Drucksache 18 / 18 415 Schriftliche Anfrage 18. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Thomas Seerig (FDP) vom 31. März 2019 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 02. April 2019) zum Thema: Notübernachtung oder Übernachtungsnot? und Antwort vom 15. April 2019 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 17. April 2019) Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. 1 Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales Herrn Abgeordneten Thomas Seerig (FDP) über den Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin über Senatskanzlei - G Sen - A n t w o r t auf die Schriftliche Anfrage Nr. 18/18415 vom 31.03.2019 über Notübernachtung oder Übernachtungsnot? ------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: 1. Wie hoch ist aus Sicht des Senats der Anteil von Obdachlosen in Berlin, die keine Gemeinschaftsunterkünfte nutzen, da sie ihre Haustiere nicht mitbringen dürfen und/oder dort Alkohol und andere Drogen verboten sind? Zu 1.: Zur Anzahl an Menschen, die die vorhandenen niedrigschwelligen Angebote der Wohnungslosenhilfe nicht annehmen, liegen keine validen Erkenntnisse vor. 2. Welche Konzepte hat der Senat bereits umgesetzt bzw. wird er bis wann umsetzen, um tatsächlich alle Obdachlose in Berlin mit Hilfsangeboten zu erreichen? Zu 2.: Es ist dem Berliner Senat ein großes Anliegen, die Angebotsstrukturen für wohnunslose Menschen, bzw. von Wohnungslosigkeit bedrohten Menschen stetig auszubauen. Ungeachtet der Anstrengungen des Berliner Senats, möglichst jedem betroffenen Menschen ein Angebot zu unterbreiten, muss dennoch davon ausgegangen werden, dass eine tatsächliche Inanspruchnahme nicht in jedem Fall sichergestellt werden kann. Der Berliner Senat fördert im Integrierten Sozialprogramm (ISP) niedrigschwellige ambulante Dienste, teilstationäre und stationäre Unterkünfte in Kooperation mit der LIGA der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege. Die Zielgruppe befindet sich häufig in prekären Lebenslagen. Die Belastungen sind insbesondere bei den obdachlosen, auf der Straße lebenden Menschen besonders groß. 2 Der Berliner Senat fördert bereits aktuell im ISP rd. 25 niedrigschwellige Einrichtungen und Dienste in der Wohnungslosenhilfe. Das Förderprogramm umfasst unterschiedliche - in der Regel anonym zu nutzende - Projekte wie z. B. Beratungsstellen, Notübernachtungen, Straßensozialarbeit, ambulante medizinische Versorgung, Bahnhofsdienste und Beratung für psychisch kranke wohnungslose Frauen. Der Zugang ist niedrigschwellig und erfolgt ohne Prüfung einer sozialhilferechtlichen Anspruchprüfung, um möglichst allen Betroffenen ein Angebot anzubieten. Für die o. g. Einrichtungen und Dienste stehen im Doppelhaushalt 2018/2019 rd. 8,1 Mio. EUR zur Verfügung. Der Aufwuchs betrug rd. 3,9 Mio. EUR. Im Doppelhaushalt 2016/2017 wurde der Mittelansatz bereits um rd. 1,1 Mio. EUR erhöht. Besonders gestärkt wurden die Projekte der Notübernachtungen sowie der Straßensozialarbeit. Die Angebote haben das Ziel, die Menschen in die Regelversorgung zu vermitteln, um sofort eine Versorgungslage sicherzustellen und um dauerhaft die sozialen Schwierigkeiten zu überwinden. Daneben stehen Mittel in Höhe von 1,5 Mio. EUR für Modellprojekte bereit. So werden seit 2018 mehrere Projekte neu gefördert: zwei Projekte „Housing First“, zwei Projekte „Kältehilfebahnhof“ und eine Krankenwohnung. 3. Teilt der Senat die Einschätzung von Betreibern, dass die Öffnung von einigen Einrichtungen auch für Haustiere eine überfällige Maßnahme wäre? 4. Wenn nein, warum nicht? 5. Wenn ja, bis wann wird dies in welchem Umfang wo umgesetzt bzw. initiiert? Zu 3. bis 5.: Im Integrierten Sozialprogramm/ISP werden sechs Notübernachtungen ganzjährig sowie eine Notübernachtung in den Sommermonaten von Mai - Oktober gefördert. Sechs Betreiberinnen bzw. Betreiber haben sich konzeptionell gegen die Aufnahme von Hunden entschieden, da die Notaufnahme und Notversorgung der Menschen im Vordergrund steht. Die Anwesenheit von Haustieren ist zudem für eine nicht geringe Anzahl von Menschen angstbesetzt. Dieser Umstand darf nicht dazu führen, dass auf die Inanspruchnahme von Notübernachtungen verzichtet wird. Insofern steht die Nothilfe für die Menschen klar im Vordergrund. Dessen ungeachtet können Nutzerinnen und Nutzer in Begleitung von Tieren einen Schlafplatz in der Warmlufthalle der Berliner Stadtmission am Containerbahnhof am Ringcenter erhalten. Im Übrigen steht es jedem Betreiber bzw. jeder Betreiberin einer Notunterkunft frei, seine Hausordnung selbst zu gestalten. 6. Teilt der Senat die Einschätzung von Betreibern, dass die Öffnung von einigen Einrichtungen für einen kontrollierten Drogengebrauch (Druckräume o.ä.) eine überfällige Maßnahme wäre? 7. Wenn nein, warum nicht? 8. Wenn ja, bis wann wird dies in welchem Umfang wo umgesetzt bzw. initiiert? Zu 6. bis 8.: Der Berliner Senat teilt die Auffassung nicht. Drogenkonsumräume unterliegen rechtlichen und formalen Anforderungen wie dem Betäubungsmittelgesetz und der Berliner Verordnung über die Erteilung einer Erlaubnis für den Betrieb von Drogenkonsumräumen vom 10.12.2002. Darüber hinaus erfordert der Umgang mit dieser Zielgruppe in der Suchthilfe qualifiziertes und erfahrenes Personal, das in der Lage ist, bei Notfällen, Krisen und Konflikten adäquat zu reagieren. 3 Die für Soziales zuständige Senatsverwaltung ist allerdings grundsätzlich der Auffassung, dass auch wohnungslose Drogennutzerinnen und Drogennutzer einen Bedarf an niedrigschwelliger Notübernachtung aufweisen können. Aus diesem Grund streben die für Soziales und Gesundheit zuständigen Senatsverwaltungen ein Kooperationsprojekt mit diesem Konzeptionsinhalt an. Eine mögliche Umsetzung ist u. a. abhängig von einer Immobilie sowie der Bereitstellung notwendiger Haushaltsmittel im Doppelhaushalt 2020/2021. 9. Teilt der Senat die Einschätzung des Fragestellers, dass gerade Angebote der Kältehilfe als Pilotprojekte in Sachen „Mitnahme von Hunden“ und/oder „kontrolliertem Drogengebrauch“ geeignet wären? 10. Wenn nein, warum nicht? 11. Wenn ja, welche Maßnahmen wird der Senat diesbezüglich bis wann ergreifen? Zu 9. bis 11.: Im Rahmen der Kältehilfe werden an einzelnen Standorten auch Tiere akzeptiert. Die jeweiligen Standorte können von den Betroffenen jederzeit im in unterschiedlichen Sprachen zur Verfügung stehenden „Kältehilfewegweiser“ (https://www.kaeltehilfe-berlin.de/angebot/wegweiser) oder der Berliner „Kältehilfe-App“ entnommen werden. 12. Welche weiteren Gründe gibt es aus Senatssicht für die Nichtnutzung von Notunterkünften und welche Lösungswege sieht man hier? Zu 12.: Wohnungslosigkeit in Berlin ist - wie in anderen Ballungsräumen auch eine aktuelle sozialpolitische Problemlage, die alle handelnden Akteurinnen und Akteure vor große Herausforderungen stellt. Berlin als Bundeshauptstadt und stark wachsender Stadt kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Der Zuzug aus den unterschiedlichsten Gründen sowohl aus unterschiedlichen Regionen Deutschlands als auch aus dem Ausland führt insgesamt zu einer größeren Nachfrage nach Wohnraum in Berlin. Daneben sind die Durchschnittsmieten in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen. Damit wird es für zunehmend mehr Menschen schwierig, passenden Wohnraum zu finden. Auch ist zu konstatieren, dass der Personenkreis der wohnungslosen, bzw. von Wohnungslosigkeit bedrohten Menschen äußerst heterogen ist und unterschiedliche Gründe die Ursache für den Eintritt der Wohnungslosigkeit darstellen können. Daher hält das Land Berlin ein seit Jahren stetig weiterentwickeltes differenziertes Wohnungsnotfallhilfesystem bereit, das niedrigschwellig erreichbare Aufenthalts- und Beratungsmöglichkeiten, Übernachtungsstätten, ambulante Hilfen, kommunale Fachstellen für Wohnungsnotfälle, Wohnprojekte besonderer Art, (teil-)stationäre Einrichtungen etc. umfasst. Trotz aller Bemühungen, dieses System in allen Angebotsstrukturen stetig auszubauen, ist die Ausgangslage der Wohnungsnotfallhilfe und die Situation der betroffenen Menschen nicht einfacher geworden und es ist eine insgesamt steigende Anzahl Betroffener zu verzeichnen. Dies zeigt, dass es notwendig ist, die vorhandenen Strukturen zu sichern und weiterzuentwickeln, um diese an eine sich verändernde Bedarfslage anzupassen. Dabei kommt der Prävention, d. h. dem Erhalt von Wohnraum sowie eine möglichst zeitnahe Wiedererlangung von Wohnraum eine besondere Bedeutung zu. Dies bedeutet, dass alle Maßnahmen zu ergreifen sind, die auf der strukturellen Ebene zusätzlichen bezahlbaren Wohnraum schaffen und auf der individuellen Ebene einen 4 Wohnraumverlust verhindern oder eine bereits eingetretene Wohnungslosigkeit schnellstmöglich beenden. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass es keine Verpflichtung zur Inanspruchnahme von Angeboten oder Unterkünften besteht. Die Entscheidung von Einzelnen, Tag und Nacht im Freien zu leben, ist Ausdruck des verfassungsrechtlich geschützten Rechtes auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit gemäß Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG. Das Selbstbestimmungsrecht der Einzelnen verbietet es in diesem Fall den staatlichen Organen, ihnen Hilfe gegen ihren Willen aufzuzwingen. Berlin, den 15. April 2019 In Vertretung Alexander F i s c h e r _____________________________ Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales