Landtag Brandenburg 6. Wahlperiode Drucksache 6/1475 Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 529 der Abgeordneten Britta Müller der SPD-Fraktion Drucksache 6/1188 Evaluation der Leistungs- und Begabungsklassen Wortlaut der Kleinen Anfrage 529 vom 20.04.2015: Mit Beginn des Schuljahres 2007/2008 richtete die damalige Landesregierung im Land Brandenburg 35 Leistungs- und Begabungsklassen - davon 34 an Gymnasien und eine an einer Gesamtschule - ein, in denen leistungsstarke und besonders be- gabte Schülerinnen und Schüler ab der Jahrgangsstufe 5 lernen können. Die am 15.04.2015 im Ausschuss für Bildung, Jugend und Sport präsentierten Er- gebnisse der Evaluation der brandenburgischen Leistungs- und Begabungsklassen bestätigen aktuelle Befunde der empirischen Bildungsforschung, nach denen sehr leistungsstarke Schülerinnen und Schüler von einer Leistungsgruppierung profitieren. So erreichen Schülerinnen und Schüler der Leistungs- und Begabungsklassen bei VERA 8 in der Regel hohe Kompetenzstufen, und sie erzielen in den Prüfungen am Ende der 10. Klasse vergleichsweise bessere Ergebnisse. Zugleich wird wieder einmal deutlich, dass eine frühzeitige Fähigkeitsgruppierung die soziale Selektivität des Schulsystems verstärkt: Schülerinnen und Schüler der Leis- tungs- und Begabungsklassen stammen vor allem aus Familien, in denen die Eltern über eine höhere schulische Ausbildung verfügen, während „Begabte aus weniger gebildeten Familien“, wie es im Bericht heißt, „noch nicht optimal erreicht“ würden. Empfohlen werden Fortbildungsangebote für Lehrerinnen und Lehrer sowohl zur si- cheren Identifizierung und Förderung besonders begabter Kinder und Jugendlicher als auch zur Verbesserung der diagnostischen Kompetenz. Nicht untersucht wurden die Effekte einer Fähigkeitsgruppierung für diejenigen Schü- lerinnen und Schüler, die in den fünften und sechsten Grundschulklassen verbleiben. Internationale und nationale Studien belegen jedoch: Wenn eine zu große Zahl leis- tungsstärkerer Schülerinnen und Schüler aus einer Klasse herausgenommen wird, kann sich dies negativ auf die Leistungsentwicklung der Schülerinnen und Schüler auswirken (vgl. dazu die Zusammenfassung der einschlägigen Befunde durch Han- nah Dumont, Kai Maaz, Ulrich Trautwein: Die Zusammensetzung der Schülerschaft als Einflussfaktor für Schülerleistungen. In: Psychologie in Erziehung und Unterricht. München Basel 2013. S. 163-183.). Ich frage die Landesregierung: 1. Welches sind aus ihrer Sicht die wichtigsten Befunde der Evaluation der Leistungs - und Begabungsklassen? 2. Welche Unterstützungs- und Fortbildungsangebote zur qualitativen Weiterentwicklung der bestehenden Leistungs- und Begabungsklassen plant sie? 3. Welche Möglichkeiten sieht sie, damit Schülerinnen und Schülern aus den sogenannten „bildungsferneren“ Familien größere Chancen haben, eine LuBK zu besuchen ? 4. Welche Erkenntnisse über die Kompetenzentwicklung von Schülerrinnen und Schülern der fünften und sechsten Grundschulklassen seit Einführung der Leistungs - und Begabungsklassen liegen ihr vor? 5. Welche Konsequenzen wird sie vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung und dem weiteren Ausbau inklusiver Schulen aus den Evaluationsbefunden ziehen? Namens der Landesregierung beantwortet der Minister für Bildung, Jugend und Sport die Kleine Anfrage wie folgt: Frage 1: Welches sind aus ihrer Sicht die wichtigsten Befunde der Evaluation der Leistungs- und Begabungsklassen? Zu Frage 1: Wichtige Befunde lassen sich wie folgt beschreiben: a) Profile der LuBK: Im Land Brandenburg existieren verschiedene Profilausrichtungen im mathema- tisch-naturwissen-schaftlich-technischen, sprachlichen, gesellschaftswissenschaft- lichen und musisch-künstlerischen Bereich (und Kombinationen davon) sowie die Ausrichtung auf die Förderung individueller Begabungsprofile. Die regionale Un- gleichverteilung der Schulen mit Leistungs- und Begabungsklassen (LuBK) ist er- heblich, sodass eine Wahlfreiheit der Schülerinnen und Schüler gar nicht oder nur sehr eingeschränkt gegeben ist. Die Schulen mit unterschiedlichen Profilausrichtungen verfügen über für das jewei- lige Profil angepasste und geeignete Maßnahmen zur Begabtenförderung. Dazu zählt bspw. die Verdichtung des Unterrichts und der zusätzlichen, außerunterricht- lichen Angebote gemäß der Profilausrichtung. Bei den LuBK-spezifischen Fördermaßnahmen nehmen „Enrichment“, Akzelerati- on und individuelle Förderpläne einen bedeutenden Anteil in der Begabtenförde- rung ein. b) Leistungsentwicklung LuBK - LuBK im Vergleich zu Regelklassen: Folgende Trends lassen sich für die getesteten Kompetenzbereiche kennzeich- nen: Die Schülerinnen und Schüler der LuBK erreichen mit Abstand die höchsten Kompetenzstufen, gefolgt von denen in Regelklassen an Gymnasien mit LuBK, welche wiederum etwas bessere Kompetenzstände erreichen als diejenigen in Regelklassen an Gymnasien ohne LuBK. Der Abstand zwischen den beiden letzt- genannten Gruppen untereinander ist zwar deutlich geringer als der Abstand zwi- schen den LuBK einerseits und den beiden Regelklassenvergleichsgruppen ande- rerseits. Insgesamt zeigt der Vergleich der VERA-8-Ergebnisse in Mathematik und Deutsch zwischen den Schülerinnen und Schülern der LuBK und Regelklassen einen deutlichen Vorsprung für die LuBK-Schülerinnen. Eine differenzierte Begutachtung der Verteilung der LuBK-Schülerinnen und - Schüler der teilnehmenden Schulen auf die einzelnen Kompetenzstufen in VERA 8 zeigt jedoch ein heterogenes Bild. Die Rangreihen der LuBK unterscheiden sich in den erreichten Kompetenzstufen in Mathematik, Deutsch und Englisch – es sind nicht jeweils dieselben LuBK in allen Kompetenzbereichen Spitzenreiter bzw. Schlusslichter. Dies ist auch zu erwarten, da es verschiedene Profilierungen der LuBK-Schulen im Land gibt. c) Soziale Entwicklung der Schülerinnen und Schüler in den LuBK: Die Ergebnisse der Schülerbefragung vermitteln das Bild einer positiven Passung zwischen den sehr guten Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler und den Anforderungen und Angeboten des Unterrichts in den LuBK. Die Einschät- zungen der Schülerinnen und Schüler der LuBK bescheinigen dem Deutsch- und Mathematikunterricht ein Niveau, das zu ihren eigenen Voraussetzungen passt und zu positiveren Ausprägungen fast aller erfragten Merkmale in den LuBK als in den Regelklassen führt. Die LuBK bieten den Schülerinnen und Schülern auch einen guten Rahmen für die Ausbildung sozialer Orientierung und sozialer Initiative. Für die häufig formulierte Alltagsmeinung, (Hoch)-Begabte seien sozial weniger kompetent als durchschnitt- lich Begabte, konnten keine empirischen Belege gefunden werden. Die Förderung der sozialen Kompetenz gelingt in LuBK gleichermaßen gut wie in Regelklassen. d) Unterrichtsqualität, Fortbildungen und diagnostische Kompetenz der Lehrkräfte in den LuBK: Die Auswirkungen der LuBK auf die Unterrichts- und Schulkultur der gesamten Schule werden größtenteils als positiv beschrieben. Durch pädagogisches und methodisches Engagement kann die Einführung der LuBK als Katalysator für die Unterrichtsentwicklung einer Schule insgesamt wirken. Da über 90 % der insge- samt befragten Lehrkräfte sowohl in LuBK als auch in Regelklassen unterrichten, sind Transfereffekte aus dem LuBK-Unterricht in den Regelunterricht wahrschein- lich. Bemerkenswert ist der von den Lehrkräften geäußerte große Bedarf an Fort- bildungen im Bereich Binnendifferenzierung und an zusätzlicher Förderung außer- halb des eigenen Fachunterrichts. Diese Bedarfslage zeigt sich auch dadurch, dass die Lehrkräfte noch große Unsicherheiten bei der Einschätzung von Lern- ständen und Lernpotenzialen aufweisen. Die Analysen zur diagnostischen Kompe- tenz der Lehrkräfte für begabte/hochbegabte Schülerinnen und Schüler zeigen, dass die Lehrkräfte die Leistungen der LuBK-Schülerinnen und Schüler - insbe- sondere in der Jahrgangsstufe 8 - im oberen Leistungsbereich (Kompetenzstufe vier und fünf) stark unterschätzten und im unteren Leistungsbereich eher über- schätzten. Es sind noch Defizite im Bereich der diagnostischen Kompetenz der Lehrkräfte festzuhalten. e) Aufnahmeverfahren und Zugang: Die Analyse konnte für die ausgewählten Schülerkohorten belegen, dass in den LuBK anteilig deutlich mehr Schülerinnen und Schüler lernen, die aus Familien mit hoher Bildungsaspiration stammen. Dies deutet auf eine hohe soziale Selektivität beim Zugang zu den LuBK hin. Dieser Befund ist allerdings kongruent mit anderen Befunden aus nationalen und internationalen Studien über Begabungsförderpro- gramme. Das multikriteriale Auswahlverfahren hat sich insgesamt bewährt. Die Schulen nutzen insbesondere das Eignungsgespräch des gesetzlich vorgeschriebenen Standard-Auswahlverfahrens für die profilbezogene Erweiterung der Auswahlkrite- rien. Des Weiteren werden hier auch die notwendigen motivationalen Aspekte für einen langjährigen, erfolgreichen Schulbesuch in einer LuBK ergründet. Frage 2: Welche Unterstützungs- und Fortbildungsangebote zur qualitativen Weiterentwick- lung der bestehenden Leistungs- und Begabungsklassen plant sie? Zu Frage 2: Seit Beginn des Schuljahres 2014/2015 durchlaufen die aktuell 23 tätigen Beraterin- nen und Berater der landesweiten Beratungsstützpunkte für Begabtenförderung eine zweijährige Auffrischungs- oder Neuqualifizierung am LISUM unter Beteiligung von Frau Prof. Miriam Vock von der Universität Potsdam (Humanwissenschaftliche Fakul- tät, Professur für Empirische Unterrichts- und Interventionsforschung). Das Qualifizierungscurriculum orientiert sich an den drei Aufgabenschwerpunkten der Beratung. Zu deren Aufgaben zählt unter anderem die Unterbreitung von Fortbil- dungsangeboten zu Fragen der Identifizierung und Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Begabungen, die neben Informations- und Beratungsange- boten eine neue Schwerpunktsetzung erfahren haben. Die Beraterinnen und Berater sind zu dieser Thematik in ihren Regionalstellen die Ansprechpartner für alle Lehr- kräfte und kooperieren mit den BUSS-Beraterinnen und -Beratern. Sie bieten zum einen Fortbildungen über das BUSS-System (TIS) an und können zum anderen von Einzellehrkräften als auch Kollegien für individuelle, schulspezifische Beratungen und Fortbildungen angefragt werden. Neben den Fortbildungen der Beraterinnen und Berater der Stützpunkte stehen den in den LuBK tätigen Lehrkräften die Angebote der BUSS-Berater zur Verfügung. Fortbildungen mit dem Schwerpunkt Umgang mit Heterogenität und innere Differen- zierung, welche die Weiterentwicklung der diagnostischen Kompetenz einschließen, werden durch die BUSS-Berater mit Einführung der neuen Rahmenlehrpläne im kommenden Schuljahr verstärkt angeboten. Da die begabungsgerechte und entwicklungsgemäße Förderung besonders begabter Kinder und Jugendlicher eine Aufgabe aller Bildungseinrichtungen ist, richten sich die Fortbildungsangebote der Beraterinnen und Berater für Begabtenförderung bewusst nicht ausschließlich nur an jene Lehrkräfte, die in Leistungs- und Begabungsklassen unterrichten. Die Notwendigkeit, alle Lehrkräfte, aber auch Erziehungspersonal und Eltern bezüglich der Identifizierung und Förderung von besonders begabten und leis- tungsfähigen Schülerinnen und Schülern zu sensibilisieren und zu qualifizieren, be- steht nicht erst mit Einführung der Leistungs- und Begabungsklassen. Sie war, ist und bleibt eine zentrale und schulformunabhängige Aufgabe schulischer Bildung (§ 3 Abs.1 BbgSchulG). Die Informations-, Beratungs- und Fortbildungsangebote zur Identifizierung und För- derung von besonders begabten und leistungsfähigen Schülerinnen und Schülern werden künftig durch Fachtagungen am LISUM komplettiert. Neben externen Fortbil- dungen soll den Schulen verstärkt die Chance gegeben werden, voneinander zu ler- nen. Auf den Fachtagungen können u.a. einzelne Schulen erfolgreiche und neuartige Konzepte und „ihre Best-Practice“-Beispiele vorstellen. Die Fachtagungen sind zu- dem für die wünschenswerte stärkere Vernetzung von Schulen eine geeignete Platt- form. Frage 3: Welche Möglichkeiten sieht sie, damit Schülerinnen und Schülern aus den soge- nannten „bildungsferneren“ Familien größere Chancen haben, eine LuBK zu besu- chen? Zu Frage 3: Der Befund, dass die Schülerinnen und Schüler in den LuBK häufiger aus Familien stammen, in denen die Eltern eine höhere schulische und berufliche Ausbildung ha- ben, ist kein spezifisches Phänomen für das Land Brandenburg. Es muss vielmehr für nationale und internationale Begabtenförderprogramme als typisch benannt wer- den. Hingegen stellt die relative Gleichverteilung der Geschlechter über alle LuBK hinweg einen deutlich positiven Befund dar, da typischerweise in Begabtenförderpro- grammen Jungen überrepräsentiert sind. Die ausgeprägte Zugangsgerechtigkeit hin- sichtlich der Geschlechterverteilung ist für die deutsche Begabtenklassenlandschaft damit eine nicht zu vernachlässigende Ausnahme. Die Landesregierung hat begonnen, die Empfehlungen aus dem Evaluationsbericht zum Zugang zum Förderprogramm umzusetzen. Zum einen werden künftig die In- formations-, Beratungs- und Fortbildungsangebote für Eltern von Schülerinnen und Schülern in der Grundschule und insbesondere für Grundschullehrkräfte vonseiten der Beraterinnen und Berater der Stützpunkte intensiviert. Zum anderen wurde erst- malig in diesem Schuljahr eine Tagesveranstaltung im Rahmen des Qualifizierungs- angebotes für die Beraterinnen und Berater am LISUM ausschließlich für Grund- schullehrkräfte geöffnet, um diese für die Thematik und insbesondere für die Identifi- zierung von besonders begabten und leistungsfähigen Schülerinnen und Schülern zu sensibilisieren. Die große Resonanz und das durchweg positive Feedback vonseiten der Grundschullehrkräfte bekräftigen diese Vorgehensweise. Eine Wiederholung im kommenden Schuljahr ist bereits in Planung. Die Stärkung des Potenzials der Grundschullehrkräfte - besonders begabte Schüle- rinnen und Schüler zu erkennen, mit geeigneten Förderansätzen individuell zu unter- stützen und die Eltern von sozial benachteiligten Kindern mit besonderen Potenzia- len ermutigend und kompetent zu beraten - soll dabei nicht nur dem benannten Be- fund entgegenwirken, sondern ist ebenso für die integrative Förderung von Schüle- rinnen und Schülern aller Fähigkeitsniveaus bedeutsam. Dies ist wesentlich, da die Landesregierung stets betont hat, dass Leistungs- und Begabungsklassen nur eine Form der Begabungsförderung im Land sind. Schon seit vielen Jahren gibt es Schu- len mit besonderer Prägung, Schulen mit fachlichen Schwerpunkten, Schülerakade- mien, Schülerwettbewerbe, Spezialseminare oder unterschiedlichste Arbeitsgemein- schaften. Im Land Brandenburg werden begabte Schülerinnen und Schüler in vielfäl- tiger Art und Weise gefördert, und die Beratungslehrkräfte an den Stützpunkten un- terstützen die Eltern und Lehrkräfte mit ihrem Fachwissen dabei. Frage 4: Welche Erkenntnisse über die Kompetenzentwicklung von Schülerrinnen und Schü- lern der fünften und sechsten Grundschulklassen seit Einführung der Leistungs- und Begabungsklassen liegen ihr vor? Zu Frage 4: Im Rahmen der Untersuchung liegen der Landesregierung keine Erkenntnisse zur Kompetenzentwicklung von Schülerinnen und Schülern der fünften und sechsten Grundschulklassen seit der Einführung der Leistungs- und Begabungsklassen vor. Frage 5: Welche Konsequenzen wird sie vor dem Hintergrund der demographischen Entwick- lung und dem weiteren Ausbau inklusiver Schulen aus den Evaluationsbefunden zie- hen? Zu Frage 5: Der Evaluationsbericht thematisiert weder die demografische Entwicklung noch den weiteren Ausbau inklusiver Schulen ausführlich, daher können für diese Bereiche keine Konsequenzen für die Leistungs- und Begabungsklassen aus dem Evaluati- onsbericht abgeleitet werden.