Drucksache 18 / 18 453 Schriftliche Anfrage 18. Wahlperiode Schriftliche Anfrage der Abgeordneten Daniel Wesener und Sebastian Walter (GRÜNE) vom 03. April 2019 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 04. April 2019) zum Thema: Rechtlicher Handlungsbedarf zugunsten der Rückgabe von Kulturgütern und menschlichen Gebeinen aus kolonialen Unrechtskontexten und Antwort vom 17. April 2019 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 24. Apr. 2019) Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Seite 1 von 5 Senatsverwaltung für Kultur und Europa Herren Daniel Wesener und Sebastian Walter (GRÜNE) über den Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin über Senatskanzlei – G Sen – Antwort auf die Schriftliche Anfrage Nr. 18 / 18453 vom 03.04.2019 über Rechtlicher Handlungsbedarf zugunsten der Rückgabe von Kulturgütern und menschlichen Gebeinen aus kolonialen Unrechtskontexten Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: Vorbemerkung: In dem Beschluss „Erste Eckpunkte zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten der Staatsministerin des Bundes für Kultur und Medien, der Staatsministerin im Auswärtigen Amt für internationale Kulturpolitik, der Kulturministerinnen und Kulturminister der Länder und der kommunalen Spitzenverbände“ vom 13. März 2019 heißt es: „Sofern rechtlicher Handlungsbedarf besteht, um die Rückführung von Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten zu ermöglichen, wird dem nachgekommen.“ (S. 7, Zeile 19f.). 1.) Wie bewertet der Senat diesen Beschluss, insbesondere hinsichtlich der oben zitierten Passage? Und was unternimmt der Senat konkret, um die in den „Ersten Eckpunkten“ vereinbarten Ziele und Maßnahmen auf Berliner Landesebene umzusetzen? Zu 1.): Mit den „Ersten Eckpunkten“ haben Bund, Länder und kommunale Spitzenverbände eine gemeinsame Grundlage für den künftigen verantwortungsvollen Umgang mit Objekten und Sammlungsgütern aus kolonialen Kontexten geschaffen. Darin wurden die zentralen Handlungsfelder wie Transparenz, Präsentation und Vermittlung, Provenienzforschung und Rückführung der Kulturgüter benannt. Auf dieser Basis ist ein vertiefter ergebnisorientierter Austausch über die Kernfragen geplant. Dabei soll auch das Fachwissen von Experten aus den Herkunftsländern, Deutschland und Europa angemessen berücksichtigt werden. Ergänzend haben die Länder Berlin, Hamburg, Thüringen, Brandenburg und Bremen in einer Protokollerklärung weitergehende Positionen formuliert, die sie im weiteren Diskussionsprozess einbringen und vertreten werden. Auch zu der oben zitierten Passage der „Ersten Eckpunkte“ soll ein vertiefter Dialog bzw. Austausch noch stattfinden. Unabhängig vom Beschluss der „Ersten Eckpunkte“ ist und war sich der Senat der historischen Verantwortung im Zusammenhang mit dem deutschen Kolonialismus bewusst. Dabei setzt der Senat auf den offenen Dialog, den Austausch und die Kooperation mit den Herkunftsstaaten und den Herkunftsgesellschaften. Folgende Seite 2 von 5 Projekte seien beispielhaft genannt: Das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste, eine von Bund, Ländern und kommunalen Spitzenverbänden errichtete Stiftung, hat im Januar 2019 entsprechend einem Beschluss des Stiftungsrates seine Fördertätigkeit auch auf Projekte zur Aufarbeitung der Provenienzen von Kulturgut aus kolonialen Kontexten sowie thematische Grundlagenforschung erweitert. Die entsprechende Förderrichtlinie ist zum 1. Januar 2019 in Kraft getreten. Ein neuer Förderbeirat „Koloniale Kontexte“ für die Evaluierung von Projektanträgen besteht seit Februar 2019. Dadurch wurden die Voraussetzungen für eine Antragstellung zum 1. Juni 2019 geschaffen. Zugleich hat der neue Fachbereich des Zentrums „Kulturgut aus kolonialen Kontexten“ seine Arbeit aufgenommen. Er befindet sich personell und organisatorisch noch im Aufbau; derzeit sind zwei von vier Stellen des Fachbereichs besetzt. Die Kolonialgeschichte wird in den Ausstellungen der Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss, u.a. in der „Berlin Ausstellung“ des Stadtmuseums Berlin sowie in den Ausstellungen des Humboldt Labors der Humboldt-Universität zu Berlin kritisch aufgearbeitet und vermittelt werden. Im Rahmen der „Berlin Ausstellung“ soll die deutsche Kolonialzeit punktuell im Kontext verschiedener Themenschwerpunkte beleuchtet werden mit Fokus auf Berlin als Hauptstadt des Deutschen Kaiserreichs und Zentrum der deutschen Kolonialpolitik. Das Humboldt Labor der Humboldt- Universität zu Berlin wird anhand eigener Sammlungsbestände, aber auch mittels Leihgaben anderer Institutionen die Verflechtungen von Wissenschaft und Kolonialgeschichte in seinen Ausstellungen und Veranstaltungen thematisieren. Das Museum für Naturkunde Berlin ist bereits auf mehreren Handlungsfeldern der „Ersten Eckpunkte“ tätig gewesen und tätig. Im Sinne der Ziele „Provenienzforschung“ und „Transparenz und Dokumentation“ hat das Museum bereits 2013 in der Förderrichtlinie ‚Sprache der Objekte‘ des BMBF ein Forschungsprojekt zur Geschichte der Paläontologischen Grabungen in Deutsch- Ostafrika (heute: Tansania) und den nachfolgenden Jahren eingeworben und ab 2015 in Zusammenarbeit mit der Humboldt-Universität zu Berlin, der Technischen Universität Berlin und zwei tansanischen Historikern durchgeführt. Es handelt sich um die bergmännische Bergung von Bruchstücken von Knochen und Ähnlichem, die dann in jahrelanger wissenschaftlicher Arbeit zu ganzen Knochen / Knochenmodellen, und dann mithilfe von umfangreicher paläontologischer, biomechanischer und physiologischer naturwissenschaftlicher Arbeit zu dem im Museum präsentierten Modell des Dinosauriers Brachiosaurus brancai zusammengefügt wurden. Die Bruchstücksammlung aus den damalig neu angelegten Gruben wird seit 1913 in Berlin von Teams von nationalen und internationalen Forscherinnen und Forschern bearbeitet und resultierte bisher in knapp hundert wissenschaftlichen Publikationen. Damit erfüllen die Sammlungen den Anspruch einer globalen wissenschaftlichen Infrastruktur. Die Ergebnisse des 2015 begonnenen Forschungsprojektes wurden im Buch „Dinosaurierfragmente“ (Wallstein Verlag, 2018) veröffentlicht. Damit nimmt das Museum bezüglich Provenienzforschung eine weltweite Vorreiterrolle auf dem Sektor der Naturkundemuseen ein. Parallel zu diesem Forschungsprojekt hat das Museum im Sinne der Ziele „Kulturaustausch, internationale Kooperationen“ und „Wissenschaft und Forschung“ mit dem Aufbau von Kooperationen mit wissenschaftlichen und Museumspartnern in Tansania begonnen. Ziel ist hier eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe, die das Berliner Museum durch wissenschaftliche und technische Seite 3 von 5 Ausbildungsaktivitäten unterstützen möchte. In einem ersten Schritt sind zwei Mitarbeitende des National Museum of Tansania 2019 für eine mehrmonatige Fortbildung im Ausstellungsbereich des Museums für Naturkunde Berlin. Das Museum strebt zudem die Realisierung eines musealen Projekts mit Bezug zu den Dinosauriern aus Tansania an, das in Tansania präsentiert werden soll und für welches Mittel des Auswärtigen Amtes angestrebt werden. Die Charité - Universitätsmedizin Berlin (Charité) führt aktuell in einem von der Fritz Thyssen Stiftung geförderten Forschungsvorhaben proaktiv ein Provenienzforschungsprojekt an menschlichen Überresten aus Afrika und Ozeanien durch. Das Projekt orientiert sich an den vom Deutschen Museumsbund erstellten „Empfehlungen zum Umgang mit menschlichen Überresten in Museen und Sammlungen“ von 2013 und am „Leitfaden zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten“ von 2018. Die Provenienzforschungen erfolgen weitgehend im fachwissenschaftlichen Austausch mit Experten aus den Herkunftsländern. Ziel ist es, nach Abschluss des Vorhabens im November 2019 sowohl mit den Herkunftsgesellschaften als auch mit den politischen Repräsentantinnen und Repräsentanten der jeweiligen Länder in einen Dialog über eine eventuelle Rückgabe einzutreten. Neben der Erforschung des Sammlungskontextes und der Provenienz der o.g. Überreste liegen aktuell konkrete Rückgabeforderungen menschlicher Überreste aus Neuseeland vor. Die Provenienzforschungen hierzu wurden bereits 2018 abgeschlossen. Ihre Rückführung ist im Dialog mit den zuständigen neuseeländischen Behörden für den 29. April 2019 in Vorbereitung. Das Schöneberg Museum richtete im Jahre 2017 eine mit Mitteln des Senats geförderte Sonderausstellung aus, die sich mit der kolonialhistorischen Vergangenheit im heutigen Bezirk Tempelhof-Schöneberg befasste. Sie setzte sich kritisch mit der Politik der deutschen Kolonialmacht auseinander und behandelte dabei Themen wie Rassismus, Migration, Ausbeutung und Stereotypenbildung. Sie war als eine offene Forschungswerkstatt konzipiert und war ein Ort für themenbezogene, generationsübergreifende Begegnungen, Diskussionen und Veranstaltungen (u.a. Vorträge, Stadtführungen, Workshops für Schulen und Studierende). Das Bezirksmuseum Treptow-Köpenick präsentiert bundesweit erstmalig eine Dauerausstellung zur Geschichte von Kolonialismus, Rassismus und Widerstand. Die Ausstellung „zurückgeschaut“ thematisiert die Erste Deutsche Kolonialausstellung, die 1896 im Treptower Park stattfand. Mit ihrer aufwendigen Inszenierung des deutschen Kolonialstaates ist sie ein zentrales Ereignis der globalen Geschichte Berlins. Die Ausstellung „zurückgeschaut“ ist das Ergebnis einer vom Bezirksmuseum Treptow initiierten und auf Nachhaltigkeit angelegten Kooperation mit der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland und mit Berlin Postkolonial e.V. 2.) Besteht aus Sicht des Senats auch in Berlin „rechtlicher Handlungsbedarf“, um Rückführungen von Kulturgütern und/oder menschlichen Schädeln und Gebeinen aus kolonialen Unrechtskontexten im Sinne der „Ersten Eckpunkte“ zu ermöglichen? Wenn ja: warum und in welcher Hinsicht? Wenn nein: warum nicht? Seite 4 von 5 Zu 2.): Die rechtlichen Voraussetzungen für eine etwaige Rückgabe von Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten richten sich für die jeweiligen Einrichtungen nach dem entsprechenden Bundes-, Landes- und Organisationsrecht, u.a. den Haushaltsordnungen des Bundes, der Länder und der Kommunen. Der Senat teilt die in den „Ersten Eckpunkten“ festgehaltene Auffassung, dass nach der derzeitigen Rechtslage Rückgaben von Kulturgütern aus kolonialen Kontexten grundsätzlich möglich sind. So sind nach eingeholter Auskunft der Charité die rechtlichen Voraussetzungen für die Rückführung von menschlichen Überresten gegeben. Somit besteht insoweit kein rechtlicher Handlungsbedarf. In der Protokollerklärung der Länder Berlin, Hamburg, Thüringen, Brandenburg und Bremen erklärten diese, dass sie sich für eine spätestens drei Jahre nach Beschluss der „Ersten Eckpunkte“ durchzuführende Evaluierung der bisherigen Restitutionspraxis durch Bund, Länder und Kommunen einsetzen würden. Diese Evaluierung kann ggf. auch zeigen, ob gesetzgeberische Maßnahmen erforderlich sind, um Restitutionen kolonialen Raubguts mit der für alle Parteien erforderlichen Rechtssicherheit zu gewährleisten. 3.) Wie verhält es sich in diesem Zusammenhang mit der Berliner Landeshaushaltsordnung (LHO)? Sind hier aus Sicht des Senats Restitutionen – z.B. durch § 63 Absatz 3 und 4 – hinreichend haushaltsrechtlich geregelt? 3.a) Wenn ja: Inwiefern? Bräuchte es nicht vielmehr jenseits von „Ausnahmen im Haushaltsplan“ resp. „Ausnahmen durch die Senatsverwaltung für Finanzen oder den Hauptausschuss im dringenden Interesse Berlins“ eine konkrete, generelle Rechtsgrundlage? 3.b) Wenn nein: Beabsichtigt der Senat eine entsprechende Novellierung der LHO und/oder der entsprechenden Ausführungsvorschriften? Welchen Änderungsgehalt müsste eine solche haben, um die rechtlichen Voraussetzungen für die Rückgabe von kolonialer Raubkunst und/oder menschlichen Schädeln und Gebeinen auf Landesebene zu verbessern? Strebt der Senat dabei eine Ergänzung der in § 63 Absatz 4 LHO genannten Ausnahmebeispiele (aus dem Bereich der Liegenschaftspolitik) an, oder eine generelle Regelung, mit der Einzelfallentscheidungen bzw. -ermächtigungen obsolet werden? Zu 3.) bis 3.b): Die Fragen 3 bis 3 b werden gemeinsam beantwortet. Für die Rückgabe von Kulturgütern aus kolonialen Kontexten ist § 63 Abs. 3 und 4 LHO grundsätzlich nicht einschlägig. Diese Vorschrift regelt insbesondere die Veräußerung von Vermögensgegenständen des Landes Berlin. Für öffentlichrechtliche Einrichtungen, wie beispielsweise die Museumsstiftungen des Landes Berlin, gelten die §§ 105 ff. LHO. Somit sind für die Rückgabe von Kulturgütern aus kolonialen Kontexten durch die Museumsstiftungen des Landes Berlin die einschlägigen Regelungen des Museumsstiftungsgesetzes und der jeweiligen Satzung zu berücksichtigen. 4.) Sieht der Senat sonstigen landes- und/oder organisationsrechtlichen Handlungsbedarf, um Restitutionen rechtlich zu ermöglichen, etwa hinsichtlich der Statuten der Stiftung Stadtmuseum, der Stiftung Preußischer Kulturbesitz oder weiterer Einrichtungen, für die das Land Berlin (Mit- )Verantwortung trägt? Wenn ja: Inwiefern? Und was unternimmt der Senat, um diese rechtlichen Voraussetzungen zu schaffen? Seite 5 von 5 Zu 4.): Der Senat geht davon aus, dass die vermögensrechtlichen Regelungen im Museumsstiftungsgesetz und der jeweiligen Satzung die Rückgabe von Kulturgütern aus kolonialen Kontexten nicht ausschließen. Über die Rückgabe im Einzelfall entscheidet der jeweilige Stiftungsrat. Sollte sich im Ergebnis der in Aussicht genommenen Evaluierung der Restitutionspraxis ein rechtlicher Handlungsbedarf zeigen, sollte vielmehr auf allgemeinverbindliche Regelungen anstatt statutarischer Einzellösungen hingewirkt werden, zumal die Statuten als Binnenrecht der Einrichtungen keine Grundlage für subjektiv-öffentliche Rechte außenstehender Dritter bilden. 5.) Welche politischen und rechtlichen Konsequenzen hat die Feststellung in der Protokollerklärung der Länder Berlin, Hamburg, Thüringen, Brandenburg und Bremen zu den „Ersten Eckpunkten“, in der es heißt: „Bei menschlichen Überresten muss grundsätzlich von einer gewaltsamen Aneignung ausgegangen werden.“? Zu 5.): Daraus ist die moralische Verpflichtung abzuleiten, menschliche Überreste grundsätzlich zurückzugeben, sofern ihre Herkunft geklärt ist und die Restitution von den Nachkommen, Herkunftsgesellschaften oder Nachfolgestaaten gewünscht wird. Bezüglich der Rückgabe von menschlichen Überresten wird auch auf die Antwort zur Schriftlichen Anfrage Nr. 18/15 896 verwiesen. Berlin, den 17.04.2019 In Vertretung Dr. Torsten Wöhlert Senatsverwaltung für Kultur und Europa