— 1 — B R E M I S C H E B Ü R G E R S C H A F T Landtag 18. Wahlperiode Drucksache 18 / 282 Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vom 8. Februar 2012 Besetzung der großen Straf- und Jugendkammern in der Hauptverhandlung Durch das Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege vom 1. Januar 1993 wurde die Möglichkeit der Besetzungsreduktion der großen Straf- und Jugendkammern eingeführt , um ihnen die Möglichkeit zu geben, in geeigneten Fällen nicht mit drei, sondern lediglich mit zwei Berufsrichtern verhandeln zu können. Nach der Erfahrung der Strafsenate des Bundesgerichtshofs führt die Zweierbesetzung erkennbar vermehrt zu Mängeln in der handwerklichen Bewältigung des gerichtlichen Alltagsgeschäfts, zu Mängeln bei der Urteilsfindung durch vorschnelle Neigungen zu Absprachen und zu Qualitätseinbußen bei der Abfassung der Urteile, die dann wiederum Revisionsgerichte zu Urteilsaufhebungen nötigen. Zumindest bei einer im Zeitpunkt der Eröffnung des Hauptverfahrens absehbaren Verhandlungsdauer von mindestens zehn Hauptverhandlungstagen dürfe von der Mitwirkung eines dritten Berufsrichters grundsätzlich nicht abgesehen werden. Wir fragen den Senat: 1. Nach welchen Kriterien erfolgt die Entscheidung über die Besetzung der großen Straf- und Jugendstrafkammern mit zwei oder drei Berufsrichtern am Landgericht Bremen? 2. In wie vielen Verfahren, die eine Verfahrensdauer von mehr als zehn Hauptverhandlungstagen hatten, haben in den Jahren 2007 bis 2011 in den großen Strafund Jugendkammern weniger als drei Berufsrichter mitgewirkt (aufgegliedert nach Straf- und Jugendkammern und Jahren)? 3. Hat in der Vergangenheit eine Evaluation der Verfahren der großen Straf- und Jugendkammern im Hinblick auf die Kosten der Verfahren und Revisionsfestigkeit unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Besetzung (zwei oder drei Berufsrichter) stattgefunden? 4. Wie hoch ist der Kostenunterschied zwischen den zwei Besetzungsmöglichkeiten (Besetzung mit zwei oder drei Berufsrichtern) bei den großen Straf- und Jugendkammern (falls möglich Durchschnittswerte angeben je Verfahren und je Verhandlungstag )? Sülmez Dogan, Dr. Matthias Güldner und Fraktion Bündnis 90/Die Grünen D a z u Antwort des Senats vom 28. Februar 2012 Vorbemerkung Das von den Fragestellern in der Vorbemerkung zitierte Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege vom 11. Januar 1993 ist am 1. Januar 2012 außer Kraft getreten. Die auf dieses Gesetz zurückgehende Rechtslage ist überholt. Mit dem Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege vom 11. Januar 1993 wurden Regelungen (§ 76 Abs. 2 des Gerichtsverfassungsgesetzes, § 33b Abs. 2 des Jugendge- — 2 — richtsgesetzes) eingeführt, wonach die großen Straf- und Jugendkammern (mit Ausnahme des Schwurgerichts) in reduzierter Besetzung mit zwei statt drei Berufsrichtern verhandelten, wenn nicht nach dem Umfang oder der Schwierigkeit der Sache die Mitwirkung eines dritten Richters notwendig erschien. Die Regelung galt ursprünglich befristet bis zum 28. Februar 1998, um die Justiz während des Aufbaus einer rechtsstaatlichen Gerichtsbarkeit in den Beitrittsländern zu entlasten. Die Regelung wurde im Zweijahresrhythmus verlängert, zuletzt durch Gesetz vom 7. Dezember 2008 bis zum 31. Dezember 2011. Nach der Begründung des zuletzt genannten Gesetzes sollte die Anwendungspraxis der Besetzungsreduktion umfassend evaluiert werden, um hierauf gestützt eine endgültige Entscheidung über die Ausgestaltung der Regelung treffen zu können. Durch das Bundesministerium der Justiz und das Bundesamt für Justiz wurden zwei Gutachtenaufträge erteilt: zum einen an die Große Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes, zum anderen an das Institut für Kriminologie der Universität Heidelberg (Prof. Dr. Dieter Dölling) und den Lehrstuhl für Kriminologie, Kriminalpolitik , Polizeiwissenschaft der Universität Bochum (Prof. Dr. Thomas Feltes). Das Gutachten der Großen Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes wurde im August 2009, die Evaluation von Dölling und Feltes im Frühjahr 2011 vorgelegt. Nach Auswertung der Ergebnisse der vorliegenden Studien und unter Berücksichtigung von Rechtsprechung und Literatur hat der Gesetzgeber unter dem 6. Dezember 2011 das Gesetz über die Besetzung der großen Straf- und Jugendkammern in der Hauptverhandlung und zur Änderung weiterer gerichtsverfassungsrechtlicher Vorschriften sowie des Bundesdisziplinargesetzes (BGBl. I S. 2554) erlassen. Die am 1. Januar 2012 unbefristet in Kraft getretene Neuregelung unterscheidet sich grundlegend von der bis zum 31. Dezember 2011 geltenden Rechtslage: Die frühere, generalklauselartig formulierte Voraussetzung für Verhandlungen in Dreierbesetzung („Umfang oder Schwierigkeit der Sache“) wird durch die Beschreibung von Fallgruppen im Gesetzestext konturiert und deutlich präzisiert. Dem in der Vorbemerkung der Fragesteller zitierten Postulat der Strafsenate des Bundesgerichtshofs, wonach von der Mitwirkung eines dritten Berufsrichters grundsätzlich nicht abgesehen werden dürfe, wenn eine Hauptverhandlungsdauer von mehr als zehn Tagen zu erwarten ist, hat der Gesetzgeber nunmehr durch eine ausdrückliche Regelung im Gerichtsverfassungsgesetz Rechnung getragen. Im Übrigen haben die oben zitierten Untersuchungen keine Qualitätseinbußen bei der Rechtsprechung der Strafkammern des Landgerichts Bremen zutage gefördert, die auf eine Verhandlung in Zweierbesetzung zurückzuführen wären: Die Quote der mit einem Rechtsmittel angefochtenen Entscheidungen der Kammern mit Zweierbesetzung war in den Jahren 2009 und 2010 insgesamt niedriger als diejenige der Kammern in Dreierbesetzung. Dies spricht gegen einen Qualitätsverlust durch die Verhandlung mit nur zwei Berufsrichtern. 1. Nach welchen Kriterien erfolgt die Entscheidung über die Besetzung der großen Straf- und Jugendstrafkammern mit zwei oder drei Berufsrichtern am Landgericht Bremen? Seit dem 1. Januar 2012 müssen die großen Straf- und Jugendkammern nicht nur in Schwurgerichtssachen sondern auch dann zwingend mit drei Berufsrichtern besetzt sein, wenn die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung , deren Vorbehalt oder die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zu erwarten ist. Für eine zwingende Dreierbesetzung sind bei der großen Jugendkammer im Wesentlichen die gleichen Fallgruppen wie bei der großen Strafkammer vorgesehen. Eine regelmäßige Dreierbesetzung sieht das Gesetz ausdrücklich für die Verhandlung von Wirtschaftsstrafsachen und in jedem Fall dann vor, wenn eine Hauptverhandlungsdauer von mehr als zehn Tagen absehbar ist. Sollte im Einzelfall bei einer solchen Sache die Mitwirkung eines dritten Berufsrichters nicht notwendig erscheinen, besteht die Möglichkeit , von der Regel abzuweichen. Dies käme nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs beispielsweise bei weniger komplexen Verfahren in Betracht, wenn deren Umfang allein durch eine Vielzahl für sich jeweils sehr einfach liegenden Fällen bedingt ist. Bei der Entscheidung über die Besetzung mit Berufsrichtern halten sich die großen Straf- und Jugendkammern des Landgerichts Bremen streng an die seit dem 1. Januar 2012 geltenden Gesetze und an die Vorgaben der höchstrich- — 3 — terlichen Rechtsprechung. Die Entscheidung über die Besetzung der Spruchkörper gehört zum Kernbereich richterlicher Tätigkeit. Die von der Verfassung garantierte Unabhängigkeit der Gerichte verbietet jede Einflussnahme von außen auf die Besetzungsentscheidungen. 2. In wie vielen Verfahren, die eine Verfahrensdauer von mehr als zehn Hauptverhandlungstagen hatten, haben in den Jahren 2007 bis 2011 in den großen Strafund Jugendkammern weniger als drei Berufsrichter mitgewirkt (aufgegliedert nach Straf- und Jugendkammern und Jahren)? In wie vielen Verfahren mit mehr als zehn Hauptverhandlungstagen weniger als drei Berufsrichter mitgewirkt haben, lässt sich den amtlichen Statistiken nicht entnehmen. Dieser Frage ist auch im Zuge der Evaluation des Rechtspflegeentlastungsgesetzes vom 11. Januar 1993 nicht nachgegangen worden. Eine von Dölling und Feltes durchgeführte Aktenanalyse hat jedoch ergeben, dass der Anteil der Verfahren mit Hauptverhandlung in Zweierbesetzung umso geringer war, je größer die Zahl der Hauptverhandlungstage war. Statistisch erhoben wurde und wird lediglich der Anteil der Verfahren mit Hauptverhandlung in Zweierbesetzung an allen Verfahren mit Hauptverhandlung vor den großen Straf- und Jugendkammern, und zwar unabhängig von der Zahl der Hauptverhandlungstage. Dieser Anteil (Verfahren mit Hauptverhandlung in Zweierbesetzung) hat sich bei dem Landgericht Bremen in den Jahren 2007 bis 2011 wie folgt entwickelt (die relativ großen Schwankungen sind auf die kleine Zahl der vor den großen Straf- und Jugendkammern verhandelten Strafsachen zurückzuführen): 2007 76 %, 2008 52 %, 2009 76 %, 2010 61 %, 2011 70 %. Wie sich der Anteil der Verfahren mit Hauptverhandlung in Zweierbesetzung nach der neuen, seit dem 1. Januar 2012 gültigen Rechtslage entwickeln wird, bleibt abzuwarten. 3. Hat in der Vergangenheit eine Evaluation der Verfahren der großen Straf- und Jugendkammern im Hinblick auf die Kosten der Verfahren und Revisionsfestigkeit unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Besetzung (zwei oder drei Berufsrichter) stattgefunden? In Bezug auf die Kosten sind die Verfahren der großen Straf- und Jugendkammern nicht evaluiert worden. Im Zentrum der beiden in der Vorbemerkung erwähnten Studien stand die Frage, welchen Einfluss die Besetzungsentscheidung auf die Qualität der Rechtsprechung hat; fiskalische Aspekte spielten eine untergeordnete Rolle. Der Bericht von Dölling und Feltes, die u. a. auch Richter befragt haben, zeigt jedoch, dass Kriterien wie flexibler Personaleinsatz, Verfahrensökonomie und effektives Arbeiten bei der Entscheidung über die Besetzung in der Praxis durchaus nicht unbeachtet bleiben. Die Evaluation von Dölling und Feltes befasst sich u. a. mit der Frage, ob die Besetzung mit zwei oder drei Berufsrichtern Einfluss auf den Anteil der angefochtenen Urteile hat. Für Bremen liegen in diesem Zusammenhang Daten für die Jahre 2009 und für die ersten drei Quartale des Jahres 2010 vor. Im Jahr 2009 wurden 21 % (Bundesdurchschnitt: 33 %) der Urteile von Kammern in Zweierbesetzung und 35% (Bundesdurchschnitt: 36 %) der Urteile von Kammern in Dreierbesetzung angefochten. In 2010 (1. bis 3. Quartal) wurden 31 % (Bundesdurchschnitt: 33 %) der Urteile von Kammern in Zweierbesetzung und 25% (Bundesdurchschnitt: 38 %) der Urteile von Kammern in Dreierbesetzung angefochten. Damit zeigt sich, dass die Anfechtungsquote in Bremen insgesamt deutlich unter dem Bundesdurchschnitt liegt. Urteile von Kammern in Zweierbesetzung werden in Bremen insgesamt nicht häufiger angefochten als Urteile von Kammern in Dreierbesetzung. Rückschlüsse von der Zweierbesetzung etwa auf eine geringere Qualität der Rechtsprechung lassen sich aus diesen Befunden jedenfalls nicht herleiten. — 4 — 4. Wie hoch ist der Kostenunterschied zwischen den zwei Besetzungsmöglichkeiten (Besetzung mit zwei oder drei Berufsrichtern) bei den großen Straf- und Jugendkammern (falls möglich Durchschnittswerte angeben je Verfahren und je Verhandlungstag )? Der Kostenmehraufwand, der durch die Verhandlung von Strafsachen in Dreierstatt in Zweierbesetzung entsteht, lässt sich nicht genau beziffern. Hierfür genügt es nicht, die Verhandlungstage in der einen und der anderen Besetzung auszuzählen, weil die Kammern je nach den Umständen und je nach der Prozesssituation sehr unterschiedlich lang tagen. Auch ein Kammertermin, der nur einige Minuten dauert, zählt als „Verhandlungstag“. Voraussetzung wäre vielmehr , dass die Verhandlungs- und Kammerberatungsstunden und die sonstigen Arbeitszeiten (z. B. Aktenstudium, Absetzen von Entscheidungen, Organisieren von Verhandlungsterminen) der Richter der großen Straf- und Jugendkammern am Landgericht Bremen statistisch erfasst würden, und zwar differenziert nach Kammerbesetzung (zwei oder drei Berufsrichter). Derartige Daten wurden und werden nicht erhoben und liegen daher nicht vor. Druck: Anker-Druck Bremen