Drucksache 18 / 15 896 Schriftliche Anfrage 18. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Daniel Wesener (GRÜNE) vom 06. August 2018 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 07. August 2018) zum Thema: Human Remains: Wie geht Berlin mit menschlichen Schädeln und Gebeinen aus kolonialen Sammlungskontexten um? und Antwort vom 22. August 2018 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 23. Aug. 2018) Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Seite 1 von 5 Senatsverwaltung für Kultur und Europa Herrn Abgeordneten Daniel Wesener (GRÜNE) über den Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin über Senatskanzlei – G Sen – Antwort auf die Schriftliche Anfrage Nr. 18 / 15 896 vom 06. August 2018 über Human Remains: Wie geht Berlin mit menschlichen Schädeln und Gebeinen aus kolonialen Sammlungskontexten um? Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: 1. Die Human Remains (menschliche Schädel, Gebeine und Weichteile) wie vieler Individuen nichtdeutscher Herkunft befinden sich in musealen und wissenschaftlichen Sammlungen aus kolonialen Kontexten, für die das Land Berlin als Eigentümer oder institutionell Beteiligter (Mit-)Verantwortung trägt? Um welche Sammlungen bzw. Einrichtungen handelt es sich dabei? Welchen Herkunftsgesellschaften oder -regionen sind diese Überreste nach derzeitigem Forschungsstand zuzuordnen? (bitte einzeln nach Sammlung, Einrichtung bzw. Institution und Herkunft aufführen)? Zu 1.: Der Senat hat bereits in seiner Antwort auf die Schriftliche Anfrage Nr. 17/13 215 darauf hingewiesen, dass es sich um Sachverhalte handelt, die er nicht aus eigener Zuständigkeit und Kenntnis beantworten kann. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz hat mitgeteilt, dass es dort keine „Sammlungen aus kolonialen Kontexten“ gibt, sondern nur Sammlungen, in denen sich auch Objekte aus kolonialen Kontexten befinden können. Auch eine Abgrenzung nach „deutscher “ bzw. „nicht deutscher“ Herkunft ist nicht möglich. Bei den Staatlichen Museen zu Berlin befinden sich insbesondere in den archäologischen und ethnologischen Sammlungen auch menschliche Überreste. Damit sind Objekte gemeint, die vom Körper eines verstorbenen Menschen stammen. Diese sind zum Teil in bearbeiteter Form (z.B. ethnologische Artefakte wie Knochenflöten oder Objekte aus menschlichen Haaren) und zum Teil in unbearbeiteter Form (z.B. menschliche Skeletteile aus Nekropolen) in die Sammlung aufgenommen worden. In den ethnologischen Sammlungen handelt es sich ausschließlich um menschliche Überreste in bearbeiteter Form, bei denen eine Zählung nach Individuen deshalb nicht möglich ist. In den archäologischen Sammlungen handelt es sich um archäologische Bodenfunde, d.h. in der Regel um Überreste von Menschen, die bereits vor Seite 2 von 5 mehreren 100 Jahren verstorben sind und zudem überwiegend aus dem europäischen Raum stammen. Mit der Übernahme der anthropologisch-osteologischen Sammlungen der Charité, im Jahr 2011, die rund 8.000 Skelette, Schädel und andere menschliche Überreste umfassen , haben sich die Bestände der Staatlichen Museen zu Berlin an menschlichen Überresten erheblich vergrößert, und es befindet sich erstmals eine anthropologische Sammlung in der Obhut der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Unter diesen menschlichen Überresten befindet sich auch eine erhebliche Anzahl, die außerhalb von Europa und während der Kolonialzeit gesammelt wurde, und bei denen es sich nicht um archäologische Bodenfunde handelt. Zu diesem Komplex gehören auch die sog. S-Sammlung, die zwischen ca. 1885 und 1920 von dem Mediziner und Anthropologen Felix von Luschan angelegt wurde, sowie verschiedene kleinere historische Sammlungen. Die Felix von Luschan- Sammlung gehörte bis 1935 zum Museum für Völkerkunde und danach zur Friedrich- Wilhelms-Universität. Die als Anlage beigefügte Übersicht über die Herkunftsregionen der menschlichen Überreste bildet den aktuellen Kenntnisstand ab, der sich wegen der fortlaufenden Forschungsprojekte jederzeit verändern kann. Eine abschließende Zuordnung zu heutigen Staaten oder Herkunftsgesellschaften ist deshalb nur sehr partiell möglich und wird erst als Ergebnis der Provenienzforschung ggf. geklärt werden können. Die anthropologische „Rudolf-Virchow-Sammlung in der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte“ (rund 3.500 Objekte) befindet sich derzeit lediglich im Depot der Staatlichen Museen zu Berlin und gehört nicht zu ihrem Bestand. 2. Werden Human Remains aus kolonialen Kontexten in Berlin noch heute für wissenschaftliche Studien genutzt, die nicht ausschließlich der Klärung ihrer Herkunft und Rückgabe dienen? Zu 2.: Der Umgang mit menschlichen Überresten in den Einrichtungen erfolgt unter Berücksichtigung der Ethischen Richtlinien für Museen des ICOM (Ziff. 6.6) und der „Empfehlung zum Umgang mit menschlichen Überresten in Museen und Sammlungen “, die der Deutsche Museumsbund im Frühjahr 2013 publiziert hat. Diese enthalten insbesondere Empfehlungen zur Forschung an menschlichen Überresten. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz hat in ihren 2015 beschlossenen „Grundpositionen zum Umgang mit menschlichen Überresten in den Sammlungen der Staatlichen Museen “ festgelegt, dass vor jeder weiteren Forschung geklärt sein muss, „dass die menschlichen Überreste nicht durch einen Unrechtskontext in die Sammlung des Museums kamen“. Außer an archäologischen Überresten aus Europa und Ägypten werden in den Sammlungen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz keine wissenschaftlichen Studien an menschlichen Überresten durchgeführt, die über die Klärung der Provenienz hinausgehen. Ziel der Provenienzforschung ist dabei, zu ermitteln, bei welchen der menschlichen Überreste es sich um solche aus kolonialen Kontexten handelt und welchen Herkunftsgemeinschaften diese zugeordnet werden können, um anschließend mit den Berechtigten Kontakt aufzunehmen und - soweit dies gewünscht wird – die Rückgabe durchführen zu können. Seite 3 von 5 3. Wie viele Human Remains aus kolonialen Sammlungskontexten wurden seit 1990 – neben dem „Charité Human Remains Project“ (vgl. die Drucksache 18/11 092) – an die Herkunftsgesellschaften bzw. Nachkommen restituiert? Zu 3.: Die Charité hat im Jahr 2008 als erste wissenschaftliche Einrichtung in Deutschland eine Vereinbarung zur Übergabe von menschlichen Gebeinen mit Australien unterzeichnet . Bereits während der Laufzeit des „Charité Human Remains Project“ wurden menschliche Überreste an Namibia (September 2011) und Australien (April 2013) übergeben. Darüber hinaus wurde - unabhängig von diesem Projekt - ein Schädel im April 2012 nach Paraguay zurückgegeben. Die Ergebnisse des im Zeitraum 2010- 2013 durchgeführten Projektes und des im Oktober 2012 durchgeführten wissenschaftlichen Workshops enthält die Publikation von Holger Stöcker, Thomas Schnalke , Andreas Winkelmann: „Sammeln, Erforschen, Zurückgeben? Menschliche Gebeine aus der Kolonialzeit in akademischen und musealen Sammlungen“, Berlin, 1. Auflage 2013. Bis 2018 hat die Charité weitere zahlreiche menschliche Gebeine für eine würdevolle Bestattung an Herkunftsgesellschaften in Australien und Namibia übergeben und damit den Repatriierungsprozess unterstützt. Nach Kenntnis des Senats hat die Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte (BGAEU) Repatriierungen an Australien und Japan durchgeführt. Nähere Auskünfte dazu kann nur die BGAEU selbst erteilen. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz hat bisher keine menschlichen Überreste zurückgegeben . Ich verweise auf die Antwort zu Frage 5. Der Senat weist darauf hin, dass die Zuordnung menschlicher Überreste auf Grund der überwiegend schwierigen Quellenlage, d.h. fehlender oder lückenhafter Dokumentation des Erwerbungskontextes, nur beschränkt möglich. Sie erfordert außerdem Methoden der prähistorischen und forensischen Anthropologie, um Aussagen über Geschlecht, Alter, Herkunftsregion etc. treffen zu können. In vielen Fällen ist im Ergebnis nur eine Zuordnung zu einem Kontinent, z.B. Australien oder einer bestimmten Region möglich. Nur selten können Skelettreste einer bestimmten Person zugeordnet werden, wie das Beispiel der im September 2011 von der Charité an Namibia übergebenen 21 Schädel zeigt. Die Zuordnung zu bestimmten (Herkunfts )staaten oder Herkunftsgesellschaften ist aber Voraussetzung für die Aufnahme von Gesprächen und die Entscheidung über die Repatriierung. 4. Welche Herkunftsgemeinschaften, -länder und Nachfahren der Menschen, deren Human Remains in Berlin lagern, sind seit 1990 von den Einrichtungen über die Existenz ihrer Vorfahren in Berliner Sammlungen in Kenntnis gesetzt worden? Zu 4.: Aktuell verfügen folgende Staaten von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz über Informationen zu vorhandenen menschlichen Überresten: Australien, Chile, Hawaii, Japan, Rwanda und Tansania. Die Stiftung wird entsprechend der Entwicklung der Forschungsprojekte weitere Staaten bzw. Herkunftsgesellschaften in Kenntnis setzen. 5. Welche weiteren Unternehmungen dieser Art – aktive kolonialzeitliche Provenienzforschung, Innkenntnissetzung der Herkunftsgesellschaften, -länder oder Nachfahren, Restitutionsangebote – sind seitens des Senats bzw. der von ihm (mit-)verantworteten Institutionen beabsichtigt oder in Planung? Seite 4 von 5 Zu 5.: Das Museum für Vor-und Frühgeschichte hat im Jahr 2017 mit der Überprüfung von rund. 1.000 Schädeln und anderen Gebeinen aus der ehemaligen Kolonie Deutsch-Ostafrika (heutiges Rwanda) begonnen. Das 2-jährige interdisziplinäre Pilotprojekt wird von der Gerd-Henkel-Stiftung finanziert. Die Ergebnisse werden voraussichtlich im Jahr 2019 präsentiert. Nach Abschluss dieses Projektes ist die Stiftung Preußischer Kulturbesitz bestrebt, sukzessive die Provenienz aller menschlichen Überreste aus der Charité-Sammlung aufzuarbeiten. Als nächster Schwerpunkt ist die Erforschung der Bestände aus Westafrika (Kamerun und Togo) vorgesehen. Soweit in den Sammlungen des Ethnologischen Museums Objekte verwahrt werden, die bearbeitete menschliche Überreste enthalten, werden diese im Zuge der kontinuierlichen Provenienzforschung zu diesen Beständen überprüft. Langfristiges Ziel ist die Aufklärung der Hintergründe zu allen menschlichen Überresten in den Sammlungen der Staatlichen Museen zu Berlin. 6. Welche Anstrengungen haben die Sammlungsverantwortlichen in Berlin bisher unternommen, um die Suche der Nachfahren von ostafrikanischen Chiefs wie Mangi Meli (Wachagga), Songea Mbano (Wangoni), Munygumba und Mpangire (Wahehe) nach deren mutmaßlich nach Deutschland verschleppten Gebeinen zu unterstützen? Zu 6.: Die Stiftung Preußischer Kultur Besitz ist zu den Gebeinen von Mangi Meli im intensiven Austausch mit verschiedenen Privatpersonen, die sich die Suche zur Aufgabe gemacht haben. Die Gebeine von Melina sind jedoch nicht in der Sammlung der Stiftung nachweisbar, ebenfalls nicht die der anderen genannten Personen. Die Stiftung kann aber aufgrund der sehr fragmentierten Quellenlage derzeit nicht vollständig ausschließen, dass sie Teil der Sammlung sind. 7. Welche zusätzlichen Anstrengungen unternimmt der Senat um die Herkunft von Human Remains aus kolonialen Sammlungskontexten zu klären und diese ggf. an die Herkunftsgesellschaften zurückzugeben? Agieren die Zuständigen hier auch weiterhin im Wesentlichen reaktiv, also nur im Falle externer Nachfragen und Rückgabeersuchen? Oder werden die notwendige Provenienzforschung, die Inkenntnissetzung der Herkunftsgesellschaften und Restitutionsangebote im Sinne des ICOM Code of Ethics auch proaktiv betrieben? Falls ja, durch wen und in welcher Form? Falls nein, warum nicht (bitte bei der Beantwortung insbesondere die Praxis der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und der in ihren Depots untergebrachten Beständen der BGAEU/Rudolf-Virchow- Sammlung – berücksichtigen)? Zu 7.: Die Einrichtungen, in denen sich menschliche Überreste befinden, betreiben aktiv und systematisch Provenienzforschung. Hierzu wird auf die Ausführungen zu 1. bis 5. verwiesen. Das Ethnologische Museum hat in diesem Jahr neun Grabbeigaben an die Chugach Alaska Corporation zurückgegeben, mit der es seit 2015 an der Aufarbeitung der Sammlung zusammenarbeitet. Dabei handelte es sich zwar nicht um menschliche Überreste aber um Objekte, die ohne Zustimmung der Native People und damit unrechtmäßig in den 1880er Jahren aus Gräbern entnommen wurden. Der Senat setzt sich auch weiterhin dafür ein, dass durch entsprechende Forschungsprojekte insbesondere die Provenienz von menschlichen Überresten, die während der Kolonialzeit in Museen oder andere Einrichtungen gelangt sind, überprüft wird. Er hält es aber weiterhin für notwendig, über die Repatriierung menschlicher Überreste auf der Basis der Ergebnisse der Provenienzforschung im Einzelfall zu entscheiden. Seite 5 von 5 Der Senat begrüßt ausdrücklich, dass die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien im April 2018 angekündigt hat, einen Förderschwerpunkt „Kolonialismus“ bei der Stiftung Deutsches Zentrum Kulturgutverluste einzurichten und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz vier zusätzliche Stellen für die „Kolonialismusaufarbeitung“ ermöglichen will. Der Senat ist nicht Adressat evtl. Repatriierungsersuchen ausländischer Staaten, Herkunftsgesellschaften oder Einzelpersonen für menschliche Überreste. Rückgabeersuchen ausländischer Staaten (z.B. Australien, Namibia) sind auf diplomatischem Wege an das Auswärtige Amt zu richten. Verhandlungen über Repatriierungsersuchen von Herkunftsgesellschaften und Einzelpersonen werden in der Regel unmittelbar mit der jeweiligen Einrichtung bzw. deren Träger geführt, in der sich menschliche Überreste befinden. Berlin, den 22.08.2018 In Vertretung Dr. Torsten Wöhlert Senatsverwaltung für Kultur und Europa Anlage zur Antwort S18/15896 Übersicht über die Herkunftsregionen der menschlichen Überreste in den ehemaligen anthropologisch-osteologischen Sammlungen der Charité (heute SPK) Felix von Luschan-Sammlung (bis 1935 Museum für Völkerkunde, dann Friedrich-Wilhelms-Universität): Außereuropäische Bestände der ehemaligen Sammlung des Anatomischen Instituts der Friedrich- Wilhelms-Universität Berlin: „Rasseschädelkollektion“ Kontinent Anzahl der Individuen Afrika 310 Europa 48 Asien-Pazifik Raum 263 Nordamerika 32 Südamerika 114 Keine Zuordnung 33 Überreste aus der Osteologischen Sammlung der Charité, die keiner historischen Sammlung zugeordnet werden konnten Kontinent Anzahl der Individuen Afrika 184 Europa 226 Asien-Pazifik Raum 91 Nordamerika 14 Südamerika 12 Keine Zuordnung 548 K-Sammlung Kontinent Anzahl der Individuen Afrika 6 Europa 0 Asien-Pazifik Raum 218 Nordamerika 0 Südamerika 3 Keine Zuordnung 15 S-Sammlung (Felix von Luschan-Sammlung) Kontinent Anzahl der Individuen Afrika 2009 Europa 207 Asien-Pazifik Raum 2235 Nordamerika 71 Südamerika 564 Keine Zuordnung 169