— 1 — B R E M I S C H E B Ü R G E R S C H A F T Stadtbürgerschaft 18. Wahlperiode Drucksache 18 / 200 S (zu Drs. 18/182 S) 10. 07. 12 Mitteilung des Senats vom 10. Juli 2012 Präventive Schuldenberatung Die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und der SPD haben unter Drucksache 18/182 S eine Große Anfrage zu obigem Thema an den Senat gerichtet. Der Senat beantwortet die vorgenannte Große Anfrage wie folgt: 1. Welche Voraussetzungen müssen Träger der Schuldenberatung erfüllen, damit sie nach Landesrecht als solche anerkannt werden? Um auch im Rahmen der Insolvenzordnung tätig werden zu können, bedürfen Schuldenberatungsstellen der staatlichen Anerkennung als „geeignete Stelle“ im Verbraucherinsolvenzverfahren; zuständig für die Anerkennung ist die Senatorin für Soziales, Kinder, Jugend und Frauen. Die Anerkennungsvoraussetzungen sind in § 2 des Bremischen Gesetzes zur Ausführung der Insolvenzordnung geregelt. Dort heißt es: „Eine Stelle kann als geeignet anerkannt werden, wenn 1. sie ihren Sitz in der Freien Hansestadt Bremen hat und von einer im Sinne der Abgabenordnung gemeinnützigen oder mildtätigen Organisation oder von einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft getragen wird, 2. sie von einer zuverlässigen Person geleitet wird, die auch die Zuverlässigkeit der einzelnen Mitarbeiter der Stelle gewährleistet, 3. sie auf Dauer angelegt ist und Schuldnerberatung in organisatorisch und rechnungsmäßig abgegrenzter Form betreibt, 4. in ihr mindestens eine Person mit ausreichender praktischer Erfahrung in der Schuldnerberatung tätig ist, 5. die erforderliche Rechtsberatung sichergestellt ist, 6. sie über zeitgemäße technische, organisatorische und räumliche Voraussetzungen für eine leistungsfähige, wirtschaftliche und ordnungsgemäße Schuldnerberatung verfügt. Ausreichende praktische Erfahrung nach Satz 1 Nr. 4 liegt in der Regel bei dreijähriger Tätigkeit vor. Der Leiter oder eine sonstige in der Stelle tätige Person soll über eine Ausbildung als Diplom-Sozialarbeiter, als Diplom-Sozialpädagoge , als Bankkaufmann, als Betriebswirt, als Ökonom oder als Ökotrophologe oder eine Ausbildung im gehobenen Verwaltungs- oder Justizdienst oder eine zur Ausübung des Anwaltsberufs befähigende Ausbildung oder eine vergleichbare Ausbildung verfügen. Sofern in der Stelle keine Person mit einer Ausbildung tätig ist, die zur Ausübung des Anwaltsberufs befähigt, muss die nach Satz 1 Nr. 5 erforderliche Rechtsberatung auf andere Weise sichergestellt sein, insbesondere durch Zusammenarbeit mit einem Rechtsanwalt oder einer Stelle der öffentlichen Rechtsberatung“. 2. Wie bewertet der Senat die derzeitige Lage der Menschen, die über ein Einkommen verfügen, das knapp oberhalb der Grenze zum Transferleistungsbezug nach dem SGB liegt? — 2 — 3. Wie bewertet der Senat die Lage der prekär beschäftigten und von Arbeitslosigkeit bedrohten Menschen, die die Kosten einer Schuldnerberatung vollständig selbst zu tragen haben? In der seit einigen Jahren etablierten Armuts- und Reichtumsberichterstattung werden Einkommenspositionen knapp oberhalb der Schwelle zur Sozialleistungsbedürftigkeit als Ausdruck relativer Armut gewertet. Als relativ arm bzw. armutsgefährdet gelten Menschen, die weniger als 60 % des Durchschnittseinkommens zur Verfügung haben. Für einen Singlehaushalt liegt diese Armutsgefährdungsschwelle laut Armutsbericht 2011 des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes bei einem Nettomonatseinkommen von 826 ‡.1) Demgegenüber ist die Hartz-IV-Bedarfsschwelle, bei deren Unterschreiten Hilfebedürftigkeit vorliegt, im Durchschnitt mit 701 ‡ für eine/n Alleinlebende/n anzusetzen.2) Der Abstand zwischen dem Einkommen an der Schwelle zur Armut und dem sozialrechtlichen Existenzminimum ist also relativ gering3); armutsgefährdete Personen, die zusätzlich zum notwendigen (Mindest-)Lebensunterhalt Schulden zu bedienen haben, geraten rasch in absolute Not (einen gewissen Schutz vor dieser Misere, aber keine Problemlösung, bietet das schuldrechtliche Existenzminimum in Form der Pfändungsfreigrenze, die bei 1 029 ‡ liegt). Eine neue Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung4) belegt , dass Arbeitnehmerinnen/Arbeitnehmer im Niedriglohnsektor von diesem Risiko generell bedroht sind. Im diesem Sektor arbeiten inzwischen relativ konstant 22 % aller Arbeitnehmerinnen/Arbeitnehmer. Rund die Hälfte davon ist vollzeitbeschäftigt; ihr monatliches Nettoeinkommen liegt zwischen 850 ‡ und 1 150 ‡ (Mittelwert 992 ‡). Diese (wenigen) Zahlen illustrieren ausreichend, dass relative Einkommensarmut selbst bei Vollzeitbeschäftigung auch zahlenmäßig kein zu vernachlässigendes Phänomen ist. Dass dies auch für Bremen (Land) gilt, lässt sich im Rückschluss aus der überdurchschnittlichen Armutsgefährdungsquote von 21,1 % der Bevölkerung (Paritätischer Armutsbericht 2011) und der bundesweit höchsten Quote von Privatschuldnerinnen/Privatschuldnern mit Negativmerkmalen von 13,92 % der über 18-Jährigen (Creditreform, Schuldneratlas 2011) herleiten. Diesen Problembereichen zugehörige Personen haben offenkundig keine oder nur geringe Möglichkeiten, durch kritische Ereignisse (z. B. Trennung/Scheidung ; Tod des Partners) entstandene oder durch das Niedrigeinkommen selbst ausgelöste Verschuldungsprobleme mit eigenen Mitteln zu lösen. Der Weg zur Schuldenberatung auch als Voraussetzung für eine Entschuldung durch Verbraucherinsolvenz , die nach der Insolvenzordnung grundsätzlich jedermann zusteht, bleibt ihnen versperrt; auf Übernahme der Beratungskosten (bis über 1 900 ‡ im aufwändigen Extremfall) durch einen Sozialleistungsträger (nach SGB II oder SGB XII) haben sie keinen Rechtsanspruch. Der Senat sieht darin eine Problemlage, die im doppelten Sinne einer sozialpolitischen Lösung bedarf: Um auch Beschäftigten im Niedriglohnsektor mit Überschuldungsproblemen zu ihrem Recht zu verhelfen, die Möglichkeiten des Verbraucherinsolvenzverfahrens mit der Aussicht auf einen wirtschaftlich geregelten Neuanfang faktisch nutzen zu können und um damit zugleich einen Beitrag zur Stabilisierung prekärer Arbeitsverhältnisse und zur Vermeidung von Sozialleistungsbedürftigkeit zu leisten. 4. Welche Auswirkungen hat die Lage dieser Menschen auf die Beratungstätigkeit der Schuldenberatungsstellen in Bremen? Prekär beschäftigte und von Arbeitslosigkeit bedrohte Menschen werden in der Regel keine Schuldenberatung in Anspruch nehmen, wenn sie die nicht unerheblichen Kosten selbst aufbringen müssen. Für die Schuldenberatungsstellen entfällt damit ein Nachfragepotenzial von verschuldeten Personen mit entsprechend negativen Auswirkungen auf die Auslastung ihrer Leistungskapazitäten. ––––––– 1) Der Schwellenwert variiert in Abhängigkeit von der zugrunde gelegten Datenbasis; im dritten Armutsbericht von 2008 der Bundesregierung werden dementsprechend unterschiedliche Beträge (von 736 ‡ über 781 ‡ und 880 ‡ bis hin zu 980 ‡) ausgewiesen. 2) Regelleistung Arbeitslosengeld II/Sozialgeld plus eventuelle Mehrbedarfe plus Kaltmiete/Heizung . 3) Dies gilt erst recht für Familien mit Kindern. 4) DIW-Wochenbericht Nr. 21/2012. — 3 — Erfahrungswerte zeigen, dass ca. 30 % aller Schuldenberatungen auf den Personenkreis erwerbstätiger Menschen mit relativ geringem Einkommen entfallen . (Folge-)Auswirkungen sind auch auf Art und Umfang der Beratungstätigkeit zu erwarten: Schuldenprobleme, deren Bearbeitung/Lösung aufgeschoben wird, können sich leicht verschlimmern und verhärten. Kommt es später zu einer Beratung /Intervention, wird der Beratungsaufwand entsprechend höher ausfallen. 5. Welche Vorgehensweisen anderer Kommunen sind dem Senat bekannt, die den betroffenen Menschen eine Schuldnerberatung ermöglichen, ohne dass diese die gesamten Kosten dafür tragen müssen? Es gibt Kommunen, die statt oder neben der gesetzlich geregelten Einzelfallfinanzierung durch Entgelte auf der Basis festgestellter Leistungsansprüche nach dem SGB II oder dem SGB XII offene Beratungsangebote vorhalten, die durch Zuwendungen (zumeist aus einem Mix von kommunalen Mitteln, Landesmitteln, Sparkassenfonds und Eigenmittel der Wohlfahrtsverbände) gefördert werden und für „alle“ Personen mit Verschuldungsproblemen frei zugänglich sind, ohne dass diese sich an den Beratungskosten beteiligen müssen. Das trifft z. B. ganz oder teilweise auf Stuttgart, Nürnberg, Hannover und Düsseldorf zu. 6. Ist aus Sicht des Senats das „Hamburger Modell“, bei dem es eine Staffelung des zu erbringenden Eigenanteils an den Beratungskosten gibt, auch in Bremen umsetzbar? Überschuldete Personen, die aufgrund ihrer Einkommenssituation keinen Leistungsanspruch nach dem SGB II oder dem SGB XII auf eine kostenfreie Schuldenberatung haben, erhalten nach dem „Hamburger Modell“ dennoch eine Übernahme der Beratungskosten, wenn ihr Einkommen (und Vermögen) so niedrig ist, dass sie die vollen Beratungskosten schwerlich selbst aufbringen können. In Hamburg sind dazu Einkommensgrenzen, die sich an der Bedarfsermittlung für die Hilfe zum Lebensunterhalt (HzL) nach § 85 SGB XII orientieren und neben den Richtwerten der Kosten der Unterkunft (KdU) auch einen pauschalen Aufschlag enthalten, festgelegt worden. Für einen Einpersonenhaushalt sind das 690 ‡ HzL plus 318 ‡ KdU plus 100 ‡ Aufschlag = 1 108 ‡/Monat. Wer diese Grenze mit seinen Nettomonatseinkommen nicht überschreitet, hat keinen Eigenanteil für die Schuldenberatung zu leisten; wer sie um bis zum 200 ‡ überschreitet , muss sich pauschal mit einem fixen Eigenanteil von 150 ‡ beteiligen; wer sie um mehr als 200 ‡ überschreitet, erhält keine Kostenübernahme mehr. Für Familien mit Kindern werden die Grenzwerte entsprechend höher angesetzt. Das „Hamburger Modell“ ist – unter Berücksichtigung leicht abweichender Kosten der Unterkunft – auf Bremen übertragbar. Alternativ könnte – nach gleichem Muster – auch an den Bedarfswerten nach dem SGB II angesetzt werden, da es um die Zielgruppe der Erwerbstätigen geht. 7. Welche Maßnahmen wird der Senat ergreifen, damit zukünftig wieder allen Bremerinnen und Bremern eine bezahlbare Schuldenberatung möglich ist? Der Senat hat ein mit 300 T‡ dotiertes kommunales Förderprogramm zur Durchführung präventiver Schuldenberatung für Erwerbstätige und Kurzzeitarbeitslose , die Arbeitslosengeld (1) beziehen, aufgelegt. Der Präventionsgedanke bezieht sich darauf, dass nicht gewartet werden soll, bis verschuldete Personen in eine Lebenslage geraten, die SGB-II-Leistungen erforderlich macht. Ein entsprechender Beschluss wurde von der städtischen Deputation für Soziales , Kinder und Jugend am 19. Januar 2012 (Vorlage 33/12) gefasst. Für die Durchführung kommen gemeinnützige Schuldenberatungsstellen mit Sitz in der Stadtgemeinde Bremen infrage, die über die notwendige Leistungsfähigkeit und hinreichende Erfahrung verfügen. Zur Auswahl wurde im März 2012 ein Wettbewerbsaufruf gestartet; fristgemäß eingegangen sind Bewerbungen von zehn Beratungsstellen. Über die Auswahl und die Mittelzuteilung auf dem Zuwendungswege soll in der Sitzung der städtischen Deputation für Soziales, Kinder und Jugend am 5. Juli 2012 entschieden werden. Auf der Basis dieser Finanzierung können ab dem zweiten Halbjahr 2012 (wieder) Erwerbstätige und Kurzzeitarbeitslose die Leistungen der Schuldnerberatungsstellen kostenlos in Anspruch nehmen, sofern sie nicht über ausreichendes Einkommen verfügen, um — 4 —Druck: Hans Krohn · Bremen einen gewissen (sozialverträglichen) Kostenbeitrag zu leisten. Die damit verbundene Einkommensprüfung soll von den Beratungsstellen selbst nach einem einfachen und pauschalen Verfahren durchgeführt werden (orientiert am „Hamburger Modell – siehe Frage 6). Die prinzipielle Selbstbeteiligung dient dazu, mit dem Einsatz der öffentlichen Mittel möglichst genau die einkommensschwächeren Schuldnerinnen/Schuldnern (oberhalb der Rechtsanspruchschwelle) und möglichst viele verschuldete Personen „zu erreichen“.