Drucksache 18 / 21 313 Schriftliche Anfrage 18. Wahlperiode Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Marcel Luthe (FDP) vom 12. Oktober 2019 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 21. Oktober 2019) zum Thema: Haus der offenen Tür? Friedrich-von-Bodelschwingh-Klinik in Wilmersdorf und andere II und Antwort vom 06. November 2019 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 08. Nov. 2019) Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung Herrn Abgeordneten Marcel Luthe (FDP) über den Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin über Senatskanzlei - G Sen – A n t w o r t auf die Schriftliche Anfrage Nr. 18/21313 vom 12. Oktober 2019 über Haus der offenen Tür? Friedrich-von-Bodelschwingh-Klinik in Wilmersdorf und andere II ________________________________________________________________________ Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt: Vorbemerkung des Abgeordneten: Auf meine Anfrage 18/20961 hat der Senat nur unvollständig geantwortet. So ist Frage 1 nicht für alle Bezirke beantwortet worden. Zu den Fragen 3-5 erfolgte eine unzulässige Zusammenfassung, zumal es allein in der Friedrich-von-Bodelschwingh-Klinik zwischen dem 01.08.2019 und dem 18.09.2019 drei Entweichungen unterschiedlicher Personen gegeben hat, was dem Senat zum Zeitpunkt der Beantwortung bekannt war. Da ein Entweichen-lassen von nach §§ 15 ff. PsychKG untergebrachten Personen nach § 120 StGB strafbar ist, dürfte es eine Rechtsgrundlage geben, derartige Fälle zu dokumentieren. Insoweit ist auch die Antwort zu 6. unvollständig. 1) Wie viele Personen sind gegenwärtig in den einzelnen Berliner Bezirken nach §§ 15 ff. PsychKG untergebracht ? Zu 1.: Eine auf einen willkürlich gewählten Stichtag bezogene Erfassung der in öffentlichrechtlicher Unterbringung befindlichen Personen gibt es nicht. Insofern liegen der Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung die Anzahl der Unterbringungsfälle soweit auch nicht vor. Bei der Beantwortung der Frage nach der Anzahl der Unterbringungsfälle zu einem gesonderten Stichtag kann somit nur auf die Rückmeldungen der angeschriebenen Kliniken bzw. in Ergänzung der in diesem Zusammenhang angeschriebenen Bezirksämter verwiesen werden. Den Bezirksämtern obliegt sowohl das Verfahren der öffentlich-rechtlichen Unterbringung als auch die Fachaufsicht über die Einrichtung, in denen die Unterbringung vollzogen wird. 2 Bezirk Anzahl untergebrachter Personen nach§§ 15 ff. PsychKG – Stichtag: 22.10.2019 Charlottenburg-Wilmersdorf 10 Personen Friedrichshain-Kreuzberg 9 Personen Lichtenberg-Hohenschönhausen 10 Personen Marzahn-Hellersdorf 8 Personen Mitte 13 Personen Neukölln 14 Personen Pankow 5 Personen Reinickendorf 13 Personen Spandau 11 Personen Steglitz-Zehlendorf 4 Personen Tempelhof-Schöneberg 13 Personen Treptow-Köpenick 3 Personen 2) Welche Voraussetzungen müssen konkret für eine solche Unterbringung zur Gefahrenabwehr vorliegen ? Zu 2.: Die öffentlich-rechtliche Unterbringung erfolgt ausschließlich zur Gefahrenabwehr. Die Absätze 1 und 2 des § 15 des Gesetzes über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten (PsychKG) vom 17.6.2016 definieren somit die Unterbringung im Sinne des Dritten Teils des Gesetzes und regeln, unter welchen Voraussetzungen eine Unterbringung als freiheitsentziehende Maßnahme zulässig ist. Eine Unterbringung darf nur als letztes Mittel zur Gefahrenabwehr unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit vorgenommen werden. Die Unterbringung setzt eine gegenwärtige und erhebliche Gefahr voraus. Bei dem hierfür ursächlichen Verhalten der erkrankten Person kann es sich zum Beispiel um eine fehlende Impulskontrolle und Steuerungsfähigkeit bei akuten psychotischen Schüben oder in manischen Phasen handeln. Alle aufgeführten Arten der Gefährdung stellen zwar gleichzeitig auch eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung dar. Eine Einschränkung der Unterbringungsvoraussetzungen erfolgt jedoch insoweit, als unter Verzicht auf den Begriff der "öffentlichen Sicherheit oder Ordnung" die geschützten Rechtsgüter ausdrücklich genannt und der Umfang ihrer Bedrohung präzisiert werden, soweit dies möglich und notwendig ist. 3 In Anlehnung an die Terminologie der allgemeinen Gefahrenabwehr muss es sich somit um die Gefährdung von Rechtsgütern handeln, denen ein hoher Rang zukommt, also um solche von bedeutendem Wert. Dazu gehört neben dem Leben auch die schwere Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit der betroffenen Person oder für besonders bedeutende Rechtsgüter Dritter und dass diese Gefahr nicht anders abgewendet werden kann. Eine erschöpfende Aufzählung der hier betroffenen Rechtsgüter scheidet aus, da für diese Entscheidung eine Abwägung im Einzelfall erforderlich ist, die unter Berücksichtigung einerseits der Schwere und Intensität der Gefährdung und andererseits der durch die Unterbringung bewirkten Freiheitsentziehung getroffen werden muss. Danach reicht eine Gefahr für geringwertige Sachgüter oder etwa Belästigungen, Beschimpfungen, Beleidigungen oder querulatorisches Handeln für eine Unterbringung nicht aus. Wegen des nachhaltigen Eingriffs in die persönliche Freiheit ist weiterhin eine zwangsweise Unterbringung nur dann zulässig, wenn die gegenwärtige Gefahr nicht auf andere Weise , zum Beispiel durch ambulante psychiatrische Behandlung oder durch familiäre oder externe Hilfen, einschließlich einer freiwilligen stationären Behandlung, beseitigt werden kann. Diese Einschränkung trägt dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung. Die Regelung stellt klar, dass für die Unterbringung zusätzlich zur Krankheit eine aus ihr resultierende Gefahr hervorgehen muss, die Behandlungsbedürftigkeit allein für eine zwangsweise Unterbringung nicht ausreichen kann. Ebenso wie jeder körperlich Kranke muss auch die psychisch erkrankte Person im Regelfall selbst bestimmen können, ob, wann und wo sie sich in Behandlung begeben will. Dies entspricht der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 18. 7. 1967 (2 BvF 3/62 u. a.; BVerfGE 22, 180 ff.), wonach es verfassungsrechtlich nicht zulässig ist, einer Staatsbürgerin oder einem Staatsbürger allein zur Besserung des Gesundheitszustandes die Freiheit zu entziehen. Diese verfassungsrechtliche Vorgabe wird seit dem Dritten Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts vom 29. 7. 2009 (BGBl. I S. 2286), des sogenannten Patientenverfügungsgesetzes , insbesondere der Einfügung der §§ 1901a und 1901b in das Betreuungsrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches, und der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Zulässigkeit der Sterbehilfe unter Beachtung des Patientenwillens (vgl. NJW 2010, 2963) durch Bundesrecht untermauert. Dies bindet den Landesgesetzgeber. Er hat diese Wertentscheidungen auch im Recht der Unterbringung psychisch erkrankter Personen zu beachten . 3) In wie vielen Fällen ist eine untergebrachte Person in den jeweiligen Jahren 2016 bis 2018 und bisher in 2019 entwichen? (bitte nach Bezirken gegliedert angeben) Zu 3.: Zahlen zu Entweichungen für den Zeitraum 2016-2018 und bisher in 2019 liegen der Senatsverwaltung nicht vor. Die Senatsverwaltung übt über die Einrichtungen in denen die öffentlich-rechtliche Unterbringung vollzogen wird, keine Aufsicht aus. Die Fachaufsicht über die Durchführung der Unterbringung zur Gefahrenabwehr (§§ 15 ff. PsychKG) obliegt ausschließlich dem jeweils örtlichen zuständigen Bezirksamt. Der Fachaufsicht unterliegen alle Einrichtungen in dem jeweiligen Bezirk, in denen Unterbringungen zur Gefahrenabwehr durchgeführt werden und ihre hieran beteiligten Beschäftigten. Die Fachaufsicht des örtlich zuständigen Bezirksamtes ist abschließend; eine Fachaufsicht der Hauptverwaltung besteht weder gegenüber den Einrichtungen, in denen die öffentlichrechtlichen Unterbringungen vollzogen werden, noch gegenüber den Bezirksämtern. 4 Durch das Zweite Gesetz zur Reform der Berliner Verwaltung vom 25. Juni 1998 ist die Fachaufsicht der Hauptverwaltung über die Bezirke abgeschafft worden. Unabhängig davon versuchen die Einrichtungen, mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln Entweichungen zu verhindern. Das können mechanische Hindernisse sein, wie z. B. die verschlossene Stationstür, oder nur partiell oder gar nicht zu öffnende Fenster. Die andere Möglichkeit stellen Interventionen durch Mitarbeiter dar, z. B. 1:1-Betreuung oder enger Sichtkontakt. Aus Kreisen der Einrichtungen wird angesichts der Umfrage vorgetragen, dass es sich – gemessen an der Zahl von Unterbringungstagen – um Ausnahmefälle handelt bzw. vor dem Hintergrund der seit Jahren stetig zunehmenden und bereits jetzt überbordenden Bürokratie im Krankenhaus auch keine weiteren freiwilligen Datenerhebungen geplant seien. Die Kliniken tragen Sorge, dass die dafür erforderliche Arbeitszeit zwangsläufig bei der direkten therapeutischen Arbeit mit Patienten und Patientinnen verloren geht. 4) Wie viele Personen sind gegenwärtig im Sinne der Frage zu 1) in der Friedrich-von-Bodelschwingh- Klinik in Wilmersdorf untergebracht? Zu 4.: Am 22.10.2019 waren nach Mitteilung der Einrichtung 6 Personen in der Abteilung für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der Friedrich von Bodelschwingh-Klinik nach §§ 15 PsychKG untergebracht. 5) Sind einzelne oder mehrere dieser Personen im Jahr 2019 aus der Klinik entwichen? Wenn ja, wie viele? Sind einzelne Personen mehrfach im Jahr 2019 entwichen? Wenn ja, wie oft? Zu 5.: Nach Auskunft der Einrichtung hat es auch im Jahre 2019 Einzelfälle gegeben, in denen Patientinnen und Patienten entwichen sind. Falls sich eine untergebrachte Patientin bzw. ein untergebrachter Patient unerlaubt aus der Behandlung begibt, erfolgt nach Aussage der Einrichtung umgehend eine Information an die Polizei zur Fahndung und Rückführung. Die systematische Erhebung der Anzahl oder Wiederholung von Entweichungen ist seitens der Einrichtung nicht erfolgt. Daher kann diesbezüglich im erfragten Zeitraum keine Aussage getroffen werden. 6) Stellt das Entweichen oder Entweichen lassen einer untergebrachten Person ein im Wege des Ordnungswidrigkeiten - oder Strafrechts sanktionierbares Verhalten dar? Falls ja, auf welcher Grundlage? Zu 6.: Bei der Überwachung und Sicherung psychisch kranker Personen im Rahmen der öffentlich -rechtlichen Unterbringung sind die Grenzen des Erforderlichen und des für die untergebrachte Person Zumutbaren einzuhalten. Die Behandlung von psychisch Kranken stellt eine gesellschaftliche Aufgabe dar, die im Rahmen der Bestimmung der erforderlichen Aufsichtsmaßnahme gegen das Schutzbedürfnis der Allgemeinheit abgewogen werden muss. 5 Die permanente Überwachung oder der Freiheitsentzug der untergebrachten Person sind mit dem Ziel der Behandlung und der Rehabilitation und mit der Wahrung der Menschenwürde unvereinbar. Als Grundsatz muss daher gelten, dass äußerst strenge Maßnahmen nur im Ausnahmefall und bei bestehenden Anhaltspunkten für eine wesentliche Gefährdung des eigenen Lebens und / oder von Schutzgütern Dritter angeordnet werden dürfen. Zum anderen müssen die psychiatrischen Einrichtungen die Unterbringung psychisch erkrankter Personen gewährleisten, die aufgrund ihrer Erkrankung sich selbst oder bedeutende Rechtsgüter anderer erheblich gefährden. Ihre Aufgabe ist es, diese beiden, in manchen Fällen durchaus widersprüchlichen Aspekte, zu integrieren und für die Patientinnen und Patienten und die Gesellschaft die sicherste und therapeutisch wirksamste Lösung zu finden. Da sich in der Allgemeinpsychiatrie keine Patientinnen und Patienten aufhalten , die strafrechtlich untergebracht sind, brauchen die Einrichtungen der stationären psychiatrischen Versorgung auch nicht wie eine Hochsicherheitseinrichtung gesichert sein. Und sie sollten es aufgrund ihres therapeutischen Auftrages auch nicht. Etwaige Ordnungswidrigkeitentatbestände sieht das Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten (PsychKG) in diesem Zusammenhang nicht vor. Soweit es die untergebrachte Person selbst betrifft, wird auf die zu Frage 6 der Schriftlichen Anfrage Nr. 18/21 313 erteilte Antwort verwiesen (sog. Selbstbefreiungsprivileg ). Jedoch sieht § 120 des Strafgesetzbuches (StGB) eine Strafbarkeit für Täter einer Gefangenenbefreiung oder für Teilnehmer an einer solchen Tat vor. Denn untergebrachte Personen (etwa nach den §§ 63, 64 StGB, den §§ 81b, 126a Strafprozessordnung oder nach landesrechtlichen Unterbringungsgesetzen Untergebrachte) sind Gefangenen im Sinne der genannten Vorschrift gleichgestellt, § 120 Abs. 4 StGB. Als Tathandlungen nennt das Gesetz das Befreien sowie das Verleiten oder Fördern des Entweichens. Derartige Handlungen können, abhängig von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls, auch den Tatbestand anderer Strafnormen erfüllen (z. B. Sachbeschädigung gem. § 303 StGB oder Straf- bzw.- Vollstreckungsvereitelung gemäß § 258 StGB). 7) Wie viele Ermittlungsverfahren sind in den jeweiligen Jahren 2014 bis 2018 und bis zum 01.10. in 2019 wegen einer Straftat nach § 120 StGB – bezogen auf nach § 15 ff. PsychKG oder aus anderen Gründen in einer Anstalt im Sinne des § 120 Abs. 4 StGB untergebrachte Personen – eingeleitet worden? In wie vielen Fällen kam es bisher zu einer Anklage, in wie vielen zu einer Verurteilung? Zu 7.: Bezogen auf die polizeilichen Ermittlungen gilt Folgendes: § 120 StGB betrifft den Straftatbestand der Gefangenenbefreiung. Gefangenenbefreiung (Versuch und Vollendung) 2014 2015 2016 2017 2018 Jan.- Sept. 2019 Anzahl Vorgänge 150 108 51 47 58 42 Quelle: DWH-FI (Datawarehouse Führungsinformation) am 23.10.2019 6 Die Tabelle zeigt die Anzahl der im jeweiligen Zeitraum angelegten Vorgänge gemäß Verlaufsstatistik Datawarehouse Führungsinformation (DWH-FI) an. Eine Aussage darüber, ob die Gefangenenbefreiung auf einer vorangegangenen (vorläufigen) Unterbringung basiert , kann anhand der vorliegenden statistischen Daten nicht getroffen werden. Zum strafrechtlichen Bezug gilt Folgendes: Bei den Strafverfolgungsbehörden werden keine Falldatenbanken geführt, sondern lediglich Verfahrensregister. Eine Differenzierung zwischen den einzelnen Fallgestaltungen des § 120 StGB, insbesondere zwischen „Gefangenen“ und „sonst auf behördliche Anordnung in einer Anstalt Verwahrten“ im Sinne von § 120 Abs. 4 StGB erfolgt in diesem Register nicht. Die Frage kann daher nicht beantwortet werden. Berlin, den 06.November 2019 In Vertretung Martin Matz Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung