Landtag Brandenburg Drucksache 6/11177 6. Wahlperiode Eingegangen: 09.04.2019 / Ausgegeben: 15.04.2019 Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage Nr. 4322 der Abgeordneten Prof. Dr. Ulrike Liedtke (SPD-Fraktion) Drucksache 6/10634 Besetzung von gesamtdeutschen Führungspositionen durch Menschen mit ostdeutschen Biografien oder ostdeutschen Erfahrungshintergrund Namens der Landesregierung beantwortet der Chef der Staatskanzlei die Kleine Anfrage wie folgt: Vorbemerkung der Fragestellerin: Fast 30 Jahre nach der Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten wird gegenwärtig eine intensive gesellschaftliche Debatte darüber geführt , dass Menschen mit ostdeutscher Biografie oder ostdeutschem Erfahrungshintergrund noch immer nicht ihrem Bevölkerungsanteil entsprechend in gesamtdeutschen Führungspositionen vertreten sind. Statistisch gesehen müsste in Deutschland etwa jede fünfte Elitenposition mit einer Person besetzt sein, die in der DDR bzw. in Ostdeutschland aufgewachsen ist. Eine Studie der Universität Leipzig aus dem Jahr 2015 kam zu dem Ergebnis , dass zu dieser Zeit jedoch nur ganze 1,7 Prozent der Führungspositionen in Wirtschaft , Politik, Verwaltung, Medien, Justiz und Wissenschaft mit Ostdeutschen besetzt waren . Beispielsweise befindet sich bis heute kein einziger Ostdeutscher bzw. keine einzige Ostdeutsche unter den insgesamt 55 Personen, die im Zeitraum seit 1990 als Richter oder Richterin am Bundesverfassungsgericht amtiert haben. Zur Definition des Begriffs ostdeutsch bzw. ostdeutsche Sozialisation wird davon ausgegangen , dass ostdeutsch ist, wer in Ostdeutschland (nicht DDR, sondern auch nach 1989 bis heute) die Schule besucht hat oder besucht. Vorbemerkung der Landesregierung: In einer freiheitlich-demokratisch verfassten Ordnung sollte die innere Vielfalt und Verschiedenartigkeit der Gesellschaft grundsätzlich ihre Widerspiegelung in den Führungsgruppen der gesellschaftlichen Teilsysteme (wie Wirtschaft, Politik, Verwaltung, Medien, Justiz, Wissenschaft, Kunst und Kultur, Sport oder Militär) finden . Nicht zuletzt hiervon hängen die Identifikation der Bürgerinnen und Bürger mit ihrem Gemeinwesen sowie insgesamt dessen gesellschaftliche Akzeptanz ab. Angehörige von Teileinheiten der Gesellschaft sollten daher in zahlenmäßig angemessener Weise in gesellschaftlichen Leitungsfunktionen vertreten sein. Ich frage die Landesregierung: 1. Wie beurteilt die Landesregierung grundsätzlich die Tatsache, dass Menschen mit ostdeutscher Biografie und/oder ostdeutschem Erfahrungshintergrund in gesellschaftlichen Schlüsselpositionen der Bundesrepublik Deutschland (Wirtschaft, Politik, Verwaltung , Medien, Justiz und Wissenschaft) noch immer deutlich unterrepräsentiert sind? Landtag Brandenburg Drucksache 6/11177 - 2 - zu Frage 1: Die zu niedrige Repräsentanz von Menschen mit ostdeutscher Biografie und/oder ostdeutschem Erfahrungshintergrund in gesellschaftlichen Schlüsselpositionen ist nach allen verfügbaren Forschungsergebnissen unbezweifelbar und entspricht den Erkenntnissen der Enquete-Kommission 5/1 „Aufarbeitung der Geschichte und Bewältigung von Folgen der SED-Diktatur und des Übergangs in einen demokratischen Rechtsstaat im Land Brandenburg“ des Landtags Brandenburg. Die Landesregierung beurteilt diesen Zustand als außerordentlich unbefriedigend. Sie rechnet allerdings fest damit, dass sich die gegenwärtigen Verhältnisse deutlich verändern werden. Vier wesentliche Faktoren sind im Hinblick auf das Thema der Minderrepräsentanz von Ostdeutschen in Leitungsfunktionen zu berücksichtigen: Die bis heute weiterwirkende Minderrepräsentanz von Ostdeutschen in Entscheidungspositionen ist in einem ganz bestimmten historischen Kontext entstanden, auf welchen unlängst Ministerpräsident a.D. Stolpe hingewiesen hat: „Entscheidend war der Mehrheitswille der Ostdeutschen, schnell voll in die Bundesrepublik eingegliedert zu werden. Die ostdeutschen Bundesländer mussten sofort funktionieren, ohne auf allen Ebenen Fachkräfte zu haben. Zwangsläufig mussten Fachkräfte aus den westdeutschen Bundesländern geworben werden. Diese Aufbauhelfer waren unverzichtbar. Sie brauchten weitere Fachkräfte und warben in ihrer Heimat. So wuchs eine funktionierende westdeutsche Schicht von Entscheidern in Verwaltung, Justiz, Wirtschaft, Wissenschaft, Medien und Militär.“ Inzwischen haben viele dieser engagierten Aufbauhelfer der ersten und zweiten Generation das Pensionsalter erreicht oder werden es bald erreichen. Ihre Nachfolgerinnen und Nachfolger werden überwiegend aus Ostdeutschland kommen. Es darf auch nicht übersehen werden, dass in den Jahren bis 1961 und danach sehr viele Menschen die DDR verlassen haben, die dann häufig in der alten Bundesrepublik Entscheidungspositionen einnahmen. Untersuchungen aus der Zeit vor der deutschen Einheit haben gezeigt, dass der Anteil der DDR-Flüchtlinge in westdeutschen Entscheidungspositionen deutlich höher war als der Anteil der DDR-Flüchtlinge an der gesamten westdeutschen Bevölkerung. Diese Menschen ostdeutscher Herkunft fehlten nach 1990 beim Aufbau einer Schicht von Entscheidern in Verwaltung, Justiz, Wirtschaft, Wissenschaft, Medien und Militär in den neuen Bundesländern. Die gegenwärtig in Deutschland insgesamt sowie auch in Ostdeutschland noch vorhandene Unterrepräsentanz von Ostdeutschen in Spitzenfunktionen wird aufgrund demografischer Faktoren in den kommenden Jahren abnehmen (vgl. hierzu das im Auftrag der Enquete-Kommission 5/1 beauftragte Gutachten „Personelle Kontinuität und Elitenwandel in Landtag, Landesregierung und -verwaltung des Landes Brandenburg “). Ein Indiz für die Abnahme der Unterrepräsentanz ist auch, dass in der 5. Legislaturperiode in Brandenburg die Zahl der politischen Beamtinnen und Beamten, also der Staatssekretärinnen und Staatssekretäre, mit ostdeutscher Biografie (entsprechend der Definition der Fragestellerin) bei 22 Prozent lag. Gegenwärtig, zum Ende der 6. Legislaturperiode, sind es hingegen 75 Prozent. Mit anderen Worten: Bei dem Teil des Spitzenpersonals, das neu besetzt werden kann, gibt es keine Unterrepräsentanz . Landtag Brandenburg Drucksache 6/11177 - 3 - Auch Repräsentanz von Vertretern bestimmter Gruppen in Spitzenämtern ist geeignet, innerhalb dieser Identifikation und Legitimität zu schaffen oder zu erhalten. Bezogen auf Ostdeutschland ist festzuhalten, dass wichtige bundespolitische Positionen (etwa Bundespräsident a.D. Joachim Gauck, Bundeskanzlerin Angela Merkel, Bundestagspräsident a.D. Wolfgang Thierse) von Ostdeutschen besetzt wurden bzw. werden. In Brandenburg waren in allen Landesregierungen seit 1990 die Kabinettmitglieder mit ostdeutscher Sozialisation deutlich in der Mehrheit (gegenwärtig: 70 Prozent). Das Amt des Ministerpräsidenten wird seit 1990 ununterbrochen von Menschen mit ostdeutscher Sozialisation bekleidet. Bei den 18 Landrätinnen/Landräten und Oberbürgermeistern der kreisfreien Städte beträgt der Anteil von Menschen mit ostdeutscher Biografie gut 83 Prozent. 2. Welche Handlungsmöglichkeiten sieht die Landesregierung, um die Zahl der Menschen mit ostdeutscher Biografie und/oder ostdeutschem Erfahrungshintergrund in Schlüsselpositionen der Bundesrepublik Deutschland zu erhöhen? zu Frage 2: Die unmittelbaren Handlungsmöglichkeiten des Staates, den Anteil von Menschen mit ostdeutscher Biografie oder ostdeutschem Erfahrungsgrund in Schlüsselpositionen der Bundesrepublik zu erhöhen, sind aus Sicht der Landesregierung begrenzt. Dies gilt in besonderem Maße für den gesamten nichtstaatlichen Bereich von Privatwirtschaft und Zivilgesellschaft, es gilt aber auch für den Sektor der Öffentlichen Verwaltung. Öffentliche Ämter müssen in der Bundesrepublik nach den Kriterien der Eignung, der Befähigung und der fachlichen Leistung vergeben werden. Für ihre Besetzung gilt mit Verfassungsrang (Art. 33 Abs. 2 GG) das Leistungsprinzip (Bestenauslese). Dies ist daher selbstverständlich auch in Brandenburg der Fall. Regelungen, die systematisch auf die Erhöhung des Anteils von Ostdeutschen in Schlüsselpositionen der Öffentlichen Verwaltung abstellen würden, würden sich nur dann nicht in einen unmittelbaren Widerspruch zum Grundgesetz begeben, wenn Ostdeutsche bei gleicher Qualifikation bevorzugt werden . Auch dann wäre allerdings die Verfassungskonformität, u.a. mit Blick auf die Definition von „ostdeutsch“, offen. Positive Veränderungen sind allerdings oft auch Folge von gesteigerter Problemwahrnehmung und Bewusstseinswandel. Auf diesem Gebiet können Landesregierungen einiges bewirken. Verstärkt wahrnehmen wird die Landesregierung Brandenburg daher ihre Möglichkeiten , im gesamtdeutschen öffentlichen Kontext auf die demokratiepolitisch schädliche Wirkung der zu niedrigen Repräsentanz von Ostdeutschen in gesellschaftlichen Schlüsselfunktionen hinzuweisen. So ist es beispielsweise mit Blick auf die Situation am Bundesverfassungsgericht , an dem auch nach fast drei Jahrzehnten deutscher Einheit noch immer kein einziger Richter bzw. keine einzige Richterin aus Ostdeutschland amtiert, möglich und notwendig, das grundlegende Problem ostdeutscher Minderrepräsentanz in herausgehobenen Institutionen in exemplarischer Weise öffentlich zu thematisieren. Die Landesregierung wird dies in nachhaltiger Weise tun und dabei insbesondere auch die Abstimmung mit anderen ostdeutschen Landesregierungen suchen. 3. Wieviel Personal mit ostdeutscher Sozialisation gibt es derzeit in Brandenburger Ministerien (Staatssekretär*innen, Abteilungsleiter*innen, Referatsleiter*innen), an Gerichten (Leiter*innen), in Hochschulen sowie außeruniversitären Forschungseinrichtungen (Präsident*innen, Kanzler*innen, Dekan*innen, Professor*innen)? Landtag Brandenburg Drucksache 6/11177 - 4 - zu Frage 3: Das Personal mit ostdeutscher Sozialisation (Staatssekretäre und Staatssekretärinnen , (Sts.), Abteilungsleiter und Abteilungsleiterinnen (AL), Referatsleiter und Referatsleiterinnen (RL) kann der nachstehenden Übersicht entnommen werden: Staatskanzlei 1 Staatssekretär (50%) 0 AL (0%) 7 RL (32%) MdF 1 Staatssekretärin (100%) 1 AL (25%) 7 RL (32%) MBJS 1 Staatssekretär (100%) 0 AL (0%) 16 RL (70%) MASGF 0 Staatssekretäre (0%) 1 AL (25%) 10 RL (40%) MLUL 1 Staatssekretärin (100%) 1 AL (20%) 11 RL (44%) MIK 1 Staatssekretärin (100%) 2 AL (33%) 10 RL (29%) MIL 1 Staatssekretärin (100%) 1 AL (25%) 6 RL (29%) MWFK 0 Staatssekretär (0%) 0 AL (0%) 6 RL (33%) MWE 1 Staatssekretär (100%) 0 AL (0%) 6 RL (27%) MdJEV 1 Staatssekretärin, 1 Staatssekretär (100%) 1 AL (20%) 11 RL (41%) Hochschulen: 0 Präsident/innen (0%), 4 Kanzler/innen (67%), 3 Dekane/innen (12%) Bei den Beschäftigten der außeruniversitären Forschungseinrichtungen handelt es sich nicht um Landesbedienstete. Die Ermittlung der Angaben zu den Professorinnen und Professoren wäre nur mit einer deutlichen Fristverlängerung leistbar gewesen, die auch zu einer verzögerten Beantwortung aller anderen - einfacherer zu ermittelnden Angaben - geführt hätte. Gerichte: Präsident/innen bzw. Direktor/innen: 11 (26%) 4. Wie beurteilt die Landesregierung die gegenwärtige Repräsentanz von Führungspersonal ostdeutscher Herkunft bzw. mit ostdeutschem Erfahrungshintergrund bezogen auf das Land Brandenburg? zu Frage 4: Bezogen auf das Land Brandenburg beurteilt die Landesregierung die strukturell unterproportionale Repräsentanz von Führungspersonal ostdeutscher Herkunft bzw. mit ostdeutschem Erfahrungshintergrund grundsätzlich in derselben Weise wie im Hinblick auf die Bundesrepublik Deutschland insgesamt (siehe Antwort auf Frage 1). 5. Welche künftigen Handlungsmöglichkeiten sieht die Landesregierung, um den Anteil des Führungspersonals ostdeutscher Herkunft bzw. mit ostdeutschem Erfahrungshintergrund in den Brandenburger Landesbehörden zu erhöhen? zu Frage 5: Ausweislich aller demografischen und ökonomischen Prognosen steuert das Land Brandenburg in seiner nahen Zukunft von Jahr zu Jahr verstärkt auf eine Periode eines erheblichen Bedarfs an Arbeitskräften zu. Der hohen Zahl der in den Ruhestand tretenden „Babyboomer“ (ganz gleich ob ost- oder westdeutscher Herkunft) werden in den kommenden Jahrzehnten überall in Deutschland - und nochmals verstärkt in Ostdeutschland - zahlenmäßig sehr viel schwächere jüngere Jahrgänge gegenüberstehen. An freiwerdenden Positionen für nachwachsendes Führungspersonal in Verwaltung, Justiz und Wissenschaft wird daher auch in Brandenburg kein Mangel herrschen - sehr wohl aber an jungen Frauen und Männern, die diese Stellen besetzen könnten. Qualifizierte junge Ostdeutsche werden künftig überall in Deutschland ein Überangebot an Möglichkeiten vorfinden , in Führungspositionen nachzurücken. Allein dadurch wird sich der Anteil des Füh- Landtag Brandenburg Drucksache 6/11177 - 5 - rungspersonals ostdeutscher Herkunft bzw. mit ostdeutschem Erfahrungshintergrund auch in den brandenburgischen Landesbehörden deutlich erhöhen. Die Herausforderung unter den veränderten demografischen Bedingungen besteht demzufolge vordringlich darin, attraktive Bedingungen zu schaffen, um den Personalbedarf der öffentlichen Verwaltung im Land befriedigen zu können. Dies gilt umso mehr, als nachkommende Brandenburgerinnen und Brandenburger über hervorragende Karriereperspektiven nicht nur in der brandenburgischen Verwaltung verfügen werden, sondern auch in anderen Bundesländern, im Ausland und in der Privatwirtschaft. Die Schaffung attraktiver Bedingungen für Brandenburgerinnen und Brandenburger allein wird allerdings nicht genügen, um den zukünftigen Fachkräftebedarf zu decken. Vielmehr wird es auch darum gehen, als weltoffenes Land zum Arbeiten und Leben eine hohe Anziehungskraft auf qualifizierte Menschen vor allem aus anderen Teilen Deutschlands und Europas auszuüben. Vor diesem Hintergrund bekräftigt die Landesregierung die herausragende Bedeutung der Leitidee des Zusammenhalts für das Land Brandenburg. Dieser Zusammenhalt entsteht nicht von selbst, sondern bedeutet immer wieder harte Arbeit, denn er darf sich nicht allein auf die schon lange in Brandenburg ansässige Bevölkerung erstrecken, sondern muss auch alle Menschen einbeziehen, die in den vergangenen drei Jahrzehnten neu nach Brandenburg gekommen sind oder sich - hoffentlich - in den kommenden Jahren und Jahrzehnten in Brandenburg niederlassen werden. Nicht zuletzt von der Offenheit und Aufnahmebereitschaft für hinzukommende „Neu-Brandenburger und Neu-Brandenburgerinnen “ werden in den kommenden Jahrzehnten der Wohlstand und die Lebensqualität Brandenburgs abhängen.