Drucksache 18 / 21 124 Schriftliche Anfrage 18. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Dr. Wolfgang Albers (LINKE) vom 26. September 2019 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 27. September 2019) zum Thema: Mythen und nüchterne Zahlen zur Schlaganfallversorgung VI und Antwort vom 15. Oktober 2019 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 16. Okt. 2019) Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Der Regierende Bürgermeister von Berlin Senatskanzlei - Wissenschaft und Forschung - Herrn Abgeordneten Dr. Wolfgang Albers (LINKE) über den Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin über Senatskanzlei - G Sen - A n t w o r t auf die Schriftliche Anfrage Nr. 18/21124 vom 26. September 2019 über Mythen und nüchterne Zahlen zur Schlaganfallversorgung VI ___________________________________________________________________ Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: Die Anfrage betrifft Sachverhalte, die der Senat nicht ohne Beiziehung der Charité – Universitätsmedizin Berlin (Charité) beantworten kann. Sie wurde daher um Stellungnahme gebeten. 1. Das Stroke-Einsatz-Mobil, das in Charlottenburg-Nord stationiert ist, ist seit Februar 2011 im Einsatz. Wie, seit wann und durch wen erfolgte die wissenschaftliche Begleitung zur Evaluation des Projekts? Welches Studiendesign lag der Auswertung ursprünglich zu Grunde? Zu 1.: Am Standort Charlottenburg ist ein Stroke Einsatz Mobil (STEMO) im Einsatz, das 2017 in Betrieb ging, nachdem das erste, seit 2011 eingesetzte STEMO als gemeinsame Prototyp- Entwicklung der Berliner Feuerwehr, der Charité und der MEYTEC GmbH außer Dienst genommen worden war. Das Gesamtprojekt wird wissenschaftlich von der Charité mit dem Centrum für Schlaganfallforschung seit Projektinitiierung im Jahr 2010 begleitet. Je nach Fragestellungen kamen dabei unterschiedliche Studiendesigns zur Anwendung (siehe nachfolgende Auflistung). - -2 Wichtigste Publikationen der bisherigen STEMO-Evaluation Publikation Zeitraum Design Hauptaussage Krebes S et al. Stroke 2012 2010 Diagnostische Validierungsstudie Schlaganfälle können im Notrufgespräch zu 53% erkannt werden bei gleichzeitig relativ guter Trefferquote (59%). Weber JE et al. Neurology 2012 2011 Single-Arm- Interventionsstudie Prähospitale Schlaganfallversorgung ist in der Realität umsetzbar – ohne erkennbare Sicherheitsprobleme. Ebinger M. et. JAMA 2014 2011-2013 PHANTOM-S-Studie; prospektiver Kohortenvergleich mit randomisierten Vergleichsntervallen Bei STEMO-Einsatz werden 50% mehr Patientinnen und Patienten mit der Lyse behandelt (Lyserate 33% statt 21%) und dabei 25 Minuten bis zum Beginn der Lyse eingespart – ohne Hinweise auf erhöhte Blutungsgefährdung oder Sterblichkeit. Ebinger M. et al. JAMA Neurology et al. 2011-2013 PHANTOM-S-Studie; prospektiver Kohortenvergleich mit randomisierten Vergleichsintervallen Die Lyserate (aller Hirninfarkte) innerhalb einer Stunde nach Symptombeginn wird durch die STEMO-Versorgung verzehnfacht und Patientinnen und Patienten mit entsprechend früher Lyse werden signifikant häufiger nach Hause entlassen. Wendt et al. Stroke 2015 2011-2013 PHANTOM-S-Studie; prospektiver Kohortenvergleich mit randomisierten Vergleichsintervallen Durch den STEMO-Einsatz wird die Zuweisung von Patientinnen und Patienten mit Schlaganfall in Stroke Units und von Hirnblutungen in Kliniken mit Neurochirurgie signifikant verbessert . Gyrd-Hansen D et al. Neurology 2015 2011-2013 PHANTOM-S-Studie; prospektiver Kohortenvergleich mit randomisierten Vergleichsintervallen Die höhere Rate und der frühere Beginn der Lysetherapien lassen sich mit Hilfe bestehender Evidenz in sog. qualitätsadjustierte Lebensjahre (QALY) umrechnen. Ohne Berücksichtigung von Einsparungen durch vermiedene Behinderung ergeben sich für einen QALY Kosten von 32.456 € (allgemein akzeptierter Bereich). Kunz A. et al. Lancet Neurology 2016 2011-2015 Registervergleichsstudie von vor dem Schlag-anfall unabhängigen Lysepatienten (STEMO- versus Krankenhausversorgung) Alle Behandlungsergebnisse waren nach 90 Tagen in der Gruppe der STEMO-Patientinnen und Patienten im Vergleich zu im Krankenhaus lysierten Patientinnen und Patienten günstiger. In nicht-adjustierter Analyse gab es keinen signifikanten Unterschied für Überleben ohne Behinderung, jedoch waren Tod und schwere Behinderung signifikant seltener bei STEMO- Patientinnen und Patienten (p=0,004 und 0,022). Nach Adjustierung waren die Raten von leichter Behinderung (p=0,052*), schwerer Behinderung (0,006) und Tod (p=0,054*) im STEMO niedriger, signifikant war dabei nur die Reduktion von schwerer Behinderung. Nolte CH et al. Stroke 2018 2011-2015 Registervergleichsstudie von Lysepatientinnen und - patienten (STEMO- versus Krankenhausversorgung) mit vorbestehenden Unterstützungsbedarf Durch die STEMO-Versorgung wird auch bei diesen Patientinnen und Patienten Überleben ohne schwere Behinderung signifikant (p=0,042) verbessert und Sterblichkeit nichtsignifikant gesenkt (p=0,07). Kunz A. et al. Circulation 2017 2011-2015 Post-Hoc Analyse o.g. Registervergleichsstudie Eine Behandlung innerhalb von 60 Minuten führt zu signifikant besserem Überleben und geringerer Behinderung nach 90 Tagen. Tsivoulis et al. Stroke 2018 Vergleich von Outcomedaten des Europäischen Lyseregisters (SITS- MOST-East) mit dem STEMO-Register Die Behandlung innerhalb der ersten 60min ist bei im STEMO-lysierten Patienten 40-mal häufiger als in osteuropäischen Kliniken. Die Prognoseverbesserung durch die sehr frühe Behandlung ist in beiden Registern evident, ohne Hinweis auf ein höheres Komplikationsrisiko bei prähospitaler Behandlung. - -3 Aktuelle Studien B_PROUD 1.0 2/2017 – 11/2019 Prospektive quasirandomisierte Studie Aufgrund der organisatorischen Probleme bei der Einsatzsteuerung Verwendung der Evaluation als Analyse der Implementierung in den Regelbetrieb B_PROUD 1.0 Seit 5/2019 Prospektive quasirandomisierte Studie Evaluation der STEMO-Effekte auf das Behandlungsergebnis nach drei Monaten *nicht signifikant. 2. Die Charité erklärt aktuell, eine Evaluation des Projekts sei noch nicht abgeschlossen, da bisher noch keine validen Daten vorliegen. Trifft es zu, dass belastbare Daten auf Grund von Organisationsmängeln erst seit Mai 2019 erfasst werden können? Zu 2.: Ja, aber nur bzgl. der finalen Outcome-Evaluation trifft dies zu. Die erste Phase der Outcome-Evaluation (Februar 2017 bis Mai 2019) war durch die Organisationsmängel so stark eingeschränkt, dass sie nur als Evaluation der Implementierungsphase genutzt werden kann. Bezüglich der Art der Organisationsmängel (siehe Antwort zur Frage 3) erfolgt eine Evaluation seit 9. Mai 2019 unter zumindest teilweise verbesserten Einsatzbedingungen. Die Charité ist hier auf eine enge Kooperation mit der Feuerwehr angewiesen. 3. Welcher Art waren diese Organisationsmängel bis zum Frühjahr 2019, die eine Erfassung belastbarer Daten anscheinend seit acht Jahren ausgeschlossen haben? 4. Nach Aussage des verantwortlichen Charité-Neurologen wurde eine Evaluation durch „organisatorische Probleme“ verzögert, nachdem das Fahrzeug ab 2016 in den Proberegelbetrieb überführt worden sei. Welcher Art waren diese Probleme und warum konnten diese nicht in den fünf Jahren seit 2011 vor Übernahme in den Proberegelbetrieb gelöst werden? Zu 3. und 4.: Nach Angaben der Charité entspricht eine verallgemeinernde Aussage, die Erfassung belastbarer Daten sei anscheinend seit acht Jahren ausgeschlossen, nicht dem tatsächlichen Projektverlauf. Tatsächlich wurden zunächst belastbare Daten im Rahmen des reinen Forschungsbetriebes erfasst und sollten im Anschluss in einem Regelbetrieb mit wissenschaftlicher Begleitung verifiziert werden. Wie in der Tabelle zu Antwort 1 dargestellt, werden die Effekte der STEMO-Versorgung in Berlin seit 2011 engmaschig wissenschaftlich untersucht und ausgewertet. Die bisherigen Ergebnisse wurden jeweils zeitnah publiziert, sind weltweit auf hohes Interesse gestoßen und haben vielfache Nachahmungsprojekte angeregt. Im Rahmen des Übergangs in den in einem Regelbetrieb mit wissenschaftlicher Begleitung kam es zu Änderungen der Organisationsabläufe. Die erwähnten organisatorischen Mängel beziehen sich sowohl auf die Dispositionsstrategie des STEMO sowie auf die Ausfallzeiten aufgrund von Personalausfällen und technischen Mängeln. An den vorbenannten Problemen wurde und wird mit dem Ziel der kontinuierlichen Verbesserung durch alle Beteiligten ständig gearbeitet. Hierbei müssen die Bedeutung des mit dem STEMO verbundenen Forschungsprojektes für die Charité und das hohe Engagement der Beteiligten auf der einen Seite, sowie die - -4 Einpassung der drei STEMO in das alltägliche Einsatzgeschehen der Berliner Feuerwehr mit rund 1.000 Einsätzen pro Tag auf der anderen Seite in Einklang gebracht werden. 5. Wie vereinbart sich die Aussage des Projektverantwortlichen der Charité, es gebe noch keine ausreichende Evaluation, mit seiner Aussage, die in der Berliner Zeitung vom 25.09.2019 zitiert wird, „eine große Studie habe gezeigt, dass der Behandlungsbeginn um 25 Minuten verkürzt worden sei“? Auf welche „Große Studie“ bezieht sich diese Aussage? Zu 5.: Diese Aussage der Charité bezog sich auf das Hauptergebnis der PHANTOM-S-Studie (Ebinger et al. JAMA 2014). Patientinnen und Patienten, die bei entsprechender Verfügbarkeit durch das STEMO versorgt wurden, hatten eine um 25 Minuten kürzere Zeit bis zum Lysebeginn verglichen mit den Patientinnen und Patienten der konventionellen Versorgung . Bei Lyse im STEMO war der Zeitvorteil sogar 29 Minuten. In dieser Studie konnte jedoch keine Erfassung der Behandlungsergebnisse (Tod oder Behinderung nach drei Monaten) erhoben werden, da eine Nachbefragung in der Kontrollgruppe aus Datenschutzgründen nicht umgesetzt werden konnte. 6. Wie vereinbart sich die Aussage des Projektverantwortlichen der Charité im Berliner Kurier vom 25.09.2019, dass tödliche Verläufe durch den Einsatz eines STEMO seltener sind, mit der eigenen Zwischenauswertung der Charité vom 05.05.2019, in der auf Folie 6 darstellt wird, dass die Mortalitätsrate nach Einsatz des STEMO bei 2,8 % und bei Versorgung ohne STEMO bei 3,0 % liegt. Zu 6.: Die Aussage im Berliner Kurier bezog sich auf die Ergebnisse des Registervergleiches (Kunz et al. 2016 und Nolte et al. 2018), die eine geringere Sterblichkeit bei den im STEMO im Vergleich zu den im Krankenhaus lysierten Patienten gezeigt hatten. Die Ergebnisse des oben erwähnten Registervergleiches zeigten sowohl bei unabhängigen und bei fortbestehend auf Hilfe angewiesenen Schlaganfallpatienten einen deutlichen Trend zu einer Sterblichkeitsverringerung durch die STEMO-Versorgung. In einer für die Baseline-Parameter adjustierten Analyse des Gesamtkollektivs war die Wahrscheinlichkeit für Tod nach drei Monaten signifikant reduziert (Odds Ratio: 0,54, 95%-Konfidenzintervall: 0,36-0,82; p=0,004). Wegen der separaten Analyse der Patientengruppen wurde letzteres Ergebnis noch nicht veröffentlicht. Bei der Bewertung dieser Ergebnisse sind jedoch die methodischen Einschränkungen einer Registerstudie zu beachten, weswegen die aktuell laufende „Berlin – Prehospital or Usual Care Delivery“ (B_PROUD) Studie eingeleitet wurde. Die Frage bezieht sich nach Auskunft der Charité auf Powerpoint-Folien, die diese der Berliner Feuerwehr anlässlich einer Besprechung der Organisationsprobleme am 24. Mai 2019 intern zugeleitet hatte. Einziger Zweck dieser Zwischenauswertung war die Erörterung der Organisationsmängel in Hinblick auf Ihre Konsequenzen für die Prozessparameter und die Umsetzung der o.g. Problemlösungen sowie Besprechung der Notwendigkeit einer ergänzenden Evaluation unter korrigierten Bedingungen. Das erwähnte Ergebnis der Zwischenauswertung bezieht sich zum einen auf Versterben in der Klinik und nicht auf das Versterben innerhalb von drei Monaten. Häufig kommt es bei Patientinnen und -patienten mit schweren Schlaganfallfolgeschäden zu einem Versterben nach Krankenhausentlassung bzw. -verlegung. Zum zweiten sind alle Angaben durch die im Rahmen der o.g. Organisationsprobleme verschlechterte STEMO-Effektivität geprägt. Die Angabe bzgl. der Daten zu den Behandlungsergebnissen erfolgte durch die Charité in Antwort auf die Pressemitteilung der Fraktion DIE LINKE im Abgeordnetenhaus vom 24.9.2019 und des in der Presse zitierten Statements „Ein möglicher medizinischer Vorteil - -5 für die Betroffenen aus diesem minimalen Zeitgewinn konnte bisher durch die Begleitstudien nicht abgeleitet werden.“ Dies entspricht nicht den o.g. Ergebnissen des Registervergleiches. 7. In der genannten Zwischenauswertung der Charité vom 05.05.2019 werden auf Folie 6 darüber hinaus die vielfach erwähnten Ergebnisse darstellt, dass die Zeit zwischen Symptombeginn und Lyse bei Einsatz eines STEMO bei 99 Minuten liegt, während sie bei konventioneller Versorgung 115 Minuten beträgt. Sind bei Ermittlung der Zeitangabe von 99 Minuten bei Einsatz eines STEMO auch die Fälle (N=85) enthalten, bei denen eine Lyse trotz Transports mit dem STEMO erst im Krankenhaus stattgefunden hat? Zu 7.: Die Charité hat dies bestätigt. Die in der Fragestellung erwähnten 85 Fälle sind in den 99 Minuten von Symptom-Beginn bis zur Lyse enthalten. Da die Zuordnung zum Studienarm über die STEMO-Disponierung (STEMO-Verfügbarkeit=STEMO-Gruppe vs. STEMO- Nichtverfügbarkeit=Kontrollgruppe) erfolgt, werden diese Patientinnen und Patienten der STEMO-Gruppe zugeordnet. Parallel zur STEMO-Evaluation wurde in Berlin mit Mitteln des Centrums für Schlaganfall- Forschung ein Qualitätsregister zur akuten Schlaganfallbehandlung eingeführt, in dem – weltweit einmalig – neben der Krankenhausbehandlung auch die prähospitale Versorgung und die Ergebnisqualität (Behinderung und Tod) nach drei Monaten erfasst werden. Aus diesem Register mit inzwischen mehr als 10.000 Patientinnen und Patienten sind wertvolle Erkenntnisse für die Schlaganfallversorgung Berlins auch jenseits der STEMO- Behandlung zu erwarten. Berlin, den 15. Oktober 2019 In Vertretung Steffen Krach Der Regierende Bürgermeister von Berlin Senatskanzlei - Wissenschaft und Forschung -