— 1 — B R E M I S C H E B Ü R G E R S C H A F T Landtag 18. Wahlperiode Drucksache 18 / 1003 Kleine Anfrage der Fraktion der SPD vom 30. Mai 2013 Politische Bildungsangebote für Migrantinnen und Migranten Politische Beteiligung erschöpft sich für die Bürgerinnen und Bürger nicht nur durch die Teilnahme an Wahlen. Die Beteiligung in Parteien, Initiativen, Vereinen und Verbänden und an der allgemeinen politischen Debatte ist integraler Bestandteil unserer demokratischen Gesellschaft. Wer hiervon ausgeschlossen ist, hat nur wenige Chancen mit seinen Bedürfnissen, Wünschen und Lebensrealitäten wahrgenommen zu werden. Untersuchungen zeigen, dass Mitbürgerinnen und Mitbürger mit Migrationshintergrund hiervon besonders betroffen sind, dies gilt vor allem für die jeweils erste Generation in Zuwandererfamilien. Über die Gründe hierfür ist wenig bekannt, vermutlich liegt es zum einen an „natürlichen“ Barrieren wie etwa mangelnden Sprachkenntnissen, aber auch an der Unkenntnis über die Funktionsweise unseres politischen Systems und der Möglichkeiten der politischen Einflussnahme in Bremen und Bremerhaven. Umso wichtiger ist es, entsprechende Bildungsangebote vorzuhalten, um diese Defizite auszugleichen. In Bremen und Bremerhaven existieren mehrere Bildungsträger, die die Vermittlung politischer Bildung in ihrem Programm haben. Entsprechende Angebote an bisher nicht nur wenig angesprochene Bevölkerungsgruppen könnten dazu beitragen, Defizite abzubauen und zumindest potenziell mehr Menschen in die Lage zu versetzen, für ihre Interessen einzutreten und ihre demokratischen Mitwirkungsrechte wahrzunehmen. Wir fragen den Senat: 1. Welche Institutionen und Einrichtungen in Bremen und Bremerhaven bieten Weiterbildung, Kurse und sonstige Angebote im Bereich der politischen Bildung für Erwachsene? 2. Inwiefern gibt es innerhalb dieses Angebots Maßnahmen zur politischen Bildung speziell von Migrantinnen und Migranten? 3. Liegen dem Senat Kenntnisse hinsichtlich der Nachfrage solcher Angebote vor? Hat der Senat Kenntnisse über die Teilnehmerstruktur solcher Angebote? 4. Welche Angebote wären perspektivisch denkbar, um insbesondere die politische Teilhabe von Migrantinnen und Migranten auf lokaler Ebene zu fördern? Valentina Tuchel, Björn Tschöpe und Fraktion der SPD D a z u Antwort des Senats vom 16. Juli 2013 1. Welche Institutionen und Einrichtungen in Bremen und Bremerhaven bieten Weiterbildung, Kurse und sonstige Angebote im Bereich der politischen Bildung für Erwachsene? Eine Darstellung der politischen Bildungsangebote aller Einrichtungen in Bremen und Bremerhaven ist nicht möglich, weil entsprechende Daten nicht vorlie- — 2 — gen. Deswegen wird im Folgenden nur Bezug auf die nach dem Weiterbildungsgesetz anerkannten Weiterbildungseinrichtungen in Bremen und Bremerhaven genommen. Von den insgesamt 14 Einrichtungen haben elf politische Bildungsangebote im Programm. Diese sind: — die Wirtschafts- und Sozialakademie der Arbeitnehmerkammer Bremen, — die Bildungsvereinigung Arbeit und Leben Bremen e. V. — die Bremer Volkshochschule, — die Volkshochschule Bremerhaven, — die Bildungsgemeinschaft Arbeit und Leben Bremerhaven, — das Berufsfortbildungswerk des DGB, — das Evangelische Bildungswerk, — das Bildungswerk des Landessportbundes, — das Paritätische Bildungswerk, — die Deutsche Angestellten Akademie, — die Akademie des Handwerks. 2. Inwiefern gibt es innerhalb dieses Angebots Maßnahmen zur politischen Bildung speziell von Migrantinnen und Migranten? Die oben genannten Weiterbildungseinrichtungen bieten auch speziell auf Migrantinnen und Migranten ausgerichtete Maßnahmen zur politischen Bildung an. Diese Angebote richten sich in der Regel an bestimmte Zielgruppen: Frauen, Menschen mit gleicher Sprache/gleichem Herkunftsland oder aus demselben Stadtteil. Erwähnt seien hier beispielhaft: • Gesprächskreise für afrikanische, türkische oder arabisch sprechende Frauen in Tenever (Bremen-Osterholz), Frauengruppen in der Wohnung oder Treffpunkte für Frauen in Grünhöfe (Bremerhaven); • Das Angebot „VHS connect“ umfasst seit dem Frühjahr 2012 mehrsprachige Angebote für Migrantinnen und Migranten, die die deutsche Sprache noch nicht ausreichend beherrschen, sich aber politisch informieren und bilden wollen; • BEAS (Bürgerschaftliches Engagement von Afrikanerinnen und Afrikanern stärken) ist ein Qualifizierungsprojekt für afrikanische Migrantinnen und Migranten zur Unterstützung ihrer Gemeinwesen- und Netzwerkarbeit in Bremen; • „Africa goes VHS“ soll afrikanischen Migrantinnen und Migranten helfen, sich mit ihrer eigenen Identität als Afrikanerin oder Afrikaner im Zusammenhang mit dem verzerrten Afrikabild der deutschen Bevölkerung auseinanderzusetzen , etwas über Kultur, Wirtschaft und Politik zu erfahren und eigene Strategien der kulturellen Vielfalt entwickeln zu können. Diese speziellen Bildungsmaßnahmen für Migrantinnen und Migranten bilden nur einen kleinen Teil des Gesamtangebots, da die Kurse in der Regel eher darauf ausgerichtet sind, möglichst heterogene Gruppen anzusprechen und auf diese Weise den Diversitätsgedanken zu fördern. Einige Angebote sind sogar explizit auf das Zusammenführen verschiedener Kulturen ausgerichtet – so die „Nachbarschaftstreffs“ in Blockdiek (Bremen). Angebote im Feld der politischen Bildung, die u. a. von Migrantinnen und Migranten wahrgenommen werden, sind Weiterbildungskurse, die sich inhaltlich mit Themen der gesellschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Bildung als auch mit der gesundheitlichen Grundbildung und der interkulturellen Kompetenz beschäftigen , sowie Angebote zum Bereich Arbeitswelt und Berufsorientierung. Elemente der politischen Bildung werden zudem im Rahmen von Integrationskursen im sogenannten Orientierungskurs vermittelt. Im Land Bremen bieten — 3 — zahlreiche zugelassene Träger im Auftrag des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge diese Orientierungskurse an, in der Regel im Anschluss an den Sprachkursteil der Integrationskurse. 3. Liegen dem Senat Kenntnisse hinsichtlich der Nachfrage solcher Angebote vor? Hat der Senat Kenntnisse über die Teilnehmerstruktur solcher Angebote? Der Migrationshintergrund der Teilnehmerinnen/Teilnehmer an Maßnahmen im Bereich der politischen Bildung wird statistisch nicht erfasst. Dem Senat liegen grundsätzlich nur projektbezogene Daten vor, sodass belastbare Angaben über die Nachfrage durch Migrantinnen und Migranten zumeist nur bezogen auf besondere, inhaltlich abgegrenzte Projekte gemacht werden können: • Die Bildungsvereinigung Arbeit und Leben (DGB/VHS) e. V. Bremen hat 2012 Bildungsurlaube, Mehrtages- und Tagesveranstaltungen speziell für Migrantinnen und Migranten angeboten und darüber hinaus auch Seminare , die das Thema Migration/Integration in den thematischen Fokus rücken, wie z. B. die Tagungsreihe: „Afrikabilder zum Afrikadiskurs in den Medien und zum Alltagsrassismus in Deutschland“, mit der insgesamt 230 Teilnehmende in vier Tagen erreicht werden konnten. Bei den vier im Jahr 2012 durchgeführten Bildungsurlaubsseminaren speziell für Frauen mit Migrationshintergrund („Woher komme ich, wohin gehe ich“) konnten 51 Migrantinnen erreicht werden. Diese verteilen sich gleichmäßig über die Altersgruppen 18 bis 50 Jahre. Zwei Drittel der Teilnehmerinnen (33) sind Hausfrauen, fast alle ohne Schulabschluss. Die anderen Teilnehmerinnen haben keinen bis mittlere Abschlüsse und sind berufstätig . In diesen Seminaren wird gesellschaftspolitische Grundbildung für Migrantinnen angeboten. Bei den Bildungsurlaubs-, Tages- und Mehrtagesseminaren , an denen 70 bis 100 % Migrantinnen und Migranten teilnahmen (19 Seminare mit insgesamt 288 Teilnehmenden), wurden ein Drittel Frauen und zwei Drittel Männer erreicht. Die Frauen waren meist zwischen 40 und bis über 70 Jahre alt, die Männer zwischen 30 und 50 Jahren. Ein Drittel der teilnehmenden Frauen (97) hatte die Berufsbildungsreife oder einen mittleren Schulabschluss, ein weiteres Drittel einen Hochschulabschluss . Von den Männern (191) hatten ein Drittel die Berufsbildungsreife, über die Hälfte einen mittleren Schulabschluss und nur wenige einen Hochschulabschluss . Bei den Jugendseminaren (hier nur CommPass-Seminare in der Werkschule ) wurde bei 31 von 78 Teilnehmenden ein Migrationshintergrund erfasst, davon waren wiederum 16 Frauen und 15 Männer. • Die Bildungsgemeinschaft Arbeit und Leben Bremerhaven e. V. hat 2012 insgesamt 13 Bildungsveranstaltungen (Wochen- und Wochenendseminare) für Bürgerinnen und Bürger mit Migrationshintergrund durchgeführt; es wurden 78 Teilnehmerinnen und 79 Teilnehmer mit den Maßnahmen erreicht . Der Großteil der Teilnehmenden (80 Personen) war über 31 Jahre alt. Als erreichter Schulabschluss wurde am häufigsten „kein Abschluss“ angegeben. Gleichermaßen häufig wurden die Berufsbildungsreife und andere (mitunter nicht anerkannte) Abschlüsse genannt. Über 50 % der Teilnehmenden waren erwerbslos. Drei Veranstaltungen richteten sich explizit nur an Frauen mit Migrationshintergrund und wurden mit insgesamt 41 Teilnehmerinnen durchgeführt. Dabei handelte es sich nach eigenen Angaben zu 17 % um Hausfrauen, zu 51 % um Erwerbsarbeitslose, zu 24 % um Arbeitnehmerinnen und zu 8 % um selbstständig Tätige. Die Angebote erreichten alle Altersgruppen von 18 bis 60 Jahre. • Die Volkshochschule Bremerhaven hat 2012 insgesamt 19 Maßnahmen zur politischen Bildung angeboten, die sich ausdrücklich an Frauen mit Migrationshintergrund richteten (Treffpunkt für Frauen in Grünhöfe, Frauen in der Wohnung etc.). Mit dem Angebot wurden 200 Teilnehmerinnen aller Altersgruppen von 18 bis 60 Jahren erreicht. Als erreichte Schulabschlüsse wurden überwiegend die Berufsbildungsreife und der mittlere Schulabschluss angegeben. An den Maßnahmen haben überwiegend Hausfrauen bzw. erwerbslose Frauen mit Migrationshintergrund teilgenommen. Nur vereinzelt waren auch erwerbstätige Frauen mit Migrationshintergrund in den Kursen. — 4 — Druck: Anker-Druck Bremen • Die Bremer Volkshochschule hat 2012 neun Gesprächskreise für Frauen mit Migrationshintergrund angeboten, an denen 132 Frauen in den Altersgruppen von 20 bis 70 Jahren teilnahmen. Die Teilnehmerinnen waren überwiegend arbeitslos bzw. im Ruhestand. Bei der Anmeldung wurden keine Daten zum Schulabschluss erhoben. Darüber hinaus hat die Bremer Volkshochschule 2012 sechs Nachbarschaftstreffs in Blockdiek angeboten; in diesem Rahmen wurden keine Daten erhoben . Das Angebot „VHS Connect“ umfasste 2012 insgesamt 99 angebotene Maßnahmen , an denen 443 Frauen und 146 Männer mit Migrationshintergrund teilnahmen. Daten zum Alter, Erwerbsstatus und Schulabschluss wurden nicht erhoben. • Das Evangelische Bildungswerk hat 2012 ein Angebot im Bereich der politischen Bildung speziell für Migrantinnen durchgeführt. Die elf Teilnehmerinnen im mittleren Alter (41 bis 60 Jahre) hatten überwiegend die Berufsbildungsreife als Schulabschluss erreicht und waren in der Regel erwerbslos bzw. Hausfrauen. Das Evangelische Bildungswerk hat 2012 darüber hinaus Sprachkurse angeboten, an denen 35 Frauen und fünf Männer zwischen 50 und 70 Jahren teilnahmen, die überwiegend einen Hochschulabschluss erreicht hatten. • Das Paritätische Bildungswerk hat ein breit gefächertes Bildungsangebot für Migrantinnen und Migranten aufgebaut und arbeitet in diesem Weiterbildungsbereich mit einem ausgeprägten interkulturellen bzw. Diversityansatz . Im Bereich der politischen Bildung hat das Paritätische Bildungswerk 2012 neun Veranstaltungen durchgeführt, an denen überwiegend Migrantinnen und Migranten teilgenommen haben. Die 82 Teilnehmenden mit einem Migrationshintergrund – darunter 39 Frauen und 43 Männer – waren erwerbssuchend (41 Teilnehmende), erwerbstätig (17 Teilnehmende ) und im Studium oder in einer Ausbildung (16 Teilnehmende). Die Angebote erreichten alle Altersgruppen von 18 bis 65 Jahre. 4. Welche Angebote wären perspektivisch denkbar, um insbesondere die politische Teilhabe von Migrantinnen und Migranten auf lokaler Ebene zu fördern? Die elf anerkannten Weiterbildungseinrichtungen sehen einen großen Bedarf an einer gesellschaftspolitischen Grundbildung für Migrantinnen und Migranten sowie Schulungen für Multiplikatorinnen und Multiplikatoren in allen Stadtteilen . Hierzu würden insbesondere praxis- und lebensorientierte Angebote zählen (z. B. „wie funktioniert das Schulsystem oder das Gesundheitssystem in Deutschland?“, „welche Möglichkeiten der aktiven Teilhabe gibt es?“). Es erscheint sinnvoll, solche Kurse gemeinsam mit Migrantinnen und Migranten zu entwickeln und sie auch als Dozentinnen und Dozenten zu gewinnen. Dabei sollten auch die Rahmenbedingungen in den Blick genommen werden (d. h. kleine Lerngruppen, gegebenenfalls Übersetzungsmöglichkeiten in die jeweilige Muttersprache usw.). Auf den Grundbildungsmaßnahmen aufbauend, erscheint es sinnvoll, die Themenfelder systematisch zu erweitern, beispielsweise in Richtung berufliche oder familiäre Unterstützung, Behördengänge sowie institutionelles und gesellschaftliches Wissen. Eine solche Erweiterung des bereits vorhandenen Angebotsspektrums wäre nur mit zusätzlichen Mitteln möglich. Weitere Hinweise erhofft sich der Senat von einer Expertise zum Thema „Diversität und Weiterbildung in Bremen und Bremerhaven“, die vom Projekt „Lernen vor Ort“ bei der Senatorin für Bildung und Wissenschaft und dem Sozialamt Bremerhaven in Auftrag gegeben werden soll. Sie soll Empfehlungen dazu liefern , wie das Weiterbildungssystem im Land Bremen besser für die Vielfalt geöffnet werden kann, um neben der gleichberechtigten gesellschaftlichen auch die politische Teilhabe von Migrantinnen und Migranten zu fördern.