Drucksache 18 / 16 612 Schriftliche Anfrage 18. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Franz Kerker (AfD) vom 01. Oktober 2018 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 02. Oktober 2018) zum Thema: Barrierefreiheit oder Inklusives Wahlrecht und Antwort vom 15. Oktober 2018 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 18. Okt. 2018) Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Seite 1 von 3 Senatsverwaltung für Inneres und Sport Herrn Abgeordneten Franz Kerker (AfD) über den Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin über Senatskanzlei - G Sen - Antwort auf die Schriftliche Anfrage Nr. 18/16612 vom 01.10.2018 über Barrierefreiheit oder Inklusives Wahlrecht ----------------------------------------------------------------------------------------------------------------- Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: Vorbemerkung des Abgeordneten Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Inklusives Wahlrecht in Berlin: Diskriminierung von Menschen mit Behinderung beenden [Drucksache 17/2161] findet seinen Niederschlag in der Forderung der Koalitionsvereinbarung nach einem „inklusiven Wahlrecht“, einem Wahlrecht für Personen also, die nach § 13 des Bundeswahlgesetzes bzw. § 2 des Berliner Landeswahlgesetzes vom Wahlrecht ausgeschlossen sind, da sie sich in einem psychatrischen Krankenhaus befinden oder zur Wahrung aller ihrer Angelegenheiten einer vollumfänglichen Betreuung, einer sogenannten „Totalbetreuung “ bedürfen. In seiner Mitteilung Barrierefreie Wahlen in Berlin ermöglichen [Drucksachen 18/0667 und 18/1010 und Schlußbericht] führt der Senat die Bemühungen auf, die in den letzten Jahren unternommen worden sind, um überwiegend Geh- aber auch Sehbehinderten die Ausübung ihres Wahlrechts zu erleichtern . Allerdings enthält diese Mitteilung auch ein Bekenntis der Koalition zum Ziel eines „inklusiven Wahlrechts“. So wird in Abschnitt 3.) eine Informationsbroschüre in „leicht verständlicher Sprache“ angeführt, die Menschen mit „kognitiven Behinderungen“ zukünftig die Stimmabgabe bei Urnen- und Briefwahl erklären solle. 1.) Ist es angemessen, die Situation Behinderter, die bei der Stimmabgabe als dem Ausdruck ihres politischen Willens lediglich körperlich eingeschränkt sind, mit der Situation von Personen zu vergleichen , die aufgrund kognitiver Behinderungen einen kohärenten politischen Willen garnicht ausbilden können? Zu 1.: Der Senat teilt nicht die in der Frage zum Ausdruck kommende Auffassung, dass alle Menschen mit kognitiven Behinderungen keinen kohärenten politischen Willen ausbilden können. Er verbindet mit Inklusion die gesellschaftliche Einbeziehung aller Menschen unabhängig von einer bestimmten Gruppenzugehörigkeit. Inklusion bedeutet das Miteinbezogen sein und die gleichberechtigte Teilhabe der Menschen in allen Lebensbereichen . Seite 2 von 3 Die Barrierefreiheit auch bei Wahlen ist somit ein Instrument zur Verwirklichung der Inklusion und versteht sich nicht alleinig als ein Mittel zur Unterstützung von körperlich behinderten Menschen. 2.) Zugespitzt formuliert: soll das inklusive Wahlrecht letztlich auch für Personen gelten, die im Sinne des Strafgesetzbuches nicht schuldfähig sind, also wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit als zurechnungsunfähig gelten? Zu 2.: Der Senat beabsichtigt eine Überprüfung der Wahlrechtsausschlüsse anhand internationaler Standards. Dies betrifft vor allem die Wahlrechtsausschlüsse nach § 2 Nummern 2 und 3 des Landeswahlgesetzes (LWG), für die die Gesetzgebungskompetenz beim Land Berlin liegt. 3.) Integration ist die Eingliederung in eine durch bestimmte Merkmale definierte Menge; Inklusion hingegen die Aufhebung exkludierender Merkmale. Der Terminus „Inclusion“ wurde im Jahre 1965 durch einen Aufsatz mit dem Titel „Full Citizenship for the Negro American?“ durch Talcott Parsons in die amerikanische Soziologie eingeführt, also in einer Zeit des Ringens um die (Selbst)Verortung von Schwarzen in der amerikanischen Gesellschaft. Hält der Senat es für sinnvoll, immer neue gesellschaftliche Gruppen als solche zu kennzeichnen, die der Inklusion bedürfen? Inwiefern verwischt dies die faktischen Unterschiede zwischen wirklich und vermeintlich Benachteiligten? Zu 3.: Ziel des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention - UN-BRK) ist es, „…den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern.“ (Artikel 1 UN-BRK). In Artikel 4 Absatz 1 UN-BRK wird explizit darauf hingewiesen, dass sich die Vertragsstaaten verpflichten, dieses Ziel umzusetzen. Die Bestimmungen der UN-BRK gelten zudem ohne Einschränkung oder Ausnahme für alle Teile eines Bundesstaates (Artikel 4 Absatz 5 UN-BRK). Die UN-BRK wurde vom Bundestag ratifiziert, ist geltendes Recht für die Bundesrepublik Deutschland und somit auch für das Handeln der Länder bindend. Es geht im Kern darum, welche Personen einen wie gearteten Zugang zu Lebensbereichen haben und wie das Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein des Zugangs zu Lebensbereichen im gesellschaftlichen Handeln berücksichtigt wird. Die UN-BRK bietet die Grundlage, diese Frage für die Gruppe der Menschen mit Behinderungen zu beantworten. 4.) Die Schriftliche Anfrage der Abgeordneten Franz Kerker (AfD) und Tommy Tabor (AfD) zum Thema: Inklusion und Förderschulen: Was gibt es zu verbessern? [Drucksache 18/15752] beantwortet der Senat u.a. wie folgt: „Zu 12. bis 14.: Vorbemerkung: Es wird nach der Unterstützung von „Inklusionskindern“ gefragt. Anders als in der Integration, in der es um eine mögliche Anpassung des Kindes an das bestehende System geht, ist mit Inklusion die Anpassung des Systems an die Unterschiedlichkeit/Verschiedenheit eines jeden Menschen, also auch der Schülerinnen und Schüler gemeint. Damit ist jedes Kind ein Inklusionskind. Bei der Beantwortung der Frage wird davon ausgegangen, dass Schülerinnen und Seite 3 von 3 Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf gemeint sind, unabhängig von der Schulart, an der sie sich befinden.“ Das Berufs- und generell das Erwachsenenleben erfordert stets aufs neue die Anpassung an verbindliche Systeme, seien dies zu erfüllende Ansprüche an eine formale Bildung oder allgemein an Normen des sozialen Zusammenlebens. Inwiefern kann eine Schule ihrem Erziehungsauftrag gerecht werden, die den einzelnen Schüler nicht, seiner individuellen Befindlichkeiten ungeachtet, auf die späteren Erwartungshaltungen der Allgemeinheit vorbereitet? Zu 4.: Im Vorwort für die Veröffentlichung der UN-BRK (https://www.behindertenbeauftragte.de/SharedDocs/Publikationen/UN_Konvention_ deutsch.pdf?__blob=publicationFile&v=2, S. 2) betont die ehemalige Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, Verena Bentele, dass die UN-BRK einen wichtigen Meilenstein für die gesamte Gesellschaft darstellt, weil sie die universellen Menschenrechte für Menschen mit Behinderungen konkretisiert und deutlich macht, dass diese ein uneingeschränktes und selbstverständliches Recht auf Teilhabe besitzen. Sie führt weiter aus: „Das Leitbild der Behindertenrechtskonvention ist ,Inklusion‘. Es geht also nicht darum, dass sich der oder die Einzelne anpassen muss, um teilhaben und selbst gestalten zu können. Es geht darum, dass sich unsere Gesellschaft öffnet, dass Vielfalt unser selbstverständliches Leitbild wird. Es geht um eine tolerante Gesellschaft, in der alle mit ihren jeweiligen Fähigkeiten und Voraussetzungen wertvoll sind.“ In diesem Sinne setzt der Senat von Berlin die UN-BRK im Bildungsbereich um. Berlin, den 15. Oktober 2018 In Vertretung Sabine Smentek Senatsverwaltung für Inneres und Sport