— 1 — B R E M I S C H E B Ü R G E R S C H A F T Landtag 18. Wahlperiode Drucksache 18 / 475 Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vom 23. Mai 2012 Ermittlungspannen im Mordfall Lena – was lernen wir aus Emden? Die Ermittlungspannen im Mordfall Lena hatten nicht nur tragische Folgen, sondern haben auf staatlicher Seite sowohl individuelle als auch strukturelle Mängel bei der Ermittlungsarbeit offenbart. So wurde ein gegen den Tatverdächtigen bereits im Dezember 2011 erwirkter Durchsuchungsbefehl im Zusammenhang mit Kinderpornografie bis zur Mordtat im März 2012 nicht vollzogen. Zudem kam es nach der Festnahme eines zunächst verdächtigen, aber unschuldigen Jugendlichen über das soziale Netzwerk Facebook zu Aufrufen zur Lynchjustiz, die zu einer Belagerung des Emder Polizeihauses durch ca. 50 Personen führten, die die Herausgabe des Jugendlichen forderten. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob es sich bei dieser Unterlassung um einen regionalen Einzelfall handelt oder ob es auch andernorts möglich sein kann, dass Durchsuchungsbefehle aufgrund fehlender Kontrollmechanismen nicht vollzogen werden. Darüber hinaus hat der Fall Lena bundesweit zu einer erstmaligen Diskussion geführt , wie mit dem sozialen Netzwerk Facebook umgegangen werden muss, um beispielsweise die Verbreitung Vorverurteilungen zu verhindern. Die schnelle Informationsweitergabe an eine Vielzahl von Facebook-Nutzerinnen und -Nutzern birgt – wie der Fall gezeigt hat – ein kaum einschätzbares Potenzial, was sowohl den Ermittlungserfolg als auch -misserfolg betreffen kann. Die bewusste Facebook-Fahndung der Polizei bleibt damit umstritten. Umgekehrt meldet das Unternehmen Facebook nach eigenen Angaben alle eigenen Verdachtsfälle von Kindesausbeutung, von denen es zum Beispiel über die Missbrauchs -Meldefunktion erfährt, an das Internationale Zentrum für vermisste und ausgebeutete Kinder (International Center for Missing and Exploited Children – NCMEC), das wiederum mit den Strafverfolgungsbehörden weltweit zusammenarbeitet. Wir fragen den Senat: 1. Wie lange dauert es in Bremen durchschnittlich von der Beantragung eines Durchsuchungsbefehls wegen Kinderpornografie oder anderer Fälle sexuellen Kindesmissbrauchs bis zur Ausstellung/zum Erlass und dann bis zum Vollzug? a) Erachtet der Senat die jeweiligen Zeiträume für angemessen? b) Wie lang war der längste Zeitraum? c) Wie viele Durchsuchungsbefehle wurden seit 2007 in diesem Zusammenhang beantragt, und mussten wegen Zeitverzögerung neu beantragt werden (bitte aufgeteilt nach Jahren)? 2. Wie viele Durchsuchungsbefehle im Bereich der Kinderpornografie und anderen Bereichen des sexuellen Kindesmissbrauchs warten aktuell im Land Bremen auf ihren Vollzug? Aus welchen Gründen sind diese Durchsuchungsbefehle bisher nicht vollzogen? 3. Existieren Vorschriften für die vorrangige Abarbeitung von Durchsuchungsbefehlen und eine nach Ansicht des Senats angemessene Fristenkontrolle? — 2 — 4. Erfolgt eine Kontrolle des Vollzugs der Durchsuchungsbefehle durch die Gerichte ? Wenn nein, erachtet der Senat eine solche Kontrolle für sinnvoll? 5. Inwieweit wird in der Ausbildung der Polizei Bremen die Rolle der sozialen Netzwerke und ihre Dynamik im Bezug auf öffentlich erkennbare Festnahmen im Rahmen eines polizeilichen Ermittlungsverfahrens beachtet? 6. Gibt es bei der Polizei Bremen aufgrund der Ereignisse im Fall Lena aus Emden Überlegungen, bei Mordfällen und anderen schweren Straftaten Festnahmen nicht mehr öffentlich erkennbar zu machen? 7. Welche Konsequenzen zieht die Polizei Bremen aus den Lynchaufrufen im Mordfall Lena? 8. In wie vielen Fällen erhielt die Polizei Bremen Hinweise von Facebook (direkt oder indirekt über NCMEC oder andere Stellen) auf Straftaten von FacebookNutzern ? Björn Fecker, Mustafa Öztürk, Dr. Matthias Güldner und Fraktion Bündnis 90/Die Grünen D a z u Antwort des Senats vom 26. Juni 2012 1. Wie lange dauert es in Bremen durchschnittlich von der Beantragung eines Durchsuchungsbefehls wegen Kinderpornografie oder anderer Fälle sexuellen Kindesmissbrauchs bis zur Ausstellung/zum Erlass und dann bis zum Vollzug? In eilbedürftigen Jugendschutzsachen erfolgt die Anregung durch die Polizei, die Antragstellung durch die Staatsanwaltschaft, der Erlass des Beschlusses durch das Gericht und dessen Vollstreckung durch die Polizei am selben Tage. Zu der erfragten durchschnittlichen Dauer können keine Angaben gemacht werden, weil hierzu keine Statistik geführt wird. a) Erachtet der Senat die jeweiligen Zeiträume für angemessen? Es ist positiv zu bewerten, dass die Strafverfolgungsorgane in Bremen so reibungslos und effektiv zusammenarbeiten, dass in eilbedürftigen Fällen eine Durchsuchung innerhalb eines Tages möglich ist. b) Wie lang war der längste Zeitraum? Da zu diesen speziellen Daten keine Statistik geführt wird, ist eine Antwort auf diese Frage nicht möglich. c) Wie viele Durchsuchungsbefehle wurden seit 2007 in diesem Zusammenhang beantragt, und mussten wegen Zeitverzögerung neu beantragt werden (bitte aufgeteilt nach Jahren)? Mangels Statistik kann auch diese Frage nicht beantwortet werden. 2. Wie viele Durchsuchungsbefehle im Bereich der Kinderpornografie und anderen Bereichen des sexuellen Kindesmissbrauchs warten aktuell im Land Bremen auf ihren Vollzug? Aus welchen Gründen sind diese Durchsuchungsbefehle bisher nicht vollzogen? In den beiden für Kinderpornografie zuständigen Dezernaten der Staatsanwaltschaft waren Ende Mai 2012 insgesamt 40 Ermittlungsverfahren anhängig; in dem Jugendschutzdezernat waren es bis Ende Mai 2012 79 Ermittlungsverfahren . Dem zuständigen Fachkommissariat der Polizei lagen am 1. Juni 2012 insgesamt acht noch nicht vollstreckte Durchsuchungsbeschlüsse vor, wobei vier Beschlüsse aus April 2012 und vier aus Mai 2012 stammen. Es handelte sich um sechs Beschlüsse im Zusammenhang mit dem Besitz oder der Verbreitung von Kinderpornografie, einen Beschluss im Zusammenhang mit einem sexuellen Missbrauch von Kindern und einen Beschluss wegen des Vorwurfs der Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen gemäß § 201 a — 3 — StGB. Der zeitliche Vollzug der Beschlüsse erfolgt nach einer jeweiligen einzelfallbezogenen Priorisierung durch Staatsanwaltschaft und die Polizei. 3. Existieren Vorschriften für die vorrangige Abarbeitung von Durchsuchungsbefehlen und eine nach Ansicht des Senats angemessene Fristenkontrolle? Die Zuständigkeit für die zeitlich angemessene Bearbeitung und Vollstreckung von Durchsuchungsbeschlüssen obliegt der für das jeweilige Verfahren zuständigen Dezernentin beziehungsweise dem zuständigen Dezernenten der Staatsanwaltschaft . Das gilt auch für die jeweilige Fristenkontrolle. Die vorrangige Vollstreckung von Durchsuchungsbeschlüssen und die Fristenkontrolle sind einzelfallbezogen. Verfahren von Gewicht sind Berichtssachen. Durch die Berichterstattung werden die Vorgesetzten in die Lage versetzt, ihre Dienstaufsicht – auch hinsichtlich der Wahrung von Fristen – konkret auszuüben. 4. Erfolgt eine Kontrolle des Vollzugs der Durchsuchungsbefehle durch die Gerichte ? Wenn nein, erachtet der Senat eine solche Kontrolle für sinnvoll? Die Gerichte sind nicht dafür zuständig, die Vollstreckung von Durchsuchungsbeschlüssen zu kontrollieren. Diese Aufgabe obliegt der Staatsanwaltschaft als Herrin des Ermittlungsverfahrens. Die Generalstaatsanwältin hat den Leitenden Oberstaatsanwalt ersucht, insbesondere in Ermittlungsverfahren wegen des Tatvorwurfs des sexuellen Missbrauchs von Kindern und wegen Verbreitung von kinderpornografischen Schriften Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüsse unverzüglich durch die Polizei vollstrecken zu lassen. 5. Inwieweit wird in der Ausbildung der Polizei Bremen die Rolle der sozialen Netzwerke und ihre Dynamik im Bezug auf öffentlich erkennbare Festnahmen im Rahmen eines polizeilichen Ermittlungsverfahrens beachtet? Das Thema „Soziale Netzwerke“ wird während der Ausbildung im fünften Semester des Bachelorstudiums an der Hochschule für öffentliche Verwaltung in Bremen als Wahlpflichtmodul „Internet und Soziale Netzwerke“ behandelt. Das Modul befasst sich zunächst mit der Einführung in die Thematik der Sozialen Netzwerke. Es setzt sich mit rechtlichen Betrachtungen zum Datenschutz und den Ermittlungskompetenzen der staatlichen Organe fort. Die Studierenden reflektieren ihre eigenen Handlungen und Erfahrungen in und mit Sozialen Netzwerken in Arbeitsgruppen und präsentieren ihre Ergebnisse. Sie stellen ihre Erkenntnisse den verschiedenen Beteiligten im Ermittlungsprozess zur Diskussion , um Handlungskompetenzen und Präventionsansätze herausfiltern zu können . Auch die Rolle und Aufgabe der Medien sowie die Verbindung von sozialen Netzwerken und neuen Medien werden unter anderem im Rahmen einer Exkursion thematisiert. Die Thematik wird darüber hinaus im Modul „Eigentums-, Vermögens- und Amtsdelikte“ behandelt, in dem es unter anderem um das Thema Festnahme in den Teilbereichen Strafrecht/Strafprozessrecht und Kriminalistik geht. Das genannte Modul liegt im zweiten Semester des Studiengangs Polizeivollzugsdienst. Die Nutzung der sozialen Netzwerke wird darüber hinaus im verfassungsrechtlichen Zusammenhang in zwei weiteren Modulen behandelt. Dort geht es unter anderem um die informationelle Selbstbestimmung. 6. Gibt es bei der Polizei Bremen aufgrund der Ereignisse im Fall Lena aus Emden Überlegungen, bei Mordfällen und anderen schweren Straftaten Festnahmen nicht mehr öffentlich erkennbar zu machen? Diesbezügliche Überlegungen gibt es in dem für Kapitaldelikte zuständigen Kommissariat nicht. In Mordfällen und bei anderen schweren Straftaten, die in diesem Kommissariat bearbeitet werden, wird wie bisher jeweils nach den Umständen des konkreten Einzelfalls entschieden werden. Der Mordfall Lena hat jedoch deutlich gemacht, dass fehlende Polizeipräsenz in sozialen Netzwerken, die Gefahr einer unkontrollierten Informationssteuerung polizeilicher Sachverhalte durch Dritte erhöht. Eine polizeiliche Nutzung von sozialen Netzwerken könnte helfen, eine solche Informationssteuerung zu kanalisieren und somit besser zu kontrollieren. — 4 — 7. Welche Konsequenzen zieht die Polizei Bremen aus den Lynchaufrufen im Mordfall Lena? Gelangen der Polizei Bremen Lynchaufrufe zur Kenntnis, werden diese im Rahmen der rechtlichen Vorgaben verfolgt. Zur polizeilichen Aufklärung in sozialen Netzwerken läuft derzeit ein polizeiinternes Prüfprojekt, das untersucht, welche Maßnahmen nach der gegenwärtigen Rechtslage möglich sind. 8. In wie vielen Fällen erhielt die Polizei Bremen Hinweise von Facebook (direkt oder indirekt über NCMEC oder andere Stellen) auf Straftaten von FacebookNutzern ? Das Fachkommissariat zur Bearbeitung von Sexualstraftaten hat bislang von Facebook keinen Hinweis auf Straftaten von Facebook-Nutzern erhalten. Die bei der Polizei im Zusammenhang mit Facebook-Nutzern bearbeiteten Ermittlungsverfahren werden in der Regel durch unmittelbare Verfahrensbeteiligte, beispielsweise durch Opfer einer Beleidigung mit sexuellem Inhalt, angezeigt. Druck: Anker-Druck Bremen