Landtag Brandenburg Drucksache 6/11857 6. Wahlperiode Eingegangen: 02.08.2019 / Ausgegeben: 07.08.2019 Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage Nr. 4663 der Abgeordneten Kristy Augustin (CDU-Fraktion) Drucksache 6/11645 Verschleppte vietnamesische Kinder und Jugendliche in Brandenburg Namens der Landesregierung beantwortet die Ministerin für Bildung, Jugend und Sport die Kleine Anfrage wie folgt: Vorbemerkung der Fragestellerin: Nach Recherchen des Rundfunks Berlin-Brandenburg werden in Berlin und Brandenburg unbegleitete Minderjährige aus Vietnam über die deutsch-polnischen Grenze durch Brandenburg nach Berlin geschleust, wo sie Opfer von Zwangsarbeit werden. Die betroffenen Kinder und Jugendlichen kommen teilweise zwar in Kontakt mit Brandenburger Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, entweichen dort aber wieder. Ein Mitarbeiter einer brandenburgischen Jugendhilfeeinrichtung wird in dem Bericht mit folgender Aussage zitiert: „Das Problem kennen wir seit Jahren. Sie kommen mit Schlepperbanden über Polen nach Deutschland, und falls sie überhaupt erwischt werden , übergibt sie die Bundespolizei an uns. Aber dann verschwinden sie gleich. Und wir hatten Hinweise darauf, dass sie dann hier in Deutschland offenbar zur Arbeit gezwungen werden. Wir haben in der Vergangenheit schon die Behörden auf das Problem aufmerksam gemacht.“ Der Bericht verweist ferner auf eine schriftliche Stellungnahme des Jugendamtes Oder-Spree, worin es heiße: „Seit 2015 ist zu beobachten, dass die vietnamesischen Jugendlichen sich nur in Einzelfällen auf das deutsche Jugendhilfesystem einlassen .“ Offenbar wird diese Einschätzung von anderen Jugendämtern geteilt. Frage 1: Wie bewertet die Landesregierung die Ergebnisse dieser Recherchen? Zu Frage 1: Nach vorliegenden polizeilichen Erkenntnissen stellt das Phänomen der Schleusung bzw. des Menschenhandels von vietnamesischen Minderjährigen keinen Kriminalitätsschwerpunkt im Land Brandenburg dar. Die Landesregierung nimmt die Ergebnisse der Recherchen des Rundfunks Berlin-Brandenburg jedoch zum Anlass und berät das Thema in den Zusammenkünften mit den Jugendämtern der Landkreise und kreisfreien Städte. Frage 2: Wie viele Fälle von „Entlassung durch Entweichung" hat es im letzten verfügbaren Berichtszeitraum in Brandenburger Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe gegeben , und wie hat sich diese Zahl in den letzten 10 Jahren entwickelt? (bitte nach Jugendämtern , nach Art der Einrichtung und nach Nationalitäten aufschlüsseln) Zu Frage 2: Die Gründe für Entlassungen aus stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe sowie die Nationalitäten der jungen Menschen werden in der Kinder- und Jugendhilfestatistik nicht erhoben. Die Meldepflichten von erlaubnispflichtigen Einrichtungen Landtag Brandenburg Drucksache 6/11857 - 2 - an die zuständige Behörde erstrecken sich gemäß § 47 Nr. 2 SGB VIII auf Ereignisse oder Entwicklungen, die geeignet sind, das Wohl der Kinder und Jugendlichen zu beeinträchtigen . Entweichungen von Kindern und Jugendlichen werden demnach der erlaubniserteilenden Behörde gemeldet und eine Vermisstenanzeige bei der Polizei gestellt. Es erfolgt im Ministerium für Bildung, Jugend und Sport (MBJS) keine gesonderte Erfassung darüber , ob die Kinder und Jugendlichen in die Einrichtungen zurückkehren oder ob die Entweichung zur Entlassung aus der Einrichtung geführt hat. Frage 3: Bei wie vielen dieser Fälle handelte es sich um unbegleitete Minderjährige, und wie hat sich diese Zahl in den letzten 10 Jahren entwickelt? Zu Frage 3: Gemäß § 24f des Ersten Gesetzes zur Ausführung des Achten Buches Sozialgesetzbuch - Kinder- und Jugendhilfe (AGKJHG) stellen die Jugendämter dem MBJS die zur Durchführung des o. g. Gesetzes erforderlichen Daten zur Verfügung. Aus diesen seit Februar 2016 zur Verfügung stehenden Daten sind für den Zeitraum vom 01.02.2016 bis 01.02.2018 insgesamt 7.087 jugendhilferechtliche Zuständigkeiten für unbegleitete minderjährige Ausländer bekannt. Die Anzahl der Hilfebeendigungen liegt in diesem Zeitraum bei 1.635, wovon insgesamt 447 (27,34 %) vor oder nach Ankunft im Land Brandenburg abgängig waren. Der Anteil der erfassten unbegleiteten, vietnamesischen Kinder und Jugendlichen liegt bei 33, Abgängigkeiten wurden für 16 Minderjährige (48,5 %) erfasst. Zahlen zur Entwicklung über die letzten 10 Jahre liegen nicht vor. Frage 4: Sind alle diese Fälle bei der Polizei als vermisst gemeldet worden? Wenn nicht, wie viele wurden als vermisst gemeldet, und wie hat sich diese Zahl im erfragten Zeitraum entwickelt? Zu Frage 4: Stationäre Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe sind verpflichtet, Kinder oder Jugendliche als vermisst bei der Polizei zu melden, wenn sie ohne Angabe von Gründen nicht zur verabredeten Zeit in die Einrichtung zurückkehren, sich unerlaubt entfernen und ihr möglicher Aufenthaltsort nicht bekannt ist. Zur Unterstützung bei der polizeilichen Ermittlung vermisster Personen wird bundesweit die Datei "Vermisste/Unbekannte Tote" ("Vermi/Utot") geführt, auf die das Bundeskriminalamt (BKA) sowie die 16 Landeskriminalämter Zugriff haben. Insgesamt werden nach Angaben aus dieser Datei 168 Minderjährige derzeit im Land Brandenburg vermisst. Davon sind 31 vietnamesische Kinder und Jugendliche (Stand vom 18.07.2019) im Land Brandenburg als vermisst geführt. Eine Aussage, ob es sich hierbei um unbegleitete ausländischen Kinder und Jugendliche handelt , ist nicht möglich. Nach Informationen des BKA1 kann grundsätzlich festgestellt werden , dass Deutschland nicht immer das Zielland der unbegleiteten minderjährigen Ausländer ist. Gemäß eigenen Angaben wollen sie oftmals in andere europäische Länder weiterreisen , um dort aufhältige Angehörige zu treffen und dort zu verbleiben. Deutschland fungiert in solchen Fällen als Transitland. Aufgrund verschiedener Problematiken, wie beispielsweise der Mehrfacherfassungen bedingt durch unterschiedliche Schreibweisen eines Namens, fehlende Personalpapiere oder eine fehlende erkennungsdienstliche Behandlung , ist eine genaue Erhebung der tatsächlich vermissten, ausländischen Kinder und Jugendlichen nicht möglich. Auch zukünftig wird somit eine zuverlässige Aussage zu diesem Personenkreis aus diesen Gründen nicht möglich sein. 1 https://www.bka.de/DE/UnsereAufgaben/Ermittlungsunterstuetzung/BearbeitungVermisstenfaelle/bearbeitun gVermisstenfaelle_node.html Landtag Brandenburg Drucksache 6/11857 - 3 - Frage 5: Was wurde unternommen, um dem Verschwinden von schutzbefohlenen Kindern und Jugendlichen entgegenzuwirken? Zu Frage 5: Nach polizeilichem Bekanntwerden von vermissten Personen werden die erforderlichen Maßnahmen zur Aufenthaltsermittlung ergriffen. Hierzu zählen insbesondere Maßnahmen der Feststellung des Verbleibs von Vermissten, die Gründe und Umstände des Vermisst- seins zu klären sowie zu ermitteln, ob Vermisste Opfer einer Straftat geworden sein könnten. Unter Bezugnahme auf eine Polizeidienstvorschrift wird im Rahmen des Wiederauffindens der minderjährigen Person auch ein polizeiliches Gespräch geführt, um die Gründe für das Vermisstsein zu ergründen. Im Ergebnis der Lagebeurteilung werden sodann die erforderlichen Maßnahmen der Gefahrenabwehr veranlasst – u. a. auch die Benachrichtigung der zuständigen Behörden und Einrichtungen bei gefährdeten Minderjährigen , sodass dort die erforderlichen Maßnahmen der Gefahrenabwehr und Vorsorge getroffen werden können. Die pädagogische Betreuung ist darauf ausgerichtet, mit den Kindern und Jugendlichen in Abstimmung mit dem zuständigen Jugendamt eine Perspektive für ihren Verbleib in einer geeigneten Unterbringung zu erarbeiten, wenn keine Eltern oder andere Verwandte gefunden werden können. Dazu gehört auch, sie über mögliche Gefahren vorab zu informieren, zu sensibilisieren und niedrigschwellige Hilfen anzubieten, wenn sich Tendenzen zeigen oder Hinweise vorliegen, dass die Minderjährigen in der Kinder - und Jugendhilfeeinrichtung nicht verbleiben wollen. Frage 6: Welche Standards gelten insbesondere für die im Bericht gesondert angesprochenen Kindernotdienste, vor allem im Hinblick auf den Schutz vor Kindesmissbrauch? Zu Frage 6: Die Kinder- und Jugendnotdienste sind stationäre Einrichtungen der Kinderund Jugendhilfe und deren Träger bedürfen einer Erlaubnis zum Betrieb der Einrichtung gemäß § 45 SGB VIII. Die Anforderungen an diese Einrichtungen ergeben sich aus den Vorschriften des § 45 SGB VIII und der Verwaltungsvorschrift zum Schutz von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen gemäß §§ 45 ff. SGB VIII für teilstationäre und stationäre Angebote der Hilfen zur Erziehung und der Eingliederungshilfen sowie für Wohnheime bzw. Internate im Land Brandenburg. Frage 7: Die Äußerungen des zitierten Jugendamtes legen nahe, dass das Problem seit längerem bekannt ist. Seit wann ist der Landesregierung der Verdacht bekannt, dass entweichende unbegleitete Minderjährige in systematischer Weise Opfer von Menschenhandel werden (könnten)? Zu Frage 7: Der Landesregierung liegen keine gesicherten Erkenntnisse der Polizei oder der Jugendämter vor, dass entweichende unbegleitete ausländische Kinder und Jugendliche in systematischer Weise Opfer von Menschenhandel werden. Frage 8: Wie oft und wann ist dies in Besprechungen mit den Jugendämtern der Landkreise und kreisfreien Städte thematisiert worden? Frage 9: Was hat die Landesregierung daraufhin unternommen? Zu den Fragen 8 und 9: Das Problem sich der Einflussnahme der Kinder- und Jugendhilfe entziehender Kinder und Jugendlicher ist immer wieder Gegenstand der Beratungen des Landtag Brandenburg Drucksache 6/11857 - 4 - MBJS mit den Jugendämtern. Im März 2019 wurde in einer Beratung mit den Jugendämtern das Bundeskooperationskonzept „Schutz und Hilfen bei Handel mit und Ausbeutung von Kindern“ vorgestellt und die Handlungsmöglichkeiten der Jugendämter - auch in Kooperation mit der Polizei - beraten. Frage 10: Wie oft und wann ist dies gegenüber den Sicherheitsbehörden thematisiert worden ? Welchen Austausch zwischen dem Jugendministerium und dem Innenministerium hat es dazu gegeben und gibt es derzeit? Zu Frage 10: Eine Übersicht, wie oft die Jugendämter jeweils mit den örtlichen Polizeioder Sicherheitsbehörden zusammengearbeitet haben, liegt nicht vor. Ein fachspezifischer Austausch zwischen dem Ministerium des Innern und für Kommunales (MIK) und dem MBJS hat mangels gesicherter Erkenntnisse bisher nicht stattgefunden. Frage 11: Welchen Austausch hat es mit Berliner und polnischen Behörden gegeben? Zu Frage 11: Grundsätzlich erfolgt bei jeder Vermisstensache ein sofortiger Austausch mit den für die Vermissten zuständigen behördlichen Einrichtungen im Rahmen der kriminalpolizeilichen Sachbearbeitung. Insofern erfolgt bei Bedarf auch ein Austausch mit anderen Bundesländern oder anderen Staaten im Rahmen der Rechtshilfe bzw. internationalen Zusammenarbeit. Frage 12: Was wird die Landesregierung in Zukunft zum Schutz der Kinder und Jugendlichen und zur Unterstützung der örtlichen Behörden unternehmen? Zu Frage 12: Unter Hinweis auf die Antwort auf die Kleine Anfrage Nr. 4664 des Abgeordneten Thomas Jung (Drucksache 6/11646) „Kinderhandel in Brandenburg“ wird ergänzend ausgeführt: Zur weiteren Sensibilisierung insbesondere der Jugendämter zur Erkennung von Ausbeutung von und Handel mit Minderjährigen, um eine Identifizierung potenzieller Opfer zu ermöglichen, werden verschiedene Fortbildungsformate angeboten und die Thematik in den Beratungen mit den Jugendämtern aufgenommen. Bei Bekanntwerden von Anzeichen einer solchen Kindeswohlgefährdung erfolgt in jedem Fall eine differenzierte Gefährdungseinschätzung gemäß § 8a SGB VIII durch die Jugendämter und die Einleitung der notwendigen Schutzmaßnahmen für Kinder und Jugendliche. Auf interministerieller Ebene gibt es verschiedene Gremien, in denen der Präventionsbereich des Polizeipräsidiums mitwirkt. Jährlich wiederkehrend initiiert das MBJS eine Beratung der Jugendschutzfachkräfte des Landes Brandenburg, dort sind u. a. Vertreter der Jugendämter, der Polizei und der Opferhilfeeinrichtungen vertreten. Des Weiteren gibt es jährliche Besprechungen des Begleitgremiums zum „Aktionsplan der Landesregierung zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und ihre Kinder“, ausgerichtet vom Ministerium für Arbeit, Soziales , Gesundheit, Frauen und Familie des Landes Brandenburg, in denen Vertreter von Politik, Verwaltung und Nichtregierungsorganisationen zusammenarbeiten. Diese Gremien dienen der Vernetzung und der Diskussion von Schwerpunktthemen sowie der Bearbeitung von ablauforganisatorischen Fragestellungen, teilweise anhand von Einzelfällen.