Drucksache 18 / 17 611 Schriftliche Anfrage 18. Wahlperiode Schriftliche Anfrage der Abgeordneten Stefanie Fuchs (LINKE) vom 22. Januar 2019 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 23. Januar 2019) zum Thema: Soziale Strategie im Umgang mit Obdachlosencamps und Antwort vom 11. Februar 2019 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 12. Feb. 2019) Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. 1 Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales Frau Abgeordnete Stefanie Fuchs (Die Linke) über den Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin über Senatskanzlei - G Sen - A n t w o r t auf die Schriftliche Anfrage Nr. 18/17611 vom 22.01.2019 über Soziale Strategie im Umgang mit Obdachlosencamps ------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: Zur Beantwortung der Fragen 3. bis 6. und 8. wurden die Berliner Bezirksämter um Zuarbeit gebeten. Zusätzlich wurde wegen der unmittelbaren Betroffenheit das Bezirksamt Lichtenberg um eine Zulieferung zu den Fragen 1. und 2. ersucht. 1. Wie gestaltet sich nach Kenntnis des Senats die aktuelle Situation der "wild campierenden" Obdachlosen in der Rummelsburger Bucht? 2. Welche Strategie verfolgen Senat und Bezirk beim Obdachlosencamp in der Rummelsburger Bucht? 8. Wie lassen sich die aus dem Vorgehen in der Rummelsburger Bucht gemachten Erfahrungen im Sinne eines „best practice“ auf eine berlinweit einheitliche soziale Strategie zum Umgang mit „Obdachlosencamps“ übertragen? Zu 1., 2. und 8.: Zunächst ist die Feststellung zu treffen, dass der Begriff „Obdachlosencamp“ rechtlich nicht definiert ist. Die Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales geht wie die meisten Bezirke davon aus, dass dieser Begriff nur zutreffend ist, wenn es sich um auf Dauer angelegte Lager mit Zelten, Matratzen und für eine Behausung notwendige Utensilien handelt, die ganztägig und dauerhaft von mehreren Personen genutzt werden. Ende Dezember haben die Vertreterinnen und Vertreter der für Soziales zuständigen Senatsverwaltung gemeinsam mit der Karuna Sozialgenossenschaft eG das betreffende Gelände erstmals in Augenschein genommen. Hierbei war festzustellen, dass es sich um mehrere Camps handelt, von denen ein Teil allerdings verlassen war. 2 In einem Bereich lebten zwischen 15 und 20 zumeist jüngere Menschen. Die Karuna Sozialgenossenschaft eG hat im Auftrag der für Soziales zuständigen Senatsverwaltung in diesem Einzelfall unmittelbar die Betreuung der Menschen übernommen, da deren Situation sichtbar prekär war. Neben Zeltaufbauten, die unzureichend gegen Temperaturen um den Gefrierpunkt gesichert waren, war das Fehlen von Toiletten und Containern zur Müllentsorgung ein weiteres drängendes Problem. Zunächst wurden folgerichtig Maßnahmen eingeleitet, um die hygienische Situation zu verbessern und Schutz gegen die Witterung zu bieten. Zu diesem Zweck wurden inzwischen mobile Toiletten aufgestellt, die Fläche weitgehend von Müll und Lagerrückständen befreit, Müllcontainer aufgestellt, die Zelte - soweit möglich - kältefest gemacht und qualifizierte Öfen aufgestellt. Insofern haben sich die unmittelbaren Lebensumstände der dort Campierenden verbessert. Zudem konnte durch das Engagement des beauftragten Trägers und die Kooperation aller beteiligten Verwaltungen Vertrauen aufgebaut werden, welches notwendig ist, um alle dort lebenden Menschen in Regelsysteme oder andere Angebote vermitteln zu können. Hierzu werden unterschiedliche Optionen geprüft. Die für Soziales zuständige Senatsverwaltung sowie die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen als Grundstückseigentümerin und das Bezirksamt Lichtenberg haben sich auf einen gemeinsamen Weg verständigt, der die Verbesserung der aktuellen Lebensumstände der betroffenen obdachlosen Menschen in den Vordergrund stellt. Es wurde vereinbart, dass dieses Ziel ohne Beräumung des Geländes an der Rummelsburger Bucht sowie ohne weitere ordnungsrechtliche Maßnahmen erreicht werden soll und daneben ein weiterer Zuzug von Campierenden zu verhindern ist. Grundsätzlich liegt die Zuständigkeit für Ordnungsaufgaben im Zusammenhang mit der Räumung von sogenannten „Obdachlosencamps“ bei den bezirklichen Ordnungsämtern, die nach Auskunft der Bezirke in der Regel mit den Sozialämtern und/oder freien Trägern für aufsuchende Sozialarbeit zusammenarbeiten. Eine enge Kooperation aller Beteiligten, d. h. sowohl der betroffenen obdachlosen Menschen als auch des Eigentümers, sowie der Behörden mit dem Ziel einer für alle Seiten tragbaren Lösung, wird als grundlegend wichtig erachtet. 3. Wie viele Obdachlosencamps, vergleichbar zum Beispiel mit dem im Ulap-Park, sind den Behörden in den Berliner Bezirken jeweils bekannt? (Bitte nach Bezirk aufschlüsseln.) Zu 3.: Die meisten Bezirke berichten, dass es kaum entsprechende Ansammlungen gebe, betroffen seien meist einzelne Personen. Viele Bezirke beschreiben die Lage als nicht vergleichbar mit der Situation im Ulap-Park. Im Bezirk Mitte gebe es hingegen eine Vielzahl von „Obdachlosencamps“, daher könne die genaue Anzahl diesbezüglich nicht benannt werden. Die größten befänden sich im Bereich des Großen Tiergartens (Zooverbindungsweg), im Kleinen Tiergarten, am Hansaplatz, an Gertrauden- und Mühlendammbrücke sowie am Alexanderplatz. Zusätzlich gebe es auch einzelne „Schlaflager“, die über den ganzen Bezirk verteilt seien. Treptow-Köpenick berichtet, dass im Bezirk aktuell zwei Wagenburgen existierten und es vereinzelte Stellen gebe, die temporär für Übernachtungen genutzt würden. Im Bezirk Pankow wurden regelmäßig meist einzelne Personen angetroffen. Neukölln berichtet neben Einzelpersonen und kleineren Gruppen von bis zu drei Personen über Menschengruppen, die sich in den Sommermonaten auch über Nacht in den Grünanlagen aufhielten. 3 4. Wie viele Räumungen von Obdachlosencamps haben die Berliner Bezirke in den Jahren seit 2015 jeweils veranlasst? (Bitte nach Jahr, Bezirk und Anzahl aufschlüsseln.) Zu 4.: Die meisten Bezirke berichten, im genannten Zeitraum keine Räumungen durchgeführt zu haben oder keine entsprechende Statistik zu führen. In einigen Fällen melden die Sozialämter, keine Kenntnis von solchen Räumungen zu haben. Demgegenüber wurden im Jahr 2017 im Bezirk Mitte 113 Ansprachen durch das Ordnungsamt und 98 Sofortmaßnahmen durchgeführt sowie 15 Räumungen geplant. Im Jahr 2018 wurden 548 Ansprachen durch das Ordnungsamt und 509 Sofortmaßnahmen durchgeführt sowie 39 Räumungen geplant. Im Jahr 2019 gab es bislang vier Ansprachen durch das Ordnungsamt und vier geplante Räumungen. Eine entsprechende Statistik werde seit Ende 2017 geführt. Durch das Bezirksamt Pankow wurden im Jahr 2018 sieben Räumungen veranlasst - statistische Erhebungen aus den Vorjahren liegen dort nicht vor. Im Bezirk Neukölln sei im Jahr 2016 zweimal und in den Jahren 2017 und 2018 jeweils einmal einer Gruppe von südosteuropäischen Obdachlosen (zwischen 12 und 35 Personen), die sich jede Nacht auf ein abgelegenes unbebautes Privatgrundstück oder zuletzt auch in Parkanlagen zurück gezogen hätten, ein sog. Rückführungsangebot mit Bussen auf Kosten des Bezirksamts gemacht worden. Dies sei nach wiederholter Ansprache durch soziale Träger und in Abstimmung mit dem Grundstückseigentümer und dem Amt für Soziales geschehen. Die meisten Betroffenen hätten dieses Angebot auch angenommen. Im Anschluss an die Rückführung sei das Gelände durch die Berliner Stadtreinigung (BSR) u. a. beauftragte Entsorgungsträger entsprechend gereinigt worden. Im Bezirk Reinickendorf wurde lediglich im Jahr 2017 der Verweilort eines einzelnen Obdachlosen dreimal vom Ordnungsamt in Zusammenarbeit mit der Polizei geräumt. Im Sommer 2018 seien in drei Fällen zeltende Personen zum Abbau aufgefordert worden. In einem dieser Fälle wurden die Hinterlassenschaften letztlich vom Ordnungsamt entfernt. 5. Wie ist das generelle Vorgehen (Kontaktaufnahme durch welche Behörden, soziale Hilfsangebote im Vorfeld/bei Räumung, Fristsetzungen, Sicherung privater Gegenstände der Betroffenen etc.) der Berliner Bezirke bei der Auflösung/Räumungen von Obdachlosencamps? (Bitte Vorgehen je nach Bezirk aufschlüsseln.) 6. Findet im Vorfeld einer Auflösung/Räumungen von Obdachlosencamps in jedem Fall eine Kontaktaufnahme durch die Sozialen Wohnhilfen bzw. beauftragte Träger der Wohnungslosenhilfe statt und werden den Betroffenen dabei geeignete soziale Hilfsangebote unterbreitet? Wenn nein, warum nicht? Zu 5. und 6.: Das grundsätzliche Vorgehen der Bezirke im Falle der Räumung von Plätzen, die von obdachlosen Menschen zum Daueraufenthalt genutzt werden, ist in den meisten Bezirken vergleichbar. In der Regel wird das folgende Verfahren angewendet: Der Erstkontakt erfolge häufig durch den Außendienst des Ordnungsamtes (AOD) - nach entsprechenden Hinweisen durch die Polizei, Mitarbeiter des Straßen - und Grünflächenamtes oder Anwohner. Dabei werde bereits über Kontaktadressen, Unterbringungsmöglichkeiten und Hilfsangebote informiert. Anschließend würden die für die unterschiedlichen sozialen Hilfsangebote zuständigen Stellen im Bezirk informiert und einbezogen. In mehreren Bezirken werden die Betroffenen durch Mitarbeitende des Sozialamtes ggf. auch vor Ort aufgesucht. 4 Im Anschluss würden dann ggf. weitere Maßnahmen unter Fristsetzung, wie z. B. Platzverweise oder Räumungen sowie vereinzelt auch Rückführungsangebote eingeleitet. Private Gegenstände, die nicht mehr mitgeführt werden können, würden entweder entsorgt oder zur Sicherstellung verwahrt. In der Regel werden somit die Sozialen Wohnhilfen verständigt. Einige Bezirke haben darüber hinaus Träger für aufsuchende Sozialarbeit beauftragt, auf eine einvernehmliche Lösung unter Hinweis auf Hilfsangebote hinzuwirken. In einzelnen Bezirken werden die Sozialen Wohnhilfen nicht in jedem Einzelfall informiert. Der Bezirk Tempelhof-Schöneberg weist auf viele Fälle „freiwilliger Obdachlosigkeit“ hin, eine solche Entscheidung sei als Ausdruck des verfassungsrechtlich geschützten Rechtes auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit gemäß Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) behördlich zu respektieren. Das Selbstbestimmungsrecht des einzelnen Menschen verbiete es, in diesem Fall den staatlichen Organen, der bzw. dem Einzelnen Hilfe gegen ihren bzw. seinen Willen aufzuzwingen. Zwangsmaßnahmen gegen Obdachlose seien möglich, wenn keine Gefahr für die Allgemeinheit oder den bzw. die Obdachlose selbst bestehe. Das Selbstbestimmungsrecht wiege schwerer als die Fürsorgepflicht des Staates. Ordnungsbehörden und Polizei könnten jedoch zur Abwehr einer Gefahr eine Person vorübergehend von einem Ort verweisen oder ihr vorübergehend das Betreten eines Ortes verbieten. 7. Welche Einsatzhinweise zur Durchführung von polizeilichen Maßnahmen im Zusammenhang mit "wildem Campieren" gelten derzeit für die Berliner Polizei und sind diese seit Juni 2015 überarbeitet worden (vgl. Antwort des Senats auf Frage Nr. 11 der Drs. 17/16330)? Zu 7.: Die in der Beantwortung der Schriftlichen Anfrage 17/16330 zitierten Einsatzhinweise im Zusammenhang mit Scheibenputzer-Tätigkeiten, aggressivem Betteln und wildem Campieren beinhalteten im Zusammenhang mit „wildem Campieren“ lediglich eine Meldeverpflichtung der örtlichen Polizeidirektionen für statistische Zwecke, die zwischenzeitlich eingestellt wurde. Im Jahr 2018 erstellte die Polizei Berlin eine Arbeitsunterlage mit dem Titel „Zusammenarbeit der Polizei Berlin mit den Bezirksämtern zur Thematik Obdachlosigkeit“, die rechtliche Problematiken, wie zum Beispiel das Campieren in Grünanlagen, thematisiert. Schwerpunkt der Ausführungen ist die Abgrenzung der polizeilichen und bezirklichen Verantwortlichkeiten. Gesonderte Einsatzhinweise im Sinne der Fragestellung existieren nicht. Berlin, den 11. Februar 2019 In Vertretung Alexander F i s c h e r _____________________________ Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales