Drucksache 18 / 20 891 Schriftliche Anfrage 18. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Sebastian Schlüsselburg (LINKE) vom 04. September 2019 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 04. September 2019) zum Thema: Umsetzung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes zum Schutz des Kernbereiches privater Lebensgestaltung bei Überwachungsmaßnahmen und Antwort vom 24. Sep. 2019 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 26. Sep. 2019) Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung Herrn Sebastian Schlüsselburg (Die Linke) über den Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin über Senatskanzlei - G Sen - A n t w o r t auf die Schriftliche Anfrage Nr. 18/20891 vom 4. September 2019 über Umsetzung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung bei Überwachungsmaßnahmen -------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: Vorbemerkung des Abgeordneten: Das Bundesverfassungsgericht hat im BKA-Gesetz-Urteil (BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 20. April 2016 - 1 BvR 966/09 ausgeführt, dass neben den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die allgemeinen Eingriffsvoraussetzungen sich aus den jeweiligen Grundrechten in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG für die Durchführung von besonders eingriffsintensiven Überwachungsmaßnahmen besondere Anforderungen an den Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung ergeben. Bei der Durchführung von Überwachungsmaßnahmen muss dem Kernbereichsschutz auf zwei Ebenen Rechnung getragen werden. Zum einen sind auf der Ebene der Datenerhebung Vorkehrungen zu treffen, die eine unbeabsichtigte Miterfassung von Kernbereichsinformationen nach Möglichkeit ausschließen. Zum anderen sind auf der Ebene der nachgelagerten Auswertung und Verwertung die Folgen eines dennoch nicht vermiedenen Eindringens in den Kernbereich privater Lebensgestaltung strikt zu minimieren. Auf der Ebene der Datenerhebung ist bei verletzungsgeneigten Maßnahmen durch eine vorgelagerte Prüfung sicherzustellen, dass die Erfassung von kernbereichsrelevanten Situationen oder Gesprächen jedenfalls insoweit ausgeschlossen ist, als sich diese mit praktisch zu bewältigendem Aufwand im Vorfeld vermeiden lässt. Auf der Ebene der Auswertung und Verwertung hat der Gesetzgeber für den Fall, dass die Erfassung von kernbereichsrelevanten Informationen nicht vermieden werden konnte, in der Regel die Sichtung der erfassten Daten durch eine unabhängige Stelle vorzusehen, die die kernbereichsrelevanten Informationen vor deren Verwendung durch die Sicherheitsbehörden herausfiltert. 1. Durch welche Maßnahmen stellt er bei Staatsanwaltschaft und Polizei sicher, dass auf der Ebene der Datenerhebungen sowie auf der Ebene der nachgelagerten Auswertung und Verwertung der Kernbereich privater Lebensgestaltung geschützt wird? Zu 1.: Die Staatsanwaltschaft führt selbst keine heimlichen Überwachungsmaßnahmen durch, sondern beauftragt hiermit die Polizei. Gleichwohl obliegt der Staatsanwaltschaft im Rahmen ihrer Sachleitungsbefugnis im Ermittlungsverfahren die Entscheidung über die Einordnung, welche Kommunikationsinhalte zum Kernbereich höchstpersönlicher Lebensgestaltung gehören. Aufgrund dieser Befugnis entscheidet sie auch über eine etwaige Löschung derartiger Kommunikationsinhalte . Allgemein ist festzuhalten, dass im Rahmen verdeckter Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen die dem Kernbereich zugeordnete Kommunikation nicht ausgewertet wird. Sofern aufgezeichnete Gespräche von vereidigten Dolmetscherinnen und Dolmetschern abgehört werden, sind diese entsprechend geschult und filtern die Gespräche 2 hinsichtlich Tatrelevanz und Bezügen zum Kernbereich. Wird ein Kernbereichsbezug festgestellt, wird diese Tatsache ohne weitere Inhalte notiert, so dass der Inhalt dem Auswertungsbereich nicht zur Kenntnis gelangt. In anderen Fällen wird ebenfalls nur festgehalten, dass es sich um ein Gespräch mit Kernbereichsrelevanz handelt. Die Löschung erfolgt in Absprache mit der Staatsanwaltschaft und wird protokolliert, ohne dass kernbereichsrelevante Daten an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet werden. Würden auf Seiten der Staatsanwaltschaft dennoch Daten bekannt, denen sie Kernbereichsrelevanz zumäße, ergeben sich die erforderlichen Maßnahmen aus § 100d Strafprozessordnung (StPO). Hierzu stehen den Dezernentinnen und Dezernenten neben der jeweils einschlägigen aktuellen Kommentarliteratur seit 2011 ergänzend auch ausführliche Informationen aus der „Gemeinsamen Leitlinie der Generalstaatsanwälte zur Bestimmung kernbereichsrelevanter Telekommunikation (…)“ zur Verfügung. Die Leitlinie verhält sich neben Hinweisen zur Identifizierung kernbereichsrelevanter Sachverhalte auch zur Frage der Löschung und Dokumentation sowie der Benachrichtigung betroffener Personen. Auch die Polizei orientiert sich neben den gesetzlichen Vorgaben bei der Erhebung, Auswertung, Verwertung und Löschung von Telekommunikationsdaten im Rahmen der Strafverfolgung an der vorgenannten Leitlinie der Generalstaatsanwälte, um den Kernbereichsschutz zu gewährleisten. Sie richtet sich zudem bei der Verarbeitung von Daten, die nicht aus einer telekommunikationsgestützten , akustischen Überwachung stammen, ebenfalls nach den gesetzlichen Vorschriften sowie den Handlungsempfehlungen der Leitlinie. 2. Jeweils welche unabhängige Stelle bei Staatsanwaltschaft und Polizei ist für die Sichtung der erfassten Daten auf der zweiten Ebene zuständig und filtert die kernbereichsrelevanten Daten vor deren Verwendung durch die Sicherheitsbehörden heraus? Zu 2.: Die unabhängige Stelle, die über die Unverwertbarkeit erhobener Daten wegen Eingriffs in den Kernbereich privater Lebensgestaltung entscheidet, ist nach § 100d Abs. 3 Sätze 2 und 3 und § 100d Abs. 4 Sätze 4 und 5 StPO das Gericht. Stellen die zuständigen polizeilichen Fachdienststellen bei der Sichtung, Auswertung und Bewertung von Daten Inhalte fest, welche dem Kernbereich privater Lebensgestaltung zuzurechnen sind oder sein könnten, werden diese als solche in dem Datenverarbeitungssystem gekennzeichnet und für einen weiteren Zugriff bis zur Entscheidung durch die Staatsanwaltschaft gesperrt. Die sachbearbeitende Fachdienststelle der Polizei Berlin führt sodann eine Entscheidung der Staatsanwaltschaft herbei. 3. Mit welchen konkreten Maßnahmen zur Gewährleistung des Kernbereichschutzes hat der Senat bei Staatsanwaltschaft und Polizei auf das Urteil vom 20. April 2016 reagiert? Hat er dabei die Beauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit hinzugezogen? Wenn ja, mit welchem Ergebnis? Wenn nein, warum nicht? Zu 3.: Gegenstand des Urteils vom 20. April 2016 war das Polizeirecht des Bundes. Für präventive eingriffsintensive Datenerhebungen auf Landesebene ist eine Regelung zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung in § 25 Absatz 4a Allgemeines Gesetz zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in Berlin (ASOG Bln) vorhanden . Hier prüft der Senat, ob und welche Anpassungen des ASOG aufgrund des Bundeskriminalamtgesetz-Urteils angezeigt sind und bereitet einen entsprechenden Gesetzentwurf vor. Es ist geplant, den Entwurf mit einem weiteren Gesetzentwurf zur be- 3 reichsspezifischen Anpassung datenschutzrechtlicher Regelungen des ASOG an die Richtlinie (EU) 2016/680 zu verbinden. Die Berliner Beauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit wird in das Verfahren einbezogen. 4. In wie vielen Einzelfällen ist es seit dem 20. April 2016 auf jeweils welcher Rechtsgrundlage zu jeweils welchen Überwachungsmaßnahmen in jeweils welchen Zeiträumen gekommen? In wie vielen dieser Fälle handelte es sich um jeweils wie lange andauernde Live-Überwachungen und in wie vielen dieser Fälle wurde jeweils wie lange automatisiert überwacht? Welche Gesamtmenge an Daten (in Gigabyte) wurde bei jedem Einzelfall sowie insgesamt pro Jahr erhoben? 5. Wann und wie oft handelte es sich bei den vorbezeichneten Fällen um Wohnraumüberwachungen und wann und wie oft um Überwachungen ohne Wohnraumbezug? Zu 4. und 5.: Strafprozessual kann die Erhebung von Daten, die dem Kernbereich privater Lebensgestaltung unterfallen könnten, aus Maßnahmen nach den §§ 100a, b, c oder f StPO oder auch auf Erkenntnissen aus einer Observation (§ 163f StPO) resultieren. Soweit es Maßnahmen der Telekommunikationsüberwachung (§ 100a StPO), der Online -Durchsuchung (§ 100b StPO) und der akustischen Wohnraumüberwachung (§ 100c StPO) anbelangt, berichten die Länder dem Bundesamt für Justiz kalenderjährlich bis zum 30. Juni über die in ihrem Zuständigkeitsbereich im Vorjahr angeordneten Maßnahmen . Darüber hinaus wird jährlich auch dem Abgeordnetenhaus über diese Maßnahmen berichtet, vgl. zuletzt die Drucksachen 18/2090 und 18/1836. Diese Daten werden bei den Strafverfolgungsbehörden ausschließlich für die in § 101b StPO genannten Statistiken erhoben. Sie müssen nach Erstattung der Statistiken wieder gelöscht werden. Daher können die gewünschten weiterführenden statistischen Auswertungen nicht erfolgen. Fälle nicht-telekommunikationsgestützter Überwachungsmaßnahmen außerhalb von Wohnraum werden von den Strafverfolgungsbehörden nicht gesondert erfasst. Soweit bei den für technische Überwachungsmaßnahmen zuständigen Fachdienststellen der Berliner Polizei seit dem 20. April 2016 Antragsersuchen von Berliner Strafverfolgungsbehörden zur akustischen Überwachung umgesetzt wurden, betraf kein Fall einen Wohnraum . In einem Fall erfolgte eine Überwachung gemäß § 25 ASOG. Auch diese Überwachung betraf keinen Wohnraum. 6. In welchen der vorbezeichneten Fälle kam es bereits auf der Ebene der Datenerhebung wie oft zu einer Erfassung kernbereichsrelevanter Informationen? Wie oft konnte in welchen Fällen durch welche Maßnahmen diese Erfassung vermieden werden bzw. wurden die erfassten Daten durch wen gelöscht? 7. In welchen der vorbezeichneten Fälle wurden auf der Ebene der Auswertung und Verwertung von Daten in welcher Gesamtgröße und Dauer kernbereichsrelevante Infortmationen durch welche unabhängige Stelle vor Weiterleitung an die Auswertungsabteilungen herausgefiltert und gelöscht? Zu 6. und 7.: Eine statistische Erhebung der aus den Überwachungsmaßnahmen gewonnenen Daten erfolgt nicht. 4 8. Welche personellen (in VZÄ) und technischen Investitionen in welcher Höhe hat der Senat seit dem 20. April 2016 unternommen, um den Kernbereichsschutz auf beiden vorbezeichneten Ebenen zu gewährleisten ? Zu 8.: Im Hinblick auf den Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung haben sich seit dem 20. April 2016 bei der Erhebung, Auswertung, Verwertung und Löschung von Telekommunikationsüberwachungsdaten keine Änderungen ergeben. Berlin, den 24. September 2019 In Vertretung Dr. Brückner Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung