt für das gesamtheitliche Umsetzen und Koordinieren der Maßnahmen verantwortlich. Insofern bereiten die vorgenannten Gremien die Arbeit der Landeskommission auf Arbeitsebene vor und nehmen eine Beratungsfunktion wahr. Der Senat baut darüber hinaus derzeit bei der Senatsverwaltung für Inneres und Sport in der Abteilung III (öffentliche Sicherheit und Ordnung) eine Stelle auf, deren Verantwortung in der strategische Steuerung der Bekämpfung des islamistischen Terrorismus besteht. Diese Stelle wird auch hinsichtlich der strategischen Weiterentwicklung zur Radikalisierungsprävention und Deradikalisierung in sicherheitsrelevanten Themenfeldern, in Abstimmung mit der Landeskommission Berlin gegen Gewalt, mitwirken. So kann das Landesprogramm in der Breitenwirkung gestärkt und dem steigenden Bedarf in dem Feld Rechnung tragen. Zu 1 c): Mit dem Ziel, Überschneidungen zu vermeiden, wurde das Landesprogramm in Abstimmung mit allen tangierten Ressorts weiterentwickelt, insbesondere mit der Landesstelle für Gleichbehandlung – gegen Diskriminierung (LADS). Deshalb sind die Maßnahmen der primären Prävention fachlich der LADS zugeordnet und die Landeskommission hat hauptsächlich die spezialpräventiven Maßnahmen zu verantworten. Zu 1 d): Das Thema ist bei verschiedenen Abteilungen der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie mit spezifischen Schwerpunkten angesiedelt: Die Vermittlung von Werten einer demokratischen Gesellschaft ist immanenter Bestandteil aller Bildungsprozesse. Im Bereich Jugend und Familie werden Fortbildungsangebote, Seminare und Projekte unterstützt und durchgeführt, z. B. Online-Radikalisierungsprävention, die gezielt die Reflektion widersprüchlicher Positionen, Meinungen und Haltungen im Wege der persönlichen Erfahrung und des eigenen Handelns voran bringen. Im Rahmen der Maßnahmen zur Prävention von Online-Radikalisierung sollen innovative medienpädagogische Projekte entwickelt und umgesetzt werden, die junge Menschen ab 14 Jahren ansprechen und motivieren, sich mit der Gefahr der Radikalisierung im Netz inhaltlich, interaktiv, spielerisch und kreativ auseinanderzusetzen. Teilnehmende des Projektes sollen im Sinne des Peer-to-Peer-Ansatzes perspektivisch ihr Know-how an andere junge Menschen weitergeben. Beteiligung und Partizipation sind fester Bestandteil von Jugendarbeit, die sich demokratischen und emanzipatorischen Zielen verpflichtet fühlt. Die Befähigung zur Bewertung und Auseinandersetzung mit gegensätzlichen Positionen sowie die Förderung von Selbstorganisation und Eigenverantwortung sind wesentliche Elemente der schulischen und außerschulischen Bildung zur Radikalisierungsprävention. Diesem Ziel dienen z. B. die geförderten Projekte des Jugenddemokratie-Fonds. Seite 3 von 5 Weiterhin ist das Thema im schulischen Lernen durch die Verankerung im Curriculum („Akzeptanz von Vielfalt“, „Gewaltprävention“ und „Demokratiebildung“ als fächerübergreifende Themen im Rahmenlehrplan Berlin und Brandenburg 1 – 10) und durch unterstützende Maßnahmen für die Implementierung der curricularen Vorgaben an Schulen angesiedelt, sowie im Bereich des Fachreferenten für die gesellschaftswissenschaftlichen Fächer und politische Bildung durch die fachliche Aufsicht über Projekte der Demokratiebildung, der Radikalisierungsprävention und der historisch-politischen Bildung, die durch die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie gefördert werden. Im Einzelfall beraten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Fachbereichs Schulpsychologie in den regionalen Schulpsychologischen und Inklusionspädagogischen Beratungs- und Unterstützungszentren (SIBUZ) und unterstützen bei der Vermittlung von Präventionsangeboten. 2. Gibt es eine Anlaufstelle für ratsuchende Eltern, Lehrer*innen und Bürger*innen, die Warnhinweise abgeben wollen, und wenn ja, wo ist diese angesiedelt, wie wird sie bekannt gemacht und wie wird sichergestellt, dass den Warnhinweisen so rasch wie möglich nachgegangen wird? Zu 2.: Aus Mitteln des Berliner Landesprogramms Radikalisierungsprävention wird die Beratungsstelle „Kompass“ des Trägers Violence Prevention Network e.V. (VPN) gefördert, die insbesondere für Angehörige, Personen des sozialen Umfelds und sonstige Ratsuchende als erste Anlaufstelle zu allen Fragen von religiös begründetem Extremismus zur Verfügung steht. Als weiterer erster Ansprechpartner steht darüber hinaus die bundesweite Hotline der Beratungsstelle Deradikalisierung zur Verfügung, die beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge angesiedelt ist. Von dort wird regelmäßig an Anlaufstellen vor Ort verwiesen, in Berlin z.B. an die Beratungsstelle HAYAT des Zentrums für Demokratische Kultur (ZDK)/Gesellschaft Demokratische Kultur gGmbH. Die Beraterinnen und Berater der genannten Anlaufstellen haben -teilweise bereits langjährige- Erfahrungen mit Radikalisierungsprozessen und können jeweils individuell im erforderlichen Umfang Hilfestellung geben oder initiativ werden. Die Polizei Berlin selbst verfügt derzeit über keine zentrale Hinweis- und/ oder Beratungsstelle im Kontext islamistischer Radikalisierung. Hinweise aus der Bevölkerung, die im Rahmen des täglichen Dienstes, über die Internetwache oder telefonisch der Polizei Berlin bekannt werden, bewertet das Landeskriminalamt (LKA 54 – Politisch motivierte Ausländerkriminalität) bezüglich einer möglichen Sicherheitsrelevanz, um im Bedarfsfall unverzüglich alle erforderlichen Maßnahmen zu veranlassen. Dies gilt in gleichem Maße für solche Hinweise, die durch eine der vorgenannten Beratungsstellen der Polizei Berlin bekanntgegeben werden. Für Fälle, die hingegen so gelagert sind, dass zwar eine erste Information an die Polizei erfolgt, polizeiliche Maßnahmen jedoch nicht nötig werden, stellen die Ansprechpersonen für interkulturelle Aufgaben im Landeskriminalamt (LKA Präv – Zentralstelle Prävention) über interne Informationssteuerung und Netzwerkarbeit die Unterstützung Rat Suchender sicher. Seite 4 von 5 3. Die Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz hat ein dreistufiges Konzept entwickelt, mit dem Experten vom Violence Prevention Network in sämtlichen Berliner Justizvollzugsanstalten unterwegs sind. a) Wie funktioniert dieses Konzept und was lässt sich daraus lernen? b) Gibt es weitere gute Erfahrungen, bei denen über eine Ausweitung / Übertragung auf andere Bereiche nachgedacht werden sollte? Zu 3.: Der Verein VPN unterstützt den Berliner Justizvollzug und die Sozialen Dienste der Justiz/Gerichts- und Bewährungshilfe im Themenbereich der Aus- und Fortbildung der Mitarbeitenden und der Deradikalisierung und Radikalisierungsprävention für Gefangene. Konkret sind dies folgende Angebote: - Ausbildung von Multiplikatorinnen und Multiplikatoren für den Justizvollzug und die Bewährungshilfe, - Themenbezogene Workshops für die Mitarbeitenden des Justizvollzuges, - Übernahme von themenbezogenen Ausbildungsmodulen in der Grundausbildung des allgemeinen Vollzugsdienstes (AVD), - Deradikalisierungsmaßnahmen in Form von Einzel- und Gruppentrainings in den Berliner Vollzugsanstalten, - Gruppentrainings zur Radikalisierungsprävention in den Berliner Justizvollzugsanstalten. Das Angebot von Deradikalisierungs- und Präventionsmaßnahmen kann aktuell als bedarfsangemessen und aussichtsreich bewertet werden. Ein messbarer Erfolg der einzelnen Maßnahmen könnte jedoch regelmäßig erst nach einer langfristigen einzelfallbezogenen Betrachtung erfolgen, in der die individuelle Bereitschaft zum Verzicht strafbarer Handlungen und die Abkehr von gewaltbereiten, radikalextremistischen Einstellungen bewertet werden können. Bezüglich der Aus- und Fortbildungsmaßnahmen für Mitarbeitende der Justizvollzugsanstalten und der Sozialen Dienste der Justiz, Gerichts- und Bewährungshilfe war es sinnvoll und notwendig, Handlungssicherheit im Umgang mit Personen herzustellen, die dem Spektrum des gewaltbereiten Salafismus und Jihadismus zuzuordnen sind. Die eingeführte Struktur und Themensetzung der Ausund Fortbildungsmaßnahmen hat sich bewährt und wird aktuell auf die übergreifende Thematik des politisch oder religiös motivierten Extremismus ausgeweitet. Die Angebote des Vereins VPN bilden hierbei eine Ergänzung zu den bestehenden etablierten Beratungs- und Behandlungsmaßnahmen im Justizvollzug und in den Aus- und Fortbildungsangeboten für die Mitarbeitenden. Die gefangenen- und klientenbezogenen Maßnahmen wurden in der Angebotsstruktur ausgeweitet und durch verschiedene pädagogische Handlungsansätze individueller auf die Zielgruppe angepasst. Zur Unterstützung der Mitarbeitenden der Bewährungshilfe, die im Rahmen der Bewährungsaufsicht mit der Zielgruppe befasst sind, werden Einzelfallsupervisionen und langfristige Fallbegleitungen angeboten. 4. Inwiefern können die Deradikalisierungsprogramme und Konzepte, die jetzt mit Blick auf den Islamismus entwickelt und angewendet werden, auf politischen Extremismus oder auch Antisemitismus übertragen werden? Zu 4.: Ansätze aus der so genannten universellen Prävention (Primärprävention), die etwa auf die Stärkung von Affinitäten zur Demokratie und Stabilisierung der Person zielen, sind phänomenübergreifend anwendbar. Eine Übertragbarkeit von Erfahrung aus der Prävention in anderen Extremismusfeldern ist jedoch nicht inhaltlich, sondern allenfalls strukturell und generalpräventiv möglich, da sich die Extremismen zu unterschiedlich begründen. Dennoch besteht die dauerhafte Aufgabe für die mit der Seite 5 von 5 strategischen Steuerung einerseits und Koordination auf Arbeitsebene andererseits befassten Stellen, die Anwendbarkeit und Übertragbarkeit von Erkenntnissen und Programmen auch aus anderen Phänomenbereichen zu prüfen. Islamismus, sonstiger politischer Extremismus und Antisemitismus weisen in ihren Ausprägungen Schnittmengen auf, sind aber aufgrund ihrer unterschiedlichen Entstehungs- und Begründungszusammenhänge als eigenständige Phänomene zu begreifen. Aus diesem Grund fördert der Berliner Senat sowohl Präventionsprojekte, die bestimmte Problembereiche spezifisch bearbeiten als auch solche, die sich querschnittartig gegen alle Formen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit wenden. Die Landesstelle für Gleichbehandlung und gegen Diskriminierung (LADS) der Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung organisiert im Rahmen des Projekts „Landesdemokratiezentrum“ regelmäßige Austausch- und Vernetzungsveranstaltungen, um die Übertragung gelungener Ansätze und Konzepte zu diskutieren. Hierbei werden phänomenübergreifend Programme und Projekte der Prävention von Islamismus, Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus eingeladen und zusammengebracht. Übertragungsmöglichkeiten ergeben sich beispielsweise in der Primärprävention bei der Thematisierung von Diskriminierung, Ausgrenzung und Demokratie(-feindschaft). Ein phänomenübergreifender Transfer von Erfahrungen wird beispielsweise aber auch bei einigen Trägern der Distanzierungs-, Ausstiegs-, und Deradikalisierungsarbeit praktiziert. Berlin, den 27. Juli 2018 In Vertretung Torsten Akmann Senatsverwaltung für Inneres und Sport