Drucksache 18 / 21 109 Schriftliche Anfrage 18. Wahlperiode Schriftliche Anfrage der Abgeordneten Ülker Radziwill (SPD) vom 19. September 2019 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 25. September 2019) zum Thema: Einsatz von Titandioxid zur Minderung von Stickoxiden und Antwort vom 08. Oktober 2019 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 14. Okt. 2019) Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. 1 Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz Frau Abgeordnete Ülker Radziwill (SPD) über den Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin über Senatskanzlei - G Sen - A n t w o r t auf die Schriftliche Anfrage Nr. 18/21109 vom 19.09.2019 über Einsatz von Titandioxid zur Minderung von Stickoxiden Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: Frage 1: Wie bewertet der Senat die Wirkungsweise von Titandioxid (TiO2) zum Abbau von Stickoxiden aus der Luft und die Möglichkeit den Betonzusatzstoff in Berlin einzusetzen? Antwort zu 1: Titandioxid (TiO2) ist eine fotokatalytisch wirksame Substanz, mit der Oberflächen im Straßenraum, wie zum Beispiel Lärmschutzwände, beschichtet werden können oder die bei Straßensanierungen oder -neubau als titandioxidhaltiger Split in den Beton von Fahrbahndecken eingewalzt wird. Durch die fotokatalytische Wirkung wird an der Oberfläche bei Sonnenlicht Stickstoffdioxid (NO2) zu wasserlöslichem, partikelförmigem Nitrat umgewandelt, das schließlich vom Regen weggespült wird. Die stickoxidabbauende Wirkung tritt nur im unmittelbaren Bereich der fotokatalytischen Oberfläche auf, sodass die Wirkung auf die durch den Kfz- Verkehr verursachte Stickstoffdioxidbelastung in dem vergleichsweise großen Luftvolumen einer innerstädtischen Straßenschlucht sehr begrenzt ist. Ein weiterer wirkungslimitierender Faktor besteht darin, dass die Wirkung nur tagsüber bei Sonneneinstrahlung eintritt. Die stickoxidabbauende Wirkung fällt gerade im Winterhalbjahr kaum in die besonders verkehrsintensive Zeit am frühen Morgen und frühen Abend, wenn die NO2-Konzentrationen besonders hoch sind. Frage 2: Wurde das Verfahren bereits in Berlin angewendet? Wenn ja, welche Erfahrungen liegen hierzu vor? 2 Antwort zu 2: Bei den durch die Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz durchgeführten Straßenbauprojekten kam Titandioxid bislang nicht zum Einsatz. Dem Senat liegen auch keine Kenntnisse über eine Anwendung durch die Tiefbauämter der Bezirke vor. Frage 3: Sind dem Senat Erfahrungen anderer Bundesländer oder Kommunen bekannt, bei denen Titandioxid als Betonzusatz-stoff für Pflastersteine, in Asphalt oder in Farbanstrichen bereits zum Einsatz kommt (z.B. in Stuttgart, dem Land Brandenburg auf der Bundesstraße 1 oder weiteren) im Hinblick auf die Reduktion von Stickoxiden? Antwort zu 3: Nach Kenntnis des Senats wurde in Stuttgart im Bereich eines hochbelasteten Straßenabschnitts am Neckartor die Fahrbahn erneuert und mit einer titandioxidhaltigen Deckschicht versehen. Das erst im Mai 2019 gestartete Projekt wird wissenschaftlich begleitet, um den schadstoffmindernden Effekt zu messen. Ergebnisse sind bislang noch nicht veröffentlicht worden. Allerdings liegt inzwischen das Ergebnis einer von der Bundesanstalt für Straßenwesen (BAST) im Zeitraum von 2011-2014 durchgeführten Pilotstudie entlang eines Autobahnabschnitts vor. Damals wurde eine 1 km lange Lärmschutzwand entlang einer 6- spurigen Autobahn mit Titandioxid beschichtet. In etwa zweieinhalb Meter Entfernung von der Lärmschutzwand hin zum Fahrbahnrand wurde ein NO2-Minderungspotenzial im unteren einstelligen Prozentbereich gemessen. Etwas höhere Minderungsraten wurden dann beobachtet, wenn die Schadstoffe sich aufgrund der vorherrschenden Queranströmung über längere Zeiträume an der photoaktiven Wand aufhalten konnten. An der B 433 in Hamburg wurde z. B. über eine Länge von etwa 200 m in eine hohlraumreiche Asphaltschicht ein Mörtel eingebracht, der TiO2 enthält. Ergebnisse wurden zu diesem Projekt noch nicht veröffentlicht. Frage 3 a: Wenn ja, welche Rückschlüsse zieht der Senat daraus, für einen möglichen Einsatz in Berlin? Frage 4: Wie bewertet der Senat den Einsatz von Titandioxid im Hinblick auf Orte, in denen die Stickoxid-Grenzwerte bereits überschritten werden? Antwort zu 3a und 4: Die Ergebnisse der vorgenannten Studie lassen sich nur sehr bedingt auf eine typische städtische Straßenschluchtsituation mit angrenzender geschlossener Bebauung, einem Gehweg, gegebenenfalls vorhandenem Parkstreifen und einer Fahrbahn mit hohem Verkehrsaufkommen übertragen. Maßgebend für die Beurteilung der Einhaltung der Luftqualitätsgrenzwerte nach der 39. Verordnung zum Bundesimmissionsschutzgesetz sind die Bereiche, wo sich Menschen aufhalten und so den gesundheitsschädlichen Schadstoffbelastungen ausgesetzt sind, also der Gehweg und der Bereich vor den Fassaden von Wohngebäuden. Wie sich dort eine mögliche Anwendung von Titandioxid entweder als Beschichtung von Teilen der Hausfassade oder eingearbeitet in den 3 Fahrbahnbelag auf die NO2-Konzentration auswirkt, ist nach Kenntnis des Senats bislang noch nicht untersucht worden. Entsprechende Erkenntnisse könnten aus dem vorgenannten Projekt in Stuttgart gewonnen werden, liegen aber noch nicht vor. Ebenso ungeklärt ist die Frage nach den gesundheitlichen Auswirkungen, wenn titandioxidhaltiger Feinstaub durch die Atemwege aufgenommen wird. Anders als bei der Beschichtung von Haus- oder Lärmschutzwänden werden titandioxidhaltige Fahrbahnbeläge durch die darüberfahrenden Fahrzeuge allmählich abgerieben und in nennenswerter Menge als feine Staubpartikel an die Luft abgegeben. Sie gelangen so über die Atemwege in den menschlichen Körper. Auch wenn titandioxidhaltige Stäube gemäß den aktuellen technischen Regeln für Gefahrstoffe über Arbeitsplatzgrenzwerte (TRGS 900) nicht als krebserregend eingestuft sind, gibt die Tatsache, dass die europäische Chemikalienagentur ECHA Titandioxidpulver als krebserregend bewertet, wenn es eingeatmet wird, Anlass zur Sorge. Der Senat teilt deshalb die Einschätzung des Bundesinstituts für Risikobewertung, dass hinsichtlich der gesundheitlichen Auswirkungen von Titandioxid noch Forschungsbedarf besteht. Vorher sollte ein verbreiteter Einsatz zur Stickoxidminderung nicht in Erwägung gezogen werden. Unabhängig davon liegt es nahe, dass die von titandioxidhaltigen Oberflächen im realen städtischen Anwendungsfall ausgehende Minderungswirkung auf die NO2-Belastung eher unter als über den Ergebnissen des vorgenannten Projekts der BAST liegen und daher nicht mehr als 1 Mikrogramm pro Kubikmeter betragen dürfte. Der mögliche Nutzen liegt damit deutlich unter der Wirkung anderer, in der zweiten Fortschreibung des Luftreinhalteplans genannter, kurzfristig realisierbarer Maßnahmen, wie zum Beispiel Tempo 30, Ausweitung der Parkraumbewirtschaftung und Durchfahrverboten für nicht schadstoffarme Diesel-Fahrzeuge. Es ist deshalb nicht damit zu rechnen, dass durch die Anwendung von Titandioxid Durchfahrverbote vermieden werden können, zumal aufgrund der erheblichen baulichen Investitionen eine Anwendung in dem notwendigen großräumigen Maßstab kurzfristig kaum realisierbar wäre. Es sind aber gemäß dem Urteil des Berliner Verwaltungsgerichts entlang von fast 15 km des Hauptverkehrsstraßennetzes Maßnahmen zu prüfen, die kurzfristig die Einhaltung der NO2-Grenzwerte sicherstellen. Deshalb kann die Anwendung von Titandioxid zur Erfüllung dieser rechtlich bindenden Vorgabe keinen nennenswerten Beitrag leisten. Eine Ausnahme stellt die Situation im Bereich der Bundesautobahn A 100 nördlich des Dreieck Funkturms dar, wo aufgrund von Simulationen der Luftbelastung auf einem kurzen Abschnitt entlang des Spiegelwegs NO2-Konzentrationen oberhalb des Luftqualitätsgrenzwertes berechnet wurden. Da dort andere Maßnahmen wie Geschwindigkeitsbeschränkungen oder Durchfahrtverbote nicht infrage kommen, sieht der Luftreinhalteplan eine Prüfung vor, ob eine Titandioxidbeschichtung der mehrere Meter hohen Stützwand unterhalb der Wohngebäude in unmittelbarer Nähe der Fahrbahn der A100 möglich ist. Nennenswerte Mengen titandioxidhaltiger Partikel würden bei dieser Anwendung nicht an die Luft gelangen. Diese Prüfung ist noch nicht abgeschlossen. Berlin, den 08.10.2019 In Vertretung Ingmar Streese Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz