Drucksache 18 / 18 215 Schriftliche Anfrage 18. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Sven Rissmann (CDU) vom 13. März 2019 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 13. März 2019) zum Thema: Überlastung der Berliner Gerichte 2018: Kann Sinn und Zweck der U-Haft noch erreicht werden? und Antwort vom 26. März 2019 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 02. April 2019) Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung Herrn Abgeordneten Sven Rissmann (CDU) über den Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin über Senatskanzlei - G Sen - A n t w o r t auf die Schriftliche Anfrage Nr. 18/18 215 vom 13. März 2019 über Überlastung der Berliner Gerichte 2018: Kann Sinn und Zweck der U-Haft noch erreicht werden? ---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: 1. Bei wie vielen Beschuldigten konnte in Berlin im Jahr 2018 wegen des Ablaufs der 6-Monats-Frist des § 121 StPO der Vollzug der Untersuchungshaft nicht aufrechterhalten werden? Wie lauten die Tatvorwürfe, wegen der die Untersuchungshaft vollzogen wurde? Zu 1.: Acht Beschuldigte in insgesamt sieben unterschiedlichen Verfahren wurden 2018 aufgrund der unzureichender Beachtung des Beschleunigungsgrundsatzes in Haftsachen gemäß § 121 der Strafprozessordnung durch das Kammergericht aus der Untersuchungshaft entlassen. Es handelte sich um folgende Tatvorwürfe: - Wohnungseinbruchdiebstahl, - Bandendiebstahl (2 Beschuldigte in einem Verfahren), - versuchter besonders schwerer Raub, - schwerer sexueller Missbrauch von Kindern (2 unterschiedliche Verfahren), - bewaffnetes unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und - bandenmäßiges unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge. 2. Was waren jeweils konkret die Gründe für den Fristablauf? Zu 2.: Der Ablauf der genannten Frist führt für sich gesehen noch nicht zu einer Haftbefehlsaufhebung . Diese erfolgt nur dann, wenn bis zu diesem Zeitpunkt dem Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen nicht hinreichend genügt wurde. 2 Nach Ansicht des Kammergerichts stellten sich die Gründe hierfür wie folgt dar: - Bandendiebstahl: Verzögerung im Bereich der Staatsanwaltschaft durch unnötig lange andauernde Ermittlungen vor Anklageerhebung. - Wohnungseinbruchsdiebstahl: Verzögerung im Bereich der Staatsanwaltschaft. Mit der Erstellung der Anklageschrift hätte bereits früher begonnen werden müssen, stattdessen wurden noch weitere Ermittlungen durchgeführt, die im Wesentlichen nicht notwendig gewesen wären. - Versuchter besonders schwerer Raub: Verzögerung im Bereich des Amtsgerichts Tiergarten. Dieses hätte die Hauptverhandlung bereits einen Monat früher beginnen lassen können, als dies tatsächlich der Fall war, ohne dass es dafür einen erkennbaren Grund gab. - Schwerer sexueller Missbrauch von Kindern (1. Verfahren): Verzögerung im Bereich der Staatsanwaltschaft dadurch, dass noch Ermittlungen durchgeführt wurden, die nach Auffassung des Kammergerichts zur Anklageerhebung nicht erforderlich waren. - Schwerer sexueller Missbrauch von Kindern (2. Verfahren): Verzögerung im Bereich der Staatsanwaltschaft. Nach Anklagereife vergingen zweieinhalb Monate, bis tatsächlich eine Anklageerhebung erfolgte, ohne dass in diesem Zeitraum noch Ermittlungen angestellt worden wären, die diese Verzögerung hätten rechtfertigen können. - Bewaffnetes unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge : Verzögerung im Bereich der Staatsanwaltschaft; die Anklageerhebung erfolgte erst knapp drei Monate nach Anklagereife der Sache, ohne dass dafür ein erkennbarer Grund vorlag. - Bandenmäßiges unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge: Verzögerung im Bereich der Staatsanwaltschaft. Die Anklageerhebung erfolgte erst viereinhalb Monate nach Festnahme des Beschuldigten, obwohl bereits alle wesentlichen Ermittlungsergebnisse zu diesem Zeitpunkt vorlagen. 3. Wie gedenkt der Senat dafür Sorge zu tragen, dass es grundsätzlich nicht zu Aufhebungen des Vollzugs der Untersuchungshaft allein wegen des Fristablaufs nach § 121 StPO kommt? Zu 3.: Es ist eine ständige Aufgabe des Senats die Gerichte und Strafverfolgungsbehörden personell und sachlich so auszustatten, dass diese den Beschleunigungsgrundsatz in vollem Umfang gerecht werden können. Gleichwohl liegt die Ausgestaltung des strafgerichtlichen Verfahrens in den Händen der Strafgerichte, welche in richterlicher Unabhängigkeit über die Verfahrensgestaltung entscheiden. Demnach hat der Senat keinen Einfluss auf die konkrete Ausgestaltung des Strafverfahrens beim Amtsgericht Tiergarten , beim Landgericht und beim Kammergericht. Der Senat kann nur den äußeren Rahmen schaffen, um den Gerichten eine Sachbehandlung, die dem Beschleunigungsgrundsatz genügt, zu ermöglichen. Die hier dargestellten Haftentlassungen erfolgten nicht vor dem Hintergrund einer Überlastung der Strafgerichte und der Staatsanwaltschaft. Die Haftentlassung aufgrund einer Verzögerung am Amtsgericht Tiergarten ist wie dargestellt ein Einzelfall, bei dem trotz der tatsächlichen Möglichkeit einer früheren Anberaumung der Hauptverhandlung dies erst verspätet erfolgte. Die anderen Haftentlassungen erfolgten jeweils, weil die Staatsanwaltschaft nicht Anklage erhob, als dies erstmals möglich war, sondern jeweils noch weitere Ermittlungen durchführte, um den Tatverdacht weiter zu untermauern oder in der Hoffnung, noch zusätzliche Straftaten anklagen zu können. 3 Gleichwohl trägt der Senat insbesondere dadurch Sorge dafür, dass es nicht zu Haftbefehlsaufhebungen aufgrund einer Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes kommt, dass den Gerichten und Staatsanwaltschaften das notwendige Personal zur Verfügung gestellt wird, um Überlastungen zu vermeiden. Dies betrifft insbesondere das Landgericht und die Staatsanwaltschaft. Infolge des Stellenzuwachses im Doppelhaushalt 2018/2019 sieht der Geschäftsverteilungsplan 2019 des Landgerichts die Eröffnung von fünf weiteren allgemeinen großen Strafkammern, davon eine Jugendkammer, vor. Zwei große Strafkammern sind bereits zum 1. Januar 2019 besetzt worden. Die Staatsanwaltschaft wurde im Doppelhaushalt 2018/2019 einschließlich des Nachtragshaushalts durch 27 Stellen für zusätzliche Staatsanwältinnen und Staatsanwälte verstärkt. Die weitere personelle Stärkung der Staatsanwaltschaft, des Landgerichts und des Amtsgerichts Tiergarten ist auch Gegenstand der aktuellen Haushaltsberatungen und obliegt dem Haushaltsgesetzgeber. 4. In wie vielen der unter Frage 1.) genannten Fälle a) wurde Anklage erhoben und b) konnte eine Hauptverhandlung gegen die Beschuldigten wegen der die Untersuchungshaft begründenden Delikte mit welchem Ergebnis durchgeführt werden (erbitte gesonderte Darstellung)? Zu 4.: In allen Fällen wurde Anklage erhoben und eine Hauptverhandlung durchgeführt. Das Verfahrensergebnis beziehungsweise der Verfahrensstand stellt sich wie folgt dar: - Wohnungseinbruchdiebstahl: Teilweiser Freispruch, teilweise Verurteilung zu einer Jugendstrafe mit Bewährung, - Bandendiebstahl (2 Beschuldigte in einem Verfahren): Die Beschuldigten wurden zu einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt (noch nicht rechtskräftig), - versuchter besonders schwerer Raub: Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung (noch nicht rechtskräftig), - schwerer sexueller Missbrauch von Kindern (1. Verfahren): Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung, - schwerer sexueller Missbrauch von Kindern (2. Verfahren): Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung, - bewaffnetes unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge : Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung und - bandenmäßiges unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge: Das Verfahren ist wegen einer Erkrankung des Angeklagten noch nicht abgeschlossen . 5. Sind dem Senat seit dem Jahr 2017 Fälle bekannt, in denen die aus der Untersuchungshaft Entlassenen ihre Entlassung zur Flucht und/oder Straftatenbegehung oder dazu genutzt haben, die mutmaßliche Tat zu verdunkeln bzw. Zeugen zu beeinflussen (erbitte gesonderte Darstellung)? Zu 5.: In keinem der genannten Verfahren wurde die Entlassung aus der Untersuchungshaft zur Flucht genutzt. Auch Verdunklungsmaßnahmen sind nicht bekannt geworden. Nur in dem Verfahren wegen versuchten besonders schweren Raubes beging der Beschuldigte nach Haftentlassung weitere Straftaten, allerdings nicht unmittelbar im Anschluss , sondern erst in der Zeit, nachdem er in der hier gegenständlichen Sache bereits verurteilt worden war. 4 6. Welche Maßnahmen ergreift der Senat zum Schutz der mutmaßlichen Opfer der Beschuldigten, die wegen Ablaufs der 6-Monats-Frist aus der Untersuchungshaft entlassen werden müssen? Zu 6.: Die Untersuchungshaft dient der Sicherung des Ermittlungsverfahrens und des strafgerichtlichen Verfahrens. Der Bundesgesetzgeber hat in den §§ 112ff. Strafprozessordnung (StPO) sehr hohe Voraussetzungen für die Untersuchungshaft aufgestellt, da zu diesem Zeitpunkt die Schuld des Täters oder der Täterin noch nicht in einem rechtsstaatlichen Verfahren rechtskräftig festgestellt wurde. Demnach muss neben dem drigenden Tatverdacht auch ein Haftgrund vorliegen. Dabei kommen – dem Zweck der Untersuchungshaft folgend – vor allem die Fluchtgefahr und die Verdunkelungsgefahr in Betracht . Nur in den abschließend in § 112a Abs. 1 Nr. 1 und 2 StPO aufgezählten Fällen stellt die Wiederholungsgefahr einen Haftgrund dar. Die Verhinderung von zukünftigen Straftaten ist Aufgabe der Polizei. Wie in allen Opferschutzfällen werden auch in den Fällen, in denen Tatverdächtige wegen Ablaufs der 6-Monats-Frist aufgrund einer Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes aus der Untersuchungshaft entlassen werden, polizeilicherseits die Standardmaßnahmen zum Schutz der Opfer bzw. der Gefahrenabwehr getroffen. Dies trifft auch auf Sachverhalte zu, denen eine Eilbedürftigkeit zugrunde liegt. Unter der Bezeichnung „Operativer Opferschutz“ werden zudem schwere Opferschutzfälle mit herausragenden Bedrohungslagen geführt, die den koordinierten Einsatz zeugenschutztypischer Mittel und Maßnahmen erfordern. Es handelt sich dabei um nur für ganz spezielle Fallkonstellationen geeignete Schutzmaßnahmen, die einer aufwändigen Prüfung und Planung bedürfen . Diese Prüfung erfolgt – in geeigneten Fällen – lange vor und unabhängig von unvorhergesehenen Haftentlassungen. Berlin, den 26. März 2019 In Vertretung M. Gerlach Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung