Datum des Eingangs: 04.04.2017 / Ausgegeben: 10.04.2017 Landtag Brandenburg 6. Wahlperiode Drucksache 6/6372 Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage Nr. 2508 der Abgeordneten Marie Luise von Halem der Fraktion der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Drucksache 6/6144 Zeugnisse des Kolonialismus in Brandenburg Namens der Landesregierung beantwortet die Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kultur die Kleine Anfrage wie folgt: Vorbemerkungen der Fragesteller: Kolonialismus hörte nicht mit dem Tag auf, an dem das deutsche Kaiserreich seine Kolonien abgeben musste. Der Kolonialismus ist in vielerlei Hinsicht eine Vorgeschichte des Nationalsozialismus und ragt noch heute in das Alltagsleben hinein, ob in Form von Rassismus, kolonial geprägten Strukturen, materiellem Kolonialerbe oder als Nichtbeachtung von begangenem Unrecht . Sich der Rolle Deutschlands – und somit auch Brandenburgs - im weltweiten deutschen Kolonialreichs 1884-1919 und auch auf den Gebieten des heutigen Brandenburgs in den Jahrhunderten davor in kritischer Reflexion bewusst zu sein, stärkt den innergesellschaftlichen und internationalen Versöhnungsprozess zwischen den Nachfahren der Kolonisierten und denen der Kolonisierenden. Frage 1: Welche Initiativen von Nachfahren Kolonisierter und welche entwicklungspolitischen Organisationen der Zivilgesellschaft, die sich der kritischen Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus und seinen Folgen für die Gegenwart Brandenburgs stellen, sind der Landesregierung bekannt? Werden sie mit Landesmitteln gefördert und wenn ja, wofür und in welcher Höhe? zu Frage 1: In der entwicklungspolitischen Kommunikationsarbeit werden von brandenburgischen Vereinen regelmäßig Hintergründe, Auswirkungen und Verantwortlichkeiten im Kolonialismus thematisiert und kritisch hinterfragt. Das geschieht insbesondere auch in Bezug auf die Geschichte und Gegenwart der Region des heutigen Landes Brandenburg. Die Kommunikation zu entwicklungspolitischen Inhalten bildet einen Schwerpunkt der Entwicklungspolitischen Leitlinien der Landesregierung. „..Ziel ist es, dafür zu werben, im allgemeinen Bewusstsein die Bedeutung internationaler Zusammenarbeit…dauerhaft zu verankern und als deren Bestandteil die Themen der Entwicklungspolitik für Brandenburgerinnen und Brandenburger erfahrbar zu machen…“. Deswegen werden entsprechende Bildungsangebote von Projektträgern, wie zum Beispiel dem „Verbund entwicklungspolitischer Nichtregierungsorganisatio- nen e. V. (VENROB)“, auf Antrag auch finanziell unterstützt. Dauerhaft setzen sich die jährlich stattfindenden Brandenburgischen Entwicklungspolitischen Bildungs- und Informationstage (BREBIT) mit den Folgen des Kolonialismus auseinander. Die „Regionale Arbeitsstelle für Bildung, Integration und Demokratie Brandenburg (RAA)“ stellt für die in der BREBIT zusammengeschlossenen Vereine Förderanträge, die landesseitig in 2017 mit insgesamt 55.000 Euro unterstützt werden. Aktuell setzt sich die „Berlin-Brandenburgische Auslandsgesellschaft e. V. (BBAG)“ im Rahmen ihres Bildungsangebotes 2017 mit den Fragen des Kolonialismus auseinander. Es ist beabsichtigt , dieses Angebot mit insgesamt 3.110 Euro aus Landesmitten zu unterstützen . Frage 2: Welche Maßnahmen zum würdevollen Gedenken an die Opfer des europäischen bzw. deutschen Kolonialismus gibt es in Brandenburg? zu Frage 2: Ein Gedenkort für die Opfer des europäischen bzw. deutschen Kolonialismus existiert im Land Brandenburg nicht. Eine Auseinandersetzung mit dem Thema findet gleichwohl auf unterschiedlichen Ebenen statt, u.a. im zivilgesellschaftlichen Bereich oder an den Schulen und Hochschulen des Landes Brandenburg. Frage 3: Welche dezentralen Orte der Erinnerung an die Kolonialzeit in Brandenburg (z.B. Info- und Gedenktafeln, Denkmalkunst im öffentlichen Raum etc.) sind der Landesregierung bekannt? zu Frage 3: In Wünsdorf erinnert eine vom Förderverein Garnisonsmuseum Wünsdorf erarbeitete Infotafel an das so genannte Halbmondlager. Im Jahr 2015 hatten archäologische Grabungen durch das Brandenburgische Landesamt für Denkmalpflege neue Erkenntnisse zum Kriegsgefangenenlager aus dem Ersten Weltkrieg geliefert. Im Jahr 2016 fand dann in Zossen eine vom Förderverein Garnisonsmuseum initiierte Ausstellung statt, die die Historie der ehemaligen Moschee in Wünsdorf umfassend beleuchtete (vgl. dazu auch die Antwort zu Frage 5). Weitere Orte der Erinnerung an die Kolonialzeit sind der Landesregierung nicht bekannt. Frage 4: Sind der Landesregierung Namen von Straßen und Plätzen im Land bekannt , die a) sich auf die koloniale Vergangenheit beziehen und b) die Persönlichkeiten des Widerstands gegen Kolonialismus und Rassismus würdigen? Welche sind das? zu Frage 4: Solche Orte sind der Landesregierung nicht bekannt. Frage 5: An welchen Orten im heutigen Brandenburg wurde in besonderem Maße Kolonialgeschichte geschrieben (wie z.B. Wünsdorf)? zu Frage 5: Europäische Kolonialgeschichte spielte sich in Wünsdorf (Landkreis Teltow -Fläming) ab. Dort wurde zu Beginn des Ersten Weltkrieges das so genannte Halbmondlager als Lager für kriegsgefangene muslimische Araber, Inder und Afrikaner aus der britischen und französischen Armee errichtet. Hier waren etwa 30.000 Kriegsgefangene interniert. Während des Ersten Weltkrieges war das Osmanische Reich Verbündeter des deutschen Kaiserreiches. Im November 1914 rief der Sultan- Kalif des Osmanischen Reiches die Muslime, die als Soldaten aus den Kolonien auf Seiten Englands und Frankreichs kämpften, dazu auf, zu desertieren und auf die islamische Seite zu wechseln. Deutschland beteiligte sich mit der „Nachrichtenstelle für den Orient“ an diesem Versuch, indem es das Halbmondlager und ein vergleichbares Lager (das Weinberglager) im nahegelegenen Ort Zossen einrichtete. Hier sollten die Gefangenen zum Überlaufen und zum Kampf gegen ihre Kolonialherren bewegt werden. Wichtigstes Instrument zur Überzeugung der islamischen Gefangenen war die Förderung der Ausübung islamischer Praktiken in diesen Lagern. Am 13. Juli 1915 wurde im Halbmondlager auf Wunsch des Muftis von Istanbul die erste tatsächlich zur Religionsausübung gedachte Moschee auf deutschem Boden eingeweiht . Die Holzmoschee musste 1924 infolge Baufälligkeit geschlossen werden und wurde 1925/26 abgerissen. Im Halbmondlager waren zudem auch Hindus und Sikhs untergebracht. Für die 206 in der Kriegsgefangenschaft verstorbenen indischen Kriegsgefangenen wurde im Jahr 2005 in der Ortswüstung des ehemaligen Zehrensdorf nahe Wünsdorf der Zehrensdorf Indian Cemetery nach eingehenden Renovierungsmaßnahmen neu eingeweiht. Frage 6: Gibt es in Brandenburger Museen und Sammlungen Exponate, die im besonderen Maße an die Kolonialzeit erinnern und für die Erinnerungsarbeit nutzbar gemacht werden könnten? zu Frage 6: siehe Antwort zu Frage 7 Frage 7: Sind der Landesregierung Exponate in Brandenburger Museen bekannt, die während der Kolonialzeit in das heutige Brandenburg gelangten? Inwiefern beteiligt sich die Landesregierung an Provenienzforschung in Bezug auf Exponate aus der Kolonialzeit? zu Frage 7: Der Landesregierung sind keine Exponate in Brandenburger Museen bekannt, die während der Kolonialzeit dahin gelangten. Dies hat historische Gründe: Auf Antrag Preußens hatte der Bundesrat im Jahr 1889 beschlossen, die Sammlungen , die durch Expeditionen in den Kolonien entstanden, den Berliner Museen zur Verfügung zu stellen, insbesondere dem Naturkundemuseum und dem Völkerkundemuseum . Die übrigen deutschen Museen sollten lediglich Dubletten erhalten. Dabei sollten wiederum die außerpreußischen Bundesstaaten bevorzugt werden (Protokoll des Bundesrates vom 21.2.1889). Museen im heutigen Land Brandenburg erhielten also i.d.R. keine Exponate, die aus Sammlungen aus der Zeit der Kolonialzeit stammten. Frage 8: Welche Formen der Aufarbeitung der Kolonialgeschichte sieht der Brandenburgische Lehrplan vor? Werden die Lern- und Lehrmaterialien an Brandenburger Schulen auf diskriminierungsfreien und multiperspektivischen Charakter hin überprüft? zu Frage 8: Der neue Rahmenlehrplan für die Jahrgangsstufen 1-10 greift das Thema „Kolonialismus“ konkret und im Kontext von Imperialismus und Migration an mehreren Stellen auf: (1.) Rahmenlehrplan Fachteil „Moderne Fremdsprachen“: Im Themenfeld „Kultur und historischer Hintergrund“ wird „Kolonialismus“ als eine Vertiefungsmöglichkeit angeboten. (2.) Rahmenlehrplan Fachteil „Geschichte“ in den Jahrgangsstufen 7/8 und 9/10: Für die Jahrgangsstufen 7/8 bietet der neue Rahmenlehrplan 1-10 als eines von fünf Wahlmodulen den Längsschnitt „Europäische Expansion und Kolonialismus“ an. In den Jahrgangsstufen 7/8 müssen von den fünf Wahlmodulen mindestens zwei thematisiert werden. Dieser Längsschnitt ist unter der Leitfrage „Verbindung oder Eroberung der Welt?“ mit den folgenden Themen untersetzt: Ko- lumbus und der frühneuzeitliche Kolonialismus, Kolonialismus und Sklavenhandel (z. B. Brandenburg-Preußen) im 17. und 18. Jahrhundert sowie Imperialismus und Rassismus (ca. ab 1860). Das Thema „Migration“ ist als Modul im gesellschaftswissenschaftlichen Fächerverbund zu unterrichten. Die folgenden genannten Konkretisierungen bieten Anknüpfungspunkte: Ostsiedlung und Binnenkolonisation sowie Migration im 19. Jahrhundert nach Amerika, Verschleppung der afrikanischen und Vertreibung der indigenen Bevölkerung. Für die Jahrgangsstufen 9/10 bietet der neue Rahmenlehrplan 1-10 im Fachteil Geschichte Anknüpfungspunkte in den folgenden zur Wahl angebotenen Längsschnitten: Völkermorde und Massengewalt (Fallanalyse ): Herero und Nama 1904 – 1908, Wirtschaft und Handel (Längsschnitt): Weltwirtschaft zwischen Imperialismus und Dekolonialisierung sowie Feindbilder (Fallanalyse ): rassistische Stereotype seit dem Imperialismus. Die Lern- und Lehrmaterialien an Brandenburger Schulen werden auf diskriminierungsfreien und multiperspektivischen Charakter hin überprüft. In den gesellschaftswissenschaftlichen Fächern durchlaufen sie ein Zulassungsverfahren. Für die Begutachtung und Zulassung von Schulbüchern in den gesellschaftswissenschaftlichen Fächern hat das Ministerium für Bildung, Jugend und Sport Orientierungsschwerpunkte formuliert. Neben der Orientierung u.a. an didaktisch-methodischen Grundsätzen oder an den Rahmenlehrplänen sind auch Rechtsnormen und gesellschaftliche Werte maßgebend für die Begutachtung und Zulassung von Schulbüchern. Multiperspektivität und Kontroversität sind neben dem Überwältigungsverbot und der Schülerorientierung für eine gelingende historische und politische Bildungsarbeit in der Demokratie grundlegend und für die Genehmigung von Lehrwerken ebenfalls maßgeblich. Frage 9: Sind der Landesregierung Hochschulen oder andere wissenschaftliche Institute und Einrichtungen in und auch außerhalb Brandenburgs bekannt, die sich explizit mit der Aufarbeitung der Kolonialgeschichte auf dem heutigen Gebiet Brandenburgs befassen? zu Frage 9: Auf Bundesebene beschäftigt sich die Bundeszentrale für politische Bildung mit dem Thema. Hier sei auf die Publikation der Bundeszentrale „Kein Platz an der Sonne. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte“ (Hg.: Jürgen Zimmerer ) verwiesen. Eine umfassende Auseinandersetzung mit dem Thema liefert gegenwärtig die Ausstellung im Deutschen Historischen Museum in Berlin „Deutscher Kolonialismus . Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart“. Die Ausstellung läuft seit dem 14. Oktober 2016 und ist noch bis 14. Mai 2017 zu sehen. Sie widmet sich der kolonialen Vergangenheit Deutschlands und legt die koloniale Ideologie offen, die von einem europäischen Überlegenheitsdenken geprägt war, und beleuchtet die vielfältigen Herrschaftsbeziehungen, die von lokalen Allianzen und der Ausübung alltäglicher Gewalt bis hin zum Kolonialkrieg in Namibia reichten, der in den Völkermord mündete. Die Ausstellung zeigt aber auch künstlerische und zivilgesellschaftliche Perspektiven, die Einblicke in die Gegenwart des deutschen Kolonialismus in den betroffenen Ländern und in Deutschland eröffnen. An der Universität Potsdam finden im Wintersemester 2016/17 folgende Lehrveranstaltungen zum Thema statt: • „Projektseminar: Kolonialgeschichte ausstellen“ von Herrn Prof. D´Aprile (Professur für Kulturen der Aufklärung) in Kooperation mit dem Research Center Sanssouci (Dr. Jürgen Luh) und dem Institut für Anglistik und Amerikanistik (Frau Prof. Anja Schwarz). Im Seminar wird eine virtuelle Ausstellung zur Kolonialgeschichte Brandenburgs im 17. und frühen 18. Jahrhundert entwickelt. • Seminar „Expansion und Konflikt zwischen Tobago und Tranquebar – Kleine Kolonialmächte in der Frühen Neuzeit“ von Heiko Brendel (Wissenschaftlicher Mit- arbeiter an der Professur für Militärgeschichte/Kulturgeschichte der Gewalt). Das Proseminar beschäftigt sich mit dem frühneuzeitlichen Kolonialismus als kollektiver Herrschaftsbeziehung und globalem Wirtschaftssystem. Außerdem gibt es seit dem Jahr 2015 eine studentische Initiative, den AK Potsdam Postkolonial/Postcolonial Potsdam (Arbeitskreis zu preußischer Kolonialgeschichte und postkolonialem Schweigen im heutigen Potsdam). Postcolonial Potsdam beschäftigt sich mit Teilen der preußischen Kolonialgeschichte und deren Spuren im heutigen Potsdam. Die Initiatoren wollen mit Hilfe eines Blogs, durch Veranstaltungen und Stadtführungen die kritische Auseinandersetzung mit Themen wie Rassismus , weißen Machtdiskursen und wirtschaftlichen Ungerechtigkeiten in die breite Öffentlichkeit einbringen. Frage 10: Welche Städtepartnerschaften in Brandenburg dienen der deutschafrikanischen Versöhnungsarbeit (wie z.B. Sansibar – Potsdam) und wie unterstützt die Landesregierung die Arbeit der Städte in diesem Feld? zu Frage 10: Laut Datenbank des Städte- und Gemeindebundes unterhalten zwei Städte im Land Brandenburg Partnerschaften zu afrikanischen Gemeinden: Brandenburg a.d. Havel zu Moryn (Ägypten) und Rheinsberg zu Fangoso (Mali). Die Städtepartnerschaft zwischen Potsdam und Sansibar ist zwar von der Stadtverordnetenversammlung Potsdam beschlossen, der Partnerschaftsvertrag wird aber vermutlich erst im Laufe des Jahres 2017 unterzeichnet. Eine spezielle Unterstützung dieser Städtepartnerschaften durch die Landesregierung erfolgt nicht.