— 1 — B R E M I S C H E B Ü R G E R S C H A F T Landtag 18. Wahlperiode Drucksache 18 / 359 Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vom 20. März 2012 Vergeudung von Lebensmitteln Nach einer aktuellen Studie der Universität Stuttgart landen jährlich knapp elf Millionen Tonnen makelloser Nahrungsmittel im Müll. Fast sieben Millionen Tonnen davon werden in privaten Haushalten weggeworfen. Hinzu kommen jeweils fast zwei Millionen Tonnen durch Großverbraucher und Industrie sowie 500 000 Tonnen durch den Handel. Wir fragen den Senat: 1. Welche Rückschlüsse für Bremen zieht der Senat aus der Studie „Ermittlung der weggeworfenen Lebensmittelmengen und Vorschläge zur Verminderung der Wegwerfrate bei Lebensmitteln in Deutschland“ der Universität Stuttgart, und welche Hauptursachen für die Entstehung von Lebensmittelabfällen im Land Bremen vermutet der Senat (sofern möglich differenziert nach Lebensmittelindustrie , Handel, Großverbrauchern, öffentlichen Einrichtungen und privaten Haushalten)? 2. Welche ökonomischen und ökologischen Einsparpotenziale sieht der Senat in einer Reduzierung der weggeworfenen Lebensmittel? 3. Welche Strategien verfolgt der Senat, die immense Nahrungsmittelverschwendung in Privathaushalten und Wirtschaft zu reduzieren? Welche Strategien der biologischen Verwertung (aerobe und anaerobe) verfolgt der Senat, und welchen Umfang haben diese Verwertungen jeweils? Welche Strategien verfolgt bzw. befördert der Senat, einwandfreie Lebensmittel, die vor der Vernichtung stehen, einer sozialen Nutzung zuzuführen? 4. Wie schätzt der Senat die Aussichten ein, sich auf Bundesebene erfolgreich für eine Novellierung der Mindesthaltbarkeitsdatumsregelung (z. B. nach dem englischen „best-before“-Vorbild) einzusetzen? Welche weiteren Maßnahmen auf Bundesebene sind nach Ansicht des Senats geeignet, die Menge an weggeworfenen Lebensmitteln zu reduzieren? Jan Saffe, Dr. Anne Schierenbeck, Ralph Saxe, Dr. Maike Schaefer, Dr. Matthias Güldner und Fraktion Bündnis 90/Die Grünen D a z u Antwort des Senats vom 24. April 2012 1. Welche Rückschlüsse für Bremen zieht der Senat aus der Studie „Ermittlung der weggeworfenen Lebensmittelmengen und Vorschläge zur Verminderung der Wegwerfrate bei Lebensmitteln in Deutschland“ der Universität Stuttgart, und welche Hauptursachen für die Entstehung von Lebensmittelabfällen im Land Bremen vermutet der Senat (sofern möglich differenziert nach Lebensmittelindustrie , Handel, Großverbrauchern, öffentlichen Einrichtungen und privaten Haushalten)? Die genannte Studie der Universität Stuttgart benennt eine Gesamtmenge von knapp elf Millionen Tonnen Lebensmitteln, die jedes Jahr von Industrie, Handel , Großverbrauchern und Privathaushalten in Deutschland entsorgt werden, — 2 — und zwar im gesamten Bereich Lebensmittelverarbeitung, Vertrieb und Verbraucher . Die landwirtschaftliche Urproduktion wurde vorerst ausgeklammert, weil die Abschätzung der Abfälle sehr aufwändig ist und hierzu separate Untersuchungen unternommen werden. Für die Menge der Lebensmittelabfälle, die in der Industrie anfallen, ergibt sich nach den bisherigen Untersuchungen eine Spannweite von 210 000 bis 4,58 Millionen Tonnen, im Mittel der Hochrechnung werden für die Lebensmittelindustrie rund 1,9 Millionen Tonnen pro Jahr angenommen. Damit entfallen 17 % der Lebensmittelabfälle auf die Industrie. Als Hauptursache für die Entstehung der Abfälle wurden für den Bereich der Lebensmittelindustrie Abweichungen von den geforderten Produkt- und Qualitätseigenschaften, Aufbewahrung von Rückstellmustern , die später entsorgt werden, Überproduktion und Fehlplanung sowie Fehler im Herstellungsprozess (z. B. Fehlchargen, Produktionsausfälle, Verschütten , Fehletikettierungen) ermittelt. Auch im Bereich des Handels ergibt die Hochrechnung und Übertragung der Ergebnisse nationaler und internationaler Studien eine enorme Spannweite: 460 000 bis 4,79 Millionen Tonnen pro Jahr, wobei der errechnete Mittelwert der Hochrechnung für den Handel in Deutschland bei 550 000 Tonnen pro Jahr liegt. Laut den Ergebnissen der Studie sind als Ursachen für das Abfallaufkommen aus Lebensmitteln zu nennen die vollen Regale bis Ladenschluss (mit Backwaren , Obst und Gemüse und anderen leicht verderblichen Waren), Beschädigungen von verderblichen Lebensmitteln (z. B. eingedrücktes Obst), Ablauf von Mindesthaltbarkeits- oder Verbrauchsdatum, Überbestände durch kaum kalkulierbares Einkaufsverhalten sowie falsche Lagerung und Schäden beim Transport . Bei den Großverbrauchern – etwa Gaststätten, Hotels, Kliniken oder Schulen – fallen jährlich zwischen 1,5 und 2,3 Millionen Tonnen Lebensmittelabfälle an, im Mittelwert insgesamt ca. 1,9 Millionen Tonnen pro Jahr, also in gleicher Größenordnung wie in der Industrie. Die überwiegende Menge der Abfälle entsteht in der Gastronomie, wo eine Bandbreite von 837 000 bis 1 015 000 Tonnen pro Jahr errechnet wurde. An zweiter Stelle rangiert die Betriebsverpflegung, gefolgt vom Beherbergungsgewerbe. Die Ursachen werden vor allem gesehen in fehlendem Wissen über Abfallmengen, mangelhafter Lagerung, stark schwankender Nachfrage und daher schwieriger Kalkulation, Hygiene- und Sicherheitsvorschriften , zu wenig differenzierten Portionsgrößen (etwa in Kantinen). Der Großteil der Lebensmittelabfälle entsteht nach übereinstimmenden Untersuchungen in Privathaushalten: Bundesweit werden pro Jahr 6,7 Millionen Tonnen Lebensmittel über Restmüll, Biotonne, Ausguss und Kompost entsorgt oder auch an Haustiere verfüttert. Damit entfallen auf die 40,3 Millionen Haushalte in Deutschland mit ihren rund 81,8 Millionen Haushaltsmitgliedern rund 61 % der gesamten Lebensmittelabfälle. Im Durchschnitt wirft jeder Bundesbürger pro Jahr 81,6 Kilo Lebensmittel weg, das sind pro Verbraucher und Tag 225 Gramm Lebensmittel. Die Hauptgründe sind gemäß der Aussage der genannten Studie mangelnde Wertschätzung von Lebensmitteln, bedingt auch durch ständige Verfügbarkeit und das im EU-Vergleich äußerst niedrige Preisniveau, Fehlplanung, Fehlkauf, fehlender Überblick über Vorräte, falsche Aufbewahrung sowie Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums. Der Senat hält es für höchst problematisch und nicht hinnehmbar, dass in diesem Umfang bisher nicht bekannte Mengen von wertvollen Lebensmitteln als Abfälle entsorgt werden. Der Senat sieht keine spezifischen Ursachen für das Land Bremen hinsichtlich weggeworfener Lebensmittel. Er geht davon aus, dass Lebens- und Produktionsbedingungen in Bremen sich nicht wesentlich von denen im übrigen Deutschland unterscheiden, d. h., dass die Struktur der Lebensmittelabfälle und ihre Ursachen denen entsprechen, die die Studie für Deutschland nennt. Während die Forderungen an die Lebensmittelunternehmen nach Verbesserung der Qualität von Lebensmitteln in den letzten Jahren stetig gestiegen sind, hat sich auf der Seite der Verbraucherinnen und Verbraucher die Wertschätzung für die am Markt befindlichen Lebensmittel eher verringert. Der Senat ist der Auffassung , dass beide Seiten künftig eine zunehmende Verantwortung haben, durch — 3 — entsprechende Informationen und Aufklärung aktiv einer Lebensmittelverschwendung entgegenzuwirken. Vor diesem Hintergrund wird auch die Initiative der EU begrüßt, die Verbraucherbildung künftig mehr zu fördern. 2. Welche ökonomischen und ökologischen Einsparpotenziale sieht der Senat in einer Reduzierung der weggeworfenen Lebensmittel? Durch eine Reduzierung der weggeworfenen Lebensmittel sieht der Senat durchaus ökonomische und ökologische Einsparpotenziale, die jedoch nicht beziffert werden können. 3. Welche Strategien verfolgt der Senat, die immense Nahrungsmittelverschwendung in Privathaushalten und Wirtschaft zu reduzieren? Welche Strategien der biologischen Verwertung (aerobe und anaerobe) verfolgt der Senat, und welchen Umfang haben diese Verwertungen jeweils? Welche Strategien verfolgt bzw. befördert der Senat, einwandfreie Lebensmittel, die vor der Vernichtung stehen, einer sozialen Nutzung zuzuführen? Ziel des Senats ist es nicht, verstärkt über Strategien der biologischen Verwertung nachzudenken, da Lebensmittel nicht für Biogasanlagen oder andere technologische Verfahren produziert werden. Der Senat ist der Auffassung, dass sich die Wertschätzung für alle im Angebot befindlichen Lebensmittel erhöhen muss, um die Menschen in Bezug auf die Lebensmittelverschwendung zu sensibilisieren . Der Senat begrüßt, dass es für die Abgabe einwandfreier Lebensmittel an soziale Einrichtungen durch Lebensmittelunternehmen bereits pragmatische Rahmenbedingungen gibt, um für diese Verwendungszwecke die formalen Hürden in Bezug auf aufwendige Dokumentationspflichten auf das notwendige Maß zu reduzieren. 4. Wie schätzt der Senat die Aussichten ein, sich auf Bundesebene erfolgreich für eine Novellierung der Mindesthaltbarkeitsdatumsregelung (z. B. nach dem englischen „best-before“-Vorbild) einzusetzen? Welche weiteren Maßnahmen auf Bundesebene sind nach Ansicht des Senats geeignet, die Menge an weggeworfenen Lebensmitteln zu reduzieren? Der Senat sieht keine Notwendigkeit für eine Novellierung der lebensmittelkennzeichnungsrechtlichen Vorschrift in Bezug auf das Mindesthaltbarkeitsdatum . Die deutschsprachige Angabe „mindestens haltbar bis . . .“ ist rechtlich gleichbedeutend mit der Kennzeichnung „best before . . .“ für den englischen Sprachraum. Der Senat sieht vielmehr die Notwendigkeit einer breiten Verbraucherinformation , damit die Angabe des Mindesthaltbarkeitsdatums bereits beim Einkauf sowie bei der häuslichen Verwendung von Lebensmitteln und deren Vorratshaltung die Funktion erfüllt, die dieser obligatorischen Angabe zukommt: Mit dem Mindesthaltbarkeitsdatum garantiert der Hersteller, dass das Produkt unter den genannten Lagerbedingungen ohne nennenswerte Geschmacks- und Qualitätseinbußen bis zu dem genannten Datum verzehrfähig ist. Nach Ablauf dieses Datums können diese Lebensmittel durchaus noch für den unmittelbaren Verzehr oder für die Zubereitung von Speisen geeignet sein, weil es sich bei dem Mindesthaltbarkeitsdatum nicht um ein Verfalldatum handelt. Das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz hat bereits diesbezüglich eine Aufklärungskampagne gestartet. Neben der Studie aus Stuttgart gibt es u. a. auch eine weitere aus NordrheinWestfalen zu Ursachen und Handlungsoptionen. Demnach interpretieren drei Viertel der Verbraucher das Mindesthaltbarkeits- und das Verbrauchsdatum korrekt . Zudem trägt das Gros entsorgter Lebensmittel wie Obst, Gemüse und Backwaren kein Mindesthaltbarkeitsdatum. Nach dem weiteren Ergebnis dieser Studie mangelt es Verbraucherinnen und Verbrauchern an Kenntnissen und Erfahrungen zum richtigen Umgang mit Haltbarkeit und Lagerhaltung von Lebensmitteln. Zudem sind die Art und Menge der in Haushalten anfallenden Lebensmittelreste u. a. abhängig von verfügbaren Produkten, dem Lebensumfeld, den Bedürfnissen, Fähigkeiten, den Ressourcen , aber auch vom persönlichen Engagement. Entsprechend sind vielfältige Maßnahmen nötig, um an allen möglichen Stellschrauben zu drehen und so die in Haushalten anfallenden Lebensmittelreste zu minimieren. Hier sind prioritär die Informations- und Bildungsangebote für Konsumenten von wesentlicher — 4 — Bedeutung, die einerseits zu mehr Wertschätzung von Lebensmitteln beitragen, andererseits über die Gründe der Lebensmittelverschwendung aufklären und Tipps zu deren Vermeidung geben. Auch dürfte eine entsprechende Schulbildung bzw. die Verankerung des Themas Lebensmittel und Ernährung in den Lehrplänen der Schulen zu einer Verbesserung der Situation beitragen. In Bremen leistet die Verbraucherzentrale neben anderen Institutionen wie dem Bildungswerk des Deutschen Hausfrauenbundes einen wesentlichen Beitrag für die Konsumentenbildung. Aber nicht nur Verbraucher müssen lernen, nicht über Bedarf zu kaufen, Lebensmittel optimal zu lagern und zu verarbeiten. Da an jeder Stelle innerhalb der Produktionskette Verluste anfallen, müssen die Maßnahmen zur Vermeidung von Lebensmittelverlusten bei allen Akteuren – von der Erzeugung über den Handel bis hin zu den Verbrauchern – ansetzen. Z. B. könnten die Vermarktungsnormen überdacht werden, die dazu führen, dass dem normierten Erscheinungsbild nicht entsprechende Produkte im Abfall landen, obgleich die Verzehrsfähigkeit meistens nicht infrage steht. Auf der Ebene der Produktion, der Verarbeitung und des Handels könnten gegebenenfalls Prozesse optimiert werden, um Überproduktion und Fehlplanungen zu reduzieren. Der Handel muss bei fast abgelaufenen Produkten konsequent die Preise reduzieren und die Zusammenarbeit mit den Tafeln verstetigen. Bei ablaufendem Mindesthaltbarkeitsdatum könnte der Handel mittels guter Bewerbung und Präsentation der Waren sowie deutlichen Preisnachlässen Kaufanreize bieten. Packungsgrößen sollten an die Bedürfnisse der verschiedenen Verbrauchergruppen angepasst werden. Auch Restaurants bieten zu selten unterschiedliche Portionsgrößen an. In Gastronomie und Gemeinschaftsverpflegung sollten gezielte Informationen und Beratung helfen, Lebensmittelabfälle zu vermeiden. Druck: Anker-Druck Bremen