Datum des Eingangs: 30.09.2016 / Ausgegeben: 05.10.2016 Landtag Brandenburg 6. Wahlperiode Drucksache 6/5195 Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage Nr. 2090 der Abgeordneten Raik Nowka, Prof. Dr. Michael Schierack und Björn Lakenmacher der CDU-Fraktion Drucksache 6/5035 Keine Untersuchungshaft Namens der Landesregierung beantwortet der Minister der Justiz und für Europa und Verbraucherschutz die Kleine Anfrage wie folgt: Vorbemerkungen der Fragesteller: Laut Presseberichterstattung der Lausitzer Rundschau hat ein 28 Jahre alter Mann in Cottbus ein zehnjähriges Kind aus einem geparkten Auto gestoßen, um das Kraftfahrzeug unter großer Gewaltanwendung zu stehlen. Die Staatsanwaltschaft habe keinen Grund gesehen, den Mann trotz einer Aufsehen erregenden Flucht vom Bahnhof bis kurz vor das Krankenhaus in Untersuchungshaft zu nehmen. Als die Polizei noch die Zeugen vernahm, wurde der Mann bereits freigelassen. Danach griff er drei Bundespolizisten an, die sich mit Pfefferspray und Diensthund zur Wehr setzen mussten. Der Mann wurde wieder freigelassen . Später hatte er sich unter seltsamen Umständen das Leben genommen. Frage 1: Wie waren die Tatumstände und welche Straftatbestände wurden dem Mann vorgeworfen? zu Frage 1: Nach dem ermittelten Sachverhalt versuchte der später verstorbene Beschuldigte am 16. August 2016 kurz nach 18 Uhr auf dem Vorplatz des Cottbusser Hauptbahnhofs einen Personenkraftwagen zu entwenden, dessen Schlüssel er zuvor dem Besitzer in der McDonalds-Filiale im Bahnhof entwendet hatte. Der Geschädigte hatte den Diebstahl des Schlüssels bemerkt und konnte den Beschuldigten am Wegfahren hindern, worauf dieser aus dem Fahrzeug ausstieg, den Besitzer dabei zu Boden stieß und flüchtete. In dem Fahrzeug hatte sich zunächst noch der Enkelsohn des Geschädigten befunden. Entgegen zunächst anders lautenden Informationen war dieser jedoch nicht gewaltsam von dem Beschuldigten aus dem Fahrzeug befördert worden, sondern nach der Zeugenaussage des Geschädigten vom 19. August 2016 auf die verbale Aufforderung des Beschuldigten ausgestiegen. Der Geschädigte verständigte unmittelbar nach dem Vorfall einen Bundespolizeibeamten im Hauptbahnhof , der die Verfolgung aufnahm. Als der Beamte den Beschuldigten fast eingeholt hatte, drehte dieser sich um, streckte einen Arm aus und der Beamte warf sich zu Boden in der Annahme, dass der Beschuldigte eine Pistole auf ihn gerichtet habe. Als der Beschuldigte die Bahngleise überquert hatte, nahm der Beamte die Verfolgung wieder auf und alarmierte die Landespolizei. Die Besatzung des sofort eingesetzten Streifenwagens traf mit dem Bundespolizeibeamten in der Senftenberger Straße zusammen und die drei Polizeibeamten konnten den Beschuldigten kurz darauf im Rahmen der Nahbereichsfahndung in der Finsterwalder Straße festnehmen. Ausweislich des mitgeführten Personalausweises stellte sich heraus, dass es sich bei dem Beschuldigten um einen polnischen Staatsbürger handelte. Eine Waffe oder ein waffenähnlicher Gegenstand sind weder beim Beschuldigten sichergestellt noch im Zuge der Nachsuche aufgefunden worden. Um 19:45 Uhr wurde die Eildienststaatsanwältin der Staatsanwaltschaft Cottbus informiert, die ein Ermittlungsverfahren wegen versuchten räuberischen Diebstahls, Nötigung, Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte und Körperverletzung einleitete. Frage 2: Waren genügend Polizeikräfte verfügbar? zu Frage 2: Der den Beschuldigten ununterbrochen verfolgende Bundespolizeibeamte sowie die mit zwei Beamten besetzte Streife der Landespolizei waren für den Einsatz ausreichend: Die vorläufige Festnahme erfolgte um 18:47 Uhr im Zusammenwirken der drei Polizeibeamten bereits 13 Minuten nach Verständigung der Polizeiinspektion Cottbus um 18:34 Uhr. Frage 3: Warum wurde der Mann beim ersten Mal so weit entfernt vom Tatort gestellt ? zu Frage 3: Der erste polizeiliche Kontakt mit dem Flüchtigen erfolgte durch den vom Geschädigten verständigten Bundespolizeibeamten noch im Bereich des Cottbusser Hauptbahnhofes. Die vorläufige Festnahme erfolgte sodann in der Finsterwalder Straße nur wenige hundert Meter vom Tatort entfernt. Frage 4: Wurden bei dem Mann psychische Auffälligkeiten festgestellt bzw. nicht festgestellt? Wurde ein Psychologe oder Psychiater hinzugezogen? zu Frage 4: Bei dem Beschuldigten wurden keine psychischen Auffälligkeiten festgestellt . Auch im Rahmen der ärztlichen Untersuchung und Behandlung im Carl-Thiem- Klinikum nach dem zweiten Vorfall verneinte der behandelnde Arzt eine psychische Erkrankung des Beschuldigten. Frage 5: Welche Anforderungen sind an eine sorgfältige Haftgrundprüfung bei der Untersuchungshaft zu stellen? zu Frage 5: Die Voraussetzungen der Untersuchungshaft ergeben sich aus der Strafprozessordnung: Nach § 112 Abs. 1 Satz 1 StPO muss gegen den Beschuldigten zunächst ein dringender Tatverdacht bestehen, der nur dann anzunehmen ist, wenn eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass der Beschuldigte auch tatsächlich Täter der ihm zur Last gelegten Tat ist. Des Weiteren muss einer der im Gesetz abschließend genannten Haftgründe vorliegen: Flucht (§ 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO), Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO), Verdunkelungsgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO), Verdacht eines Schwerstverbrechens (§ 112 Abs. 3 StPO) oder Wiederholungsgefahr (§ 112a StPO). Schließlich ist nach § 112 Abs. 1 Satz 2 StPO der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten: Die Untersuchungshaft darf nicht angeordnet werden, wenn sie zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung außer Verhältnis steht. Der vorliegend nach der vorläufigen Festnahme des Beschuldigten in Betracht zu ziehende Haftgrund der Fluchtgefahr ist anzunehmen, wenn die Würdigung der Umstände des Falles es wahrscheinlicher macht, dass sich ein Beschuldigter dem Strafverfahren entziehen als dass er sich ihm zur Verfügung halten werde (Brandenburgisches Oberlandesgericht , Beschluss vom 14. März 2013 – 2 Ws 46/13 – zit. nach juris). Dies erfordert die Berücksichtigung sämtlicher bekannter Umstände des Falles, wobei die für und gegen eine Flucht sprechenden Umstände sorgfältig gegeneinander abgewogen werden müssen. Maßgebliche Indizien können z.B. sein: Schwere des Tatvorwurfs , Vorleben des Beschuldigten, Verhalten vor und nach der Tat, soziale und berufliche Bindungen, Beziehungen ins Ausland (Meyer-Goßner, StPO, 59. Aufl. 2016, § 112 Rn. 17 ff. m.w.N.). Die hohe Straferwartung gibt einen starken Anreiz, sich dem Verfahren durch Flucht zu entziehen, vermag allein die Fluchtgefahr jedoch nicht zu begründen (Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 6. Oktober 2014 – 1 Ws 164/14 – zit. nach juris), ebenso wenig rechtfertigt eine Suizidgefahr die Anordnung der Untersuchungshaft (Meyer-Goßner, a.a.O. m.w.N.). Frage 6: Werden Zeugenaussagen in die Haftgrundprüfung einbezogen? zu Frage 6: Ein Gericht ist von Gesetzes wegen gehalten grundsätzlich sämtliche bekannten Umstände des Falles in die Beurteilung eines Haftgrundes mit einzubeziehen und zu würdigen, insbesondere bereits vorliegende Zeugenaussagen. Frage 7: Warum wurden in diesem Fall die Zeugenaussagen nicht in die Haftgrundprüfung einbezogen? zu Frage 7: Bei der Prüfung, ob ein dringender Tatverdacht und ein Haftgrund bestehen , wurden am Abend des 16. August 2015 von der Eildienststaatsanwältin die bereits vorliegenden Zeugenaussagen berücksichtigt. Indes waren die Angaben des Geschädigten gegenüber der Landespolizei sowie die Angaben des Bundespolizisten , dem gegenüber der Geschädigte das Geschehen unmittelbar nach der Tat als erstes geschildert hat, in wesentlichen Details widersprüchlich, so dass schon ein dringender Tatverdacht wegen versuchten räuberischen Diebstahls im Sinne einer hohen Verurteilungswahrscheinlichkeit wegen dieses Verbrechens nicht zu begründen war. So hat der Bundespolizeibeamte bekundet, durch den Geschädigten sei angegeben worden, der Beschuldigte habe seinen Enkelsohn gewaltsam aus dem Fahrzeug gedrängt. In seiner Vernehmung durch die Landespolizei hat der Geschädigte den Geschehensablauf hingegen so geschildert, dass sein Enkelsohn allein auf die Aufforderung mit den Worten „raus, raus“ das Fahrzeug verlassen habe; auch die körperliche Attacke gegenüber dem Geschädigten sei erst erfolgt, als der Beschuldigte das Fahrzeug verlassen und fliehen wollte. Räuberischer Diebstahl setzt jedoch nach § 252 StGB voraus, dass der Täter sich durch Anwendung von Gewalt oder Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben im Besitz des gestohlenen Gutes halten will. Frage 8: Wurde bereits beim ersten Vorfall die Wohnungsadresse des Mannes festgestellt und lag diese bei der ersten Haftgrundprüfung vor? zu Frage 8: Die Wohnanschrift des Beschuldigten in Polen wurde im Rahmen der polizeilichen Maßnahmen unmittelbar nach dem oben geschilderten ersten Vorfall aufgrund des von ihm mitgeführten polnischen Personalausweises festgestellt und lag bei der Prüfung der Voraussetzungen eines Haftbefehls durch die Staatsanwaltschaft Cottbus am Abend des 16. August 2016 vor. Frage 9: Warum wurde der Mann nach dem zweiten Vorfall wieder freigelassen? zu Frage 9: Am 18. August 2016 kurz vor 4 Uhr wurde der Beschuldigte erneut auf dem Hauptbahnhof in Cottbus auffällig, als er einen Zug der ODEG nicht verlassen wollte und die Eisenbahngesellschaft daraufhin die Bundespolizei verständigte. Der Beschuldigte folgte den Aufforderungen der herbeigerufenen Bundespolizeibeamten nicht und leistete körperlichen Widerstand, so dass die Beamten den mitgeführten Polizeihund einsetzten, der den Beschuldigten in den linken Oberarm biss. Erst durch den zusätzlichen Einsatz von Pfefferspray konnte der Beschuldigte zu Boden gebracht und festgenommen werden. Um 5:45 Uhr wurde er in das Carl-Thiem- Klinikum verbracht und dort ärztlich versorgt. Ein Zusammenhang zwischen diesem Vorfall und dem Geschehen am 16. August 2016 wurde von der Bundespolizei nicht erkannt, sodass der Beschuldigte nach der ärztlichen Versorgung entlassen wurde. Erst als beide Verfahren am 19. August 2016 der Staatsanwaltschaft Cottbus vorlagen , fiel die Personenidentität des Beschuldigten auf, worauf der Leitende Oberstaatsanwalt in Cottbus die Verbindung beider Verfahren und den Antrag auf Erlass eines Haftbefehls wegen Fluchtgefahr anwies, da zwischenzeitlich eine über das deutsch-polnische Lagezentrum in Świecko veranlasste Prüfung der polnischen Wohnanschrift des Beschuldigten ergeben hatte, dass diese nicht mehr aktuell war und der Beschuldigte in Polen über keinen festen Wohnsitz verfügte. Noch bevor allerdings eine richterliche Entscheidung erwirkt werden konnte, ging bei der Staatsanwaltschaft die Nachricht vom Tod des Beschuldigten ein. Dieser hatte sich am Nachmittag des 19. August 2016 im Bereich der Güterbahnhofstraße in Senftenberg vor einen aus Richtung Sedlitz kommenden Güterzug gestellt und ist von diesem überfahren worden. Frage 10: Sind die Gesamtumstände die zum Tod des Mannes führten ordnungsgemäß ermittelt worden? zu Frage 10: Das den Beschuldigten betreffende Todesermittlungsverfahren ist noch nicht abgeschlossen.