Drucksache 18 / 17 251 Schriftliche Anfrage 18. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Franz Kerker (AfD) vom 06. Dezember 2018 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 07. Dezember 2018) zum Thema: Gesamtschule und Statusreproduktion und Antwort vom 20. Dezember 2018 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 21. Dez. 2018) Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie Herrn Abgeordneten Franz Kerker (AfD) über den Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin über Senatskanzlei - G Sen - A n t w o r t auf die Schriftliche Anfrage Nr. 18/17251 vom 06. Dezember 2018 über Gesamtschule und Statusreproduktion _______________________________________________________________________ Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: Vorbemerkung des Abgeordneten: In Ihrer Vorlage zur Beschlussfassung über das Gesetz zur Änderung des Schulgesetzes und weiterer Rechtsvorschriften begründet die Koalition die geplante Novellierung des Schulgesetzes u.a. wie folgt: „Mit der vorliegenden Gesetzesänderung wird die Gemeinschaftsschule innerhalb des Zweisäulenmodells als schulstufenübergreifende Schulart im Schulgesetz verankert. Hierdurch ergänzt die Gemeinschaftsschule dauerhaft das schulische Angebot und trägt zu einer Entkopplung von sozialer Herkunft und Bildungserfolg bei.“ In der ersten Lesung des Gesetzes zur Änderung des Schulgesetzes und weiterer Rechtsvorschriften [Plenarprotokoll 18/33] äußerten sich zwei Vertreterinnen der Regierungskoalition wie folgt: Regina Kittler (LINKE): „2016 legte die wissenschaftliche Begleitung der Pilotphase ihren Abschlussbericht vor, der belegte, dass es Gemeinschaftsschulen wirklich gelingt, den Bildungserfolg ihrer Schülerinnen und Schüler von der sozialen Herkunft abzukoppeln und sich zu Schulen für alle zu entwickeln, in denen alle erfolgreich lernen können, hochbegabte Kinder genauso wie Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf.“ Dr. Maja Lasić (SPD): „Mit der Stärkung der Gemeinschaftsschule fügt sich ein weiterer Baustein der Schulstrukturreform, und dies ist nicht der einzige. Deutlich weniger beachtet, aber genauso wichtig ist die Stärkung der gymnasialen Oberstufe im Verbund. Für sehr viele ISS und Gemeinschaftsschulen ist eine gymnasiale Oberstufe nur sinnvoll, wenn sie im Verbund eingeführt wird. Dies ist in der Praxis erprobt, hat sich bewährt und wird unsere integrierten Sekundarschulen und Gemeinschaftsschulen im Wettbewerb und in ihrer Schulentwicklung stärken. Und gerade in innerstädtischen Kiezen, in denen die Bevölkerung durchmischt ist, unsere Schulen jedoch nicht, wird in der Gründung der gymnasialen Oberstufe die entscheidende Chance für unsere ISS und Gemeinschaftsschulen stecken – im Kampf um eine bessere Durchmischung an Schulen.“ Ihre Studie über „Persistenz sozialer Ungleichheiten im Berliner Schulsystem“ fassen die Autoren Marcel Helbig und Rita Nikolai einleitend so zusammen: „Die Analysen zeigen, dass sich trotz der weitreichenden Sekundarschulreform von 2010/11 und der Etablierung eines zweigliedrigen Schulsystems bisher wenig an der sozialen Aufteilung der Schülerschaft verändert hat. Dies liegt daran, dass die alte Schulstruktur verdeckt im neuen Schulsystem fortgeführt wird.“ In einer Untersuchung über die „sozialräumliche Segregation deutscher Städte“ formulieren Marcel Helbig und Stefanie Jähnen ihre Hypothese H9: Je mehr Privatschulen es im Verhältnis zu den öffentlichen Schulen in einer Stadt gibt, desto geringer ist die Armutssegregation. Anhand des Vergleichs der Anzahl von Schülern, - - 2 welche Anspruch auf Lernmittelbeihilfe haben, gelingt den Autoren der Nachweis dieser Hypothese. Als Erklärung führen sie an, dass gerade der angespannte Wohnungsmarkt einen Umzug innerhalb Berlins als wenig attraktiv erscheinen lässt; Eltern, die zur typischen Privatschulklientel gehören, wählen diese Schulform , um sich trotz ihres Verbleibs im „Kiez“ gegenüber sozial schwachen Schichten abzugrenzen. Somit ist nun zwar die residenzielle Armutssegregation abgebremst, die soziale Segregation der Schulen verändert sich dadurch aber nicht. Ich frage den Senat: 1. Marcel Helbig und Rita Nikolai (2017) argumentieren, dass die Schülerschaft der Gemeinschaftsschulen, gemessen an der Lmb-Quote, im Vergleich zu anderen Schulen von vornherein homogener sei; dies führe zu einer weiteren Ballung sozial schwacher Schüler an den „normalen“ öffentlichen Grundschulen. Sie begründen dies wie folgt: Eltern höherer sozialer Schichten akzeptieren Schulreformen, die auf eine Verringerung sozialer Ungleichheiten abzielten nur dann, wenn ihnen weiterhin Ausweichmöglichkeiten für die Statusreproduktion ihrer Kinder offen stünden; diese lägen zum einen bei den Privatschulen, zum anderen daran, dass die geradlinige Marschroute zum Studium an öffentlichen Schulen noch immer offen stünde: „Wir können in unseren Analysen zeigen, dass die Berliner Schulstrukturreform zu keinen Veränderungen bei der Verteilung von armen und nicht-armen Schüler*innen geführt hat und das arme Schüler*innen seltener an Privatschulen, an ISS mit eigener gymnasialer Oberstufe sowie an grundständigen Gymnasien zu finden sind.“ 1.a.) Hat der Senat die Studie des Wissenschaftszentrums Berlin über die „Persistenz sozialer Ungleichheiten “ in die Planung der Gesetzesnovellierung einfließen lassen? Zu 1.a.: Nein. 1.b.) Wie bewertet er diese? Zu 1.b.: Die Studie stützt sich als Datenbasis lediglich auf die Anzahl von Schülerinnen und Schülern mit einer Befreiung von der Zuzahlung zu den Lehr- und Lernmitteln und dies nur in der dritten und siebten Jahrgangsstufe. Zudem bestehen bei den Autoren offensichtlich Unkenntnisse über die Gemeinschaftsschulen, wenn beispielsweise behauptet wird, dass es sich bei den Gemeinschaftsschulen „größtenteils (…) um Neugründungen“ (S. 24) handele . 1.c.) Sind dem Senat Studien bekannt, welche die These abstützen, dass das Schulsystem Berlins seit der Reform 2010/2011 insgesamt sozial weniger selektiv geworden ist? Zu 1.c.: Die BERLIN-Studie als wissenschaftliche Begleitung und Evaluation der Berliner Schulstrukturreform konnte eine Reduktion kumulativ benachteiligter Schulstandorte nachweisen . 2.a.) Sind dem Senat Studien bekannt, welche den Einfluss von Schulen in privater Trägerschaft auf die soziale Selektion der Berliner Schülerschaft untersuchen? Zu 2.a.: Ja. - - 3 2.b.) Hat der Senat Erkenntnisse darüber, dass, wie von Dr. Lasić angeführt, die Einführung der gymnasialen Oberstufe an ISS und Gemeinschaftsschulen tatsächlich zu einer sozialen Durchmischung innerhalb der Schulen führt? Zu 2.b.: Die soziale Durchmischung innerhalb von Schulen wird durch die Einführung der gymnasialen Oberstufe an Integrierten Sekundschulen und Gemeinschaftsschulen begünstigt, da Schülerinnen und Schüler, die aufgrund ihrer Kompetenzentwicklung eher drei Jahre zum erfolgreichen Abschluss der Allgemeinen Hochschulreife benötigen, diese Form der gymnasialen Oberstufe wählen können. Deshalb ist mit der am 13. Dezember 2018 in zweiter Lesung beschlossenen Schulgesetzänderung ausdrücklich die Möglichkeit geschaffen worden, auch gymnasiale Oberstufen im Verbund zu gründen. 2.c..) Wie schätzt der Senat die Möglichkeit ein, dass die für die Privatschulen anhand der Hypothese H9 aufgezeigten Effekte – räumliche Durchmischung bei gleichzeitiger lebensweltlicher Abschottung – ebenso beim Ausbau gymnasialer Oberstufen zutage treten werden? [Marcel Helbig, Nikolai, Rita (2017): Alter Wolf in neuem Schafspelz? Die Persistenz sozialer Ungleichheiten im Berliner Schulsystem, WZB Discussion Paper, No. P 2017-001, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), Berlin] [Helbig, Marcel; Jähnen, Stefanie (2018): Wie brüchig ist die soziale Architektur unserer Städte? Trends und Analysen der Segregation in 74 deutschen Städten, WZB Discussion Paper, No. P 2018-001, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), Berlin] Zu 2.c.: Das Merkmal einer „lebensweltlichen Abschottung“ wird vom Senat aufgrund des Fehlens hinreichend belastbarer Indikatoren der Überprüfung nicht untersucht. Die mit der Hypothese H9 in engem Zusammenhang stehende Hypothese H10 teilt der Senat, dass „je günstiger die wirtschaftliche Entwicklung in einer Stadt, desto geringer (…) die soziale Segregation“. Berlin, den 20. Dezember 2018 In Vertretung Mark Rackles Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie