— 1 — B R E M I S C H E B Ü R G E R S C H A F T Landtag 18. Wahlperiode Drucksache 18 / 1190 Kleine Anfrage der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und der SPD vom 29. Oktober 2013 Bremer Wahlrecht inkludierend fortentwickeln Im Rahmen der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention sind auch die Bestimmungen zum Wahlrecht erneut in den Fokus der Diskussion über die Teilhabe von Behinderten gerückt. Während das Bundeswahlgesetz die zwangsweise Unterbringung in einer Psychiatrie und die rechtliche Totalbetreuung als Ausschlussgründe für das Wahlrecht kennt, werden in Bremen nur diejenigen Menschen, die unter rechtlicher Totalbetreuung stehen, von der Wahl ausgeschlossen. Die Übertragung einzelner Aufgabenkreise auf einen Betreuer oder eine Betreuerin führt jedoch nicht zu einem generellen Wahlrechtsausschluss, sodass im Regelfall auch geistig Behinderte oder psychisch Kranke ein Wahlrecht haben. Bei einer Anhörung im Innenausschuss des Bundestages im Juni 2013 wurden auch zu diesem Ausschlusstatbestand stark differierende Ansichten durch die Sachverständigen vorgetragen. In diesem Ausschuss wurde darauf verwiesen, dass zurzeit eine Studie in Arbeit sei, die die Thematik „Wahlrecht von Behinderten“ wissenschaftlich aufarbeiten soll. Allerdings ist gegenwärtig leider unklar, wann diese abgeschlossen ist. Trotzdem sollten im Vorfeld des 15-Monatszeitraums vor der Wahl gegebenenfalls bestehender Änderungsbedarf des Wahlrechts identifiziert und Wahlrechtsausschlüsse auf das rechtlich absolut Unvermeidliche reduziert werden. Unabhängig von den rechtlichen Ausschlüssen besteht für beeinträchtigte Personen eine Vielzahl von faktischen Barrieren für die Teilnahme an Wahlen. Exemplarisch seien hier nur die komplizierte Sprache und die Lesbarkeit der Wahlbenachrichtigung bzw. Beantragung von Briefwahl und das Voraussetzen einer Lesefähigkeit beim Verständnis der Wahlhinweise und Stimmzettel genannt. Wir fragen daher den Senat: 1. Wie viele Menschen in Bremen sind aufgrund einer Totalbetreuung von der Teilnahme an Wahlen ausgeschlossen? 2. In welchen typisierten Fällen wird von den Amtsgerichten eine entsprechende Totalbetreuung eingerichtet? 3. Bei wie vielen dieser Totalbetreuten sind Berufsbetreuerinnen, Berufsbetreuer oder Betreuungsvereine bestellt, bei wie vielen dieser Totalbetreuten ist einem gegebenenfalls vorhandenen Wunsch nach einer Betreuerin/einem Betreuer aus dem Nahbereich der/des Betreuten nachgekommen worden? 4. Sieht der Senat Änderungsbedarf und -möglichkeiten, um die Zahl der Wahlrechtsausschlüsse zu reduzieren? 5. Wie beurteilt der Senat die Anregung, die Wahlbenachrichtigung, die Briefwahlunterlagen und die Wahlhinweise zukünftig in „Leichter Sprache“ zu verfassen ? 6. Hält der Senat es für zielführend, die Stimmzettel zur Bürgerschafts- und Beirätewahl ergänzend mit „Wort-“, „Wort-/Bild-“ oder „Bildmarken“ auszustatten , um Analphabeten eine Orientierung zu erleichtern? Björn Fecker, Dirk Schmidtmann, Dr. Maike Schaefer, Dr. Matthias Güldner und Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Sükrü Senkal, Björn Tschöpe und Fraktion der SPD — 2 — D a z u Antwort des Senats vom 3. Dezember 2013 Gemäß § 2 BremWahlG ist vom Wahlrecht zu den Bürgerschaftswahlen ausgeschlossen , 1. wer infolge Richterspruchs das Wahlrecht nicht besitzt, 2. wem zur Besorgung aller seiner Angelegenheiten ein Betreuer nicht nur durch einstweilige Anordnung bestellt ist; dies gilt auch, wenn der Aufgabenkreis des Betreuers die in § 1896 Absatz 4 und § 1905 des Bürgerlichen Gesetzbuchs bezeichneten Angelegenheiten nicht erfasst. Für die Bundestagswahlen enthält § 13 BWahlG entsprechende Wahlrechtsausschlüsse , schließt darüber hinaus aber auch gemäß §§ 63, 20 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebrachte Personen vom Wahlrecht aus (§ 13 Nr. 3 BWahlG). Die in § 2 Nr. 2 BremWahlG normierte Begrenzung des Wahlrechts – die durch Artikel 1 des Gesetzes vom 18. Februar 1992 (BremGBI. S. 31, 35) in das Bremische Wahlgesetz aufgenommen wurde – ist nach ganz überwiegender Auffassung verfassungsrechtlich unbedenklich (für die h. M.: Klein, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 60 Rdnr. 93; Schreiber, Bundeswahlgesetz, 8. Aufl., § 13 Rdnr. 10, m. w. N.; vergleiche auch Strelen, in: Schreiber, Bundeswahlgesetz, 9. Aufl., § 13 Rdnr. 10 m. w. N.; BayVerfGH vom 9. Juli 2002, Az.: Vf. 9-VII-01, JURIS; vergleiche zum alten Recht auch BVerfGE 36, 139, 141; BVerfGE 67, 146 ff.), jedoch nicht unumstritten; zum Teil wird die Vereinbarkeit mit Artikel 29 der UN-Behindertenrechtskonvention (BGBl. II 2008, S. 1419) bezweifelt (siehe etwa Schulte, ZRP 2012, S. 16 ff.; gegen ihn etwa Strelen, in: Schreiber, Bundeswahlgesetz, 9. Aufl., § 13 Rdnr. 10). Unabhängig von einer juristischen Bewertung verfolgt der Senat die Weiterentwicklung des Wahlrechts im Bund und in den übrigen Ländern und die Diskussionen über die in § 13 Nr. 2 und Nr. 3 BWahlG normierten Begrenzungen des Wahlrechts mit großem Interesse. Mit Beschluss vom 12. Februar 2013 ist der Senat dem Entschließungsantrag des Landes Rheinland-Pfalz im Bundesrat vom 29. Januar 2013 zur Verbesserung des Wahlrechts (BR-Drs. 49/13) beigetreten, der im Kern eine politische Neubewertung dieser Begrenzung des Wahlrechts gefordert hat. Dem Senat sind ferner der Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen Bundestag vom 16. Januar 2013 – Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der UNBehindertenrechtskonvention im Wahlrecht (BT-Drs. 17/12068) sowie der Antrag der SPD-Bundestagsfraktion vom 19. Februar 2013 – Verbesserung des Wahlrechts von Menschen mit Behinderungen und Analphabeten (BT-Drs. 17/12380) bekannt. Der Innenausschuss des Deutschen Bundestages (17. WP) hat am 3. Juni 2013 eine öffentliche Anhörung von Sachverständigen zu den beiden vorgenannten parlamentarischen Initiativen durchgeführt; wegen der Einzelheiten wird insoweit auf das Wortprotokoll Nr. 17/108 dieser Anhörung hingewiesen. Im Einzelnen beantwortet der Senat die Fragen wie folgt: 1. Wie viele Menschen in Bremen sind aufgrund einer Totalbetreuung von der Teilnahme an Wahlen ausgeschlossen? Im Land Bremen ist derzeit für 108 Menschen eine umfassende Betreuung in allen Angelegenheiten eingerichtet; eine statistische Untergliederung dieser Personengruppe in Deutsche, Unionsbürgerinnen und Unionsbürger sowie sogenannte Drittstaatlerinnen und Drittstaatler – die Voraussetzung für die Benennung der exakten Zahl der aufgrund einer entsprechenden Betreuung vom Wahlrecht ausgeschlossenen Personen wäre – liegt nicht vor. 40 der vorgenannten Betreuungen sind im Bezirk des Amtsgerichts Bremen eingerichtet, 36 im Bezirk des Amtsgerichts Bremen-Blumenthal und 32 im Bezirk des Amtsgerichts Bremerhaven. Von den betroffenen Menschen sind 52 männlichen, 56 weiblichen Geschlechts. Insgesamt waren im Land Bremen zum 31. Dezember 2012 10 267 Betreuungen eingerichtet. — 3 — 2. In welchen typisierten Fällen wird von den Amtsgerichten eine entsprechende Totalbetreuung eingerichtet? Ein Betreuer soll zur Besorgung aller Angelegenheiten des Betroffenen nach dem Willen des Gesetzgebers nur in besonderen Ausnahmefällen bestellt werden . Mit der im Jahr 1992 in Kraft getretenen Reform des Rechts der Vormundschaft und Pflegschaft für Volljährige ist die zuvor umfassend wirkende Entmündigung durch die rechtliche Betreuung ersetzt worden, die grundsätzlich die Geschäftsfähigkeit des Betroffenen nicht ausschließt und auf die Bereiche zu beschränken ist, in denen der Betroffene seine Angelegenheiten nicht selbst besorgen kann und in denen Bedarf für eine Betreuung besteht. Nach dem Grundsatz der Erforderlichkeit kommt eine Betreuung des Betroffenen in allen seinen Angelegenheiten nur in Betracht, wenn er aufgrund seiner Krankheit oder seiner Behinderung keine seiner Angelegenheiten mehr selbst besorgen kann. Dabei ist nach der Rechtsprechung auf seine konkreten Lebensumstände, auf seine soziale Situation und seine bisherige Lebensgestaltung abzustellen. Voraussetzung ist, dass der Betroffene nicht imstande ist, den seiner konkreten Lebenssituation entsprechenden Alltag wenigstens teilweise zu beherrschen und zu gestalten (Bayerisches Oberstes Landesgericht, FamRZ 98,452). Hinzukommen muss, dass bezüglich sämtlicher Bereiche, die die konkrete Lebenssituation des Betroffenen ausmachen, auch Handlungsbedarf, also Bedarf unmittelbar für die Einrichtung einer Betreuung, besteht. Das ist insbesondere nicht der Fall, wenn der Betroffene für die für ihn wichtigen Bereiche einen Bevollmächtigten bestellen kann. Die Voraussetzungen für die Bestellung eines Betreuers für alle Angelegenheiten des Betroffenen sind danach in der Regel nur in Fällen völlig hilfloser Personen gegeben. Dem entspricht auch die Praxis der Betreuungsgerichte in Bremen . Selbst in Fällen schwerer geistiger Behinderungen wird ein Betreuer zwar für die wichtigen Aufgabenkreise der Vermögenssorge, der Aufenthaltsbestimmung und der Gesundheitssorge, aber nicht für „alle Angelegenheiten“ bestellt. Es kommen deshalb für eine Betreuung in allen Angelegenheiten nur Fälle wie die von Wachkomapatienten oder schwerst geistig oder schwerst mehrfach Behinderten in Betracht. Der Ausschluss des Wahlrechts ist entsprechend auf diese Fälle beschränkt. Im Rahmen der Reform des Rechts der Vormundschaft und Pflegschaft für Volljährige ist diskutiert worden, ob der damalige § 13 Nr. 2 Bundeswahlgesetz, der den Ausschluss vom Wahlrecht bei Entmündigung vorsah, ganz gestrichen werden sollte. Der Gesetzgeber hat es im Hinblick auf die Funktion des Wahlrechts in einer Demokratie aber aus verfassungsrechtlichen Gründen für erforderlich gehalten, eine dieser Funktion gerecht werdende neue Anknüpfung für den Ausschluss des Wahlrechts zu finden (BT-Drucksache 11/4528 S. 188). 3. Bei wie vielen dieser total betreuten sind Berufsbetreuerinnen, Berufsbetreuer oder Betreuungsvereine bestellt, bei wie vielen dieser Totalbetreuten ist einem gegebenenfalls vorhandenen Wunsch nach einer Betreuerin/einem Betreuer aus dem Nahbereich der/des Betreuten nachgekommen worden? Bei den 108 alle Angelegenheiten umfassenden Betreuungen wurden in 87 Fällen ehrenamtliche Betreuer bestellt, davon 78 Familienangehörige. Berufsbetreuer wurden in 20 Fällen, Vereinsbetreuer in zehn Fällen, die Betreuungsbehörde in zwei Fällen bestellt. Keine Angaben können in sieben Fällen gemacht werden. In 18 Fällen wurden zwei Betreuer bestellt, die Mehrfachbenennungen wurden einbezogen. Falls weitere Betreuer in diesen Einzelfällen bestellt wurden, konnten sie aus datentechnischen Gründen nicht erfasst werden .1) Es ist davon auszugehen, dass die Betreuungsgerichte auch in diesen Fällen die Auswahl nach den Gegebenheiten des Einzelfalls treffen. Befindet sich der Betroffene in einem Heim oder einer sonstigen Einrichtung und bestehen keine besonderen rechtlichen oder tatsächlichen Probleme, kann, wenn vorhanden, ––––––– 1) Die statistischen Daten beruhen auf den Beschlussmitteilungen der Betreuungsgerichte an die örtlichen Betreuungsbehörden. Es finden daher nur die Beschlussmitteilungen Berücksichtigung, die die Betreuungsbehörden erhalten haben. Abweichungen von Statistiken der Justizbehörde sind möglich. Es werden in den Einzelfällen bis zu zwei Betreuer erfasst, weitere Betreuer können datentechnisch nicht erfasst werden. Die Angaben beziehen sich auf den Stand 13. November 2013. — 4 — ein geeigneter ehrenamtlicher Betreuer bestellt werden. Ist kein geeigneter ehrenamtlicher Betreuer vorhanden oder wäre ein solcher nach dem Schwierigkeitsgrad der Betreuung überfordert, wird das Betreuungsgericht einen Berufsoder Vereinsbetreuer bestellen. Für die Berücksichtigung der Wünsche des Betroffenen zur Person des Betreuers bestehen in diesen Fällen keine besonderen Regelungen. Wie allgemein bei der Bestellung von Betreuern ist dem Vorschlag des Betroffenen zu entsprechen, wenn der Vorgeschlagene für die Aufgabe geeignet ist und dessen Bestellung dem Wohl des Betroffenen nicht zuwiderläuft (§ 1897 Absatz 1 und 4 BGB). 4. Sieht der Senat Änderungsbedarf und -möglichkeiten, um die Zahl der Wahlrechtsausschlüsse zu reduzieren? Das Wahlrecht ist in der parlamentarischen Demokratie von fundamentaler Bedeutung . Dem Senat steht es nicht zu, die 1992 vom bremischen Gesetzgeber beschlossene Regelung des § 2 Nr. 2 BremWahlG zu bewerten. Der Senat erlaubt sich in diesem Zusammenhang allerdings darauf hinzuweisen , dass das Bundesverfassungsgericht jüngst – wenn auch in einem anderen Zusammenhang – für die Gewährung des aktiven Wahlrechts ganz maßgeblich an die Fähigkeit angeknüpft hat, am Kommunikationsprozess zwischen Volk und Staatsorganen teilnehmen zu können (BVerfG, Beschluss vom 4. Juli 2012, Az.: 2 BvC 1/11, 2 BvC 2/11, JURIS Rdnr. 40 ff.); welche individuellen Anforderungen an eine solche Kommunikationsfähigkeit gestellt werden sollten, ist allerdings nur schwer zu bestimmen. 5. Wie beurteilt der Senat die Anregung, die Wahlbenachrichtigung, die Briefwahlunterlagen und die Wahlhinweise zukünftig in „Leichter Sprache“ zu verfassen ? Der Senat begrüßt grundsätzlich einen Abbau faktischer Barrieren für die Teilnahme an Wahlen. Eine Verwendung „Leichter Sprache“ käme dafür dann in Betracht, wenn die für die Durchführung von Wahlen erforderliche Rechtssicherheit gewährleistet wäre, wofür es aus Sicht des Senats gegebenenfalls weiterer Prüfungen bedürfte. 6. Hält der Senat es für zielführend, die Stimmzettel zur Bürgerschafts- und Beirätewahl ergänzend mit „Wort-“, „Wort-/Bild-“ oder „Bildmarken“ auszustatten, um Analphabeten eine Orientierung zu erleichtern? Der Senat ist auch insoweit in Anbetracht der fundamentalen Bedeutung der Wahlen in der parlamentarischen Demokratie der Ansicht, dass etwaige Reformüberlegungen dazu gegebenenfalls aus der Mitte des Parlaments kommen müssten . Druck: Anker-Druck Bremen