— 1 — B R E M I S C H E B Ü R G E R S C H A F T Landtag 18. Wahlperiode Drucksache 18 / 612 (zu Drs. 18/560) 23. 10. 12 Mitteilung des Senats vom 23. Oktober 2012 Strafrechtliche Verfolgung von Hasskriminalität im Land Bremen Die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und der SPD haben unter Drucksache 18/560 eine Große Anfrage zu obigem Thema an den Senat gerichtet. Der Senat beantwortet die vorgenannte Große Anfrage wie folgt: 1. Aufgrund welcher Kriterien werden Straftaten von Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichten im Land Bremen als politisch motiviert eingestuft? Die Grundlage für die Einstufung ist ein bundesweit abgestimmter Kriterienkatalog . Die Erfassung erfolgt nach dem Definitionssystem Politisch Motivierte Kriminalität (PMK). Dieser Form der Kriminalität werden Straftaten zugeordnet , wenn in Würdigung der Umstände der Tat und/oder der Einstellung des Täters Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie den demokratischen Willensbildungsprozess beeinflussen sollen, der Erreichung oder Verhinderung politischer Ziele dienen oder sich gegen die Realisierung politischer Entscheidungen richten, sich gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung bzw. eines ihrer Wesensmerkmale, den Bestand und die Sicherheit des Bundes oder eines Landes richten oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung von Mitgliedern der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes zum Ziel haben . Ihr werden auch Straftaten zugeordnet, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden, gegen eine Person wegen ihrer politischen Einstellung, Nationalität, Volkszugehörigkeit, Rasse, Hautfarbe, Religion, Weltanschauung , Herkunft oder aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes, ihrer Behinderung, ihrer sexuellen Orientierung oder ihres gesellschaftlichen Status gerichtet sind und die Tathandlung damit im Kausalzusammenhang steht bzw. sich in diesem Zusammenhang gegen eine Institution oder Sache beziehungsweise ein Objekt richtet. Darüber hinaus werden Tatbestände gemäß §§ 80 bis 83, 84 bis 86 a, 87 bis 91, 94 bis 100 a, 102 bis 104 a, 105 bis 108 e, 109 bis 109 h, 129 a, 129 b, 234 a oder 241 a StGB (sogenannte Staatsschutzdelikte) erfasst, selbst wenn im Einzelfall eine politische Motivation nicht festgestellt werden kann. 2. Wie wird sichergestellt, dass bei Straftaten, deren Opfer aufgrund ihrer Herkunft , Religion, Hautfarbe, sexuellen Orientierung oder Behinderung zu den „typischen“ Opfergruppen von Hasskriminalität zählen, grundsätzlich eine besonders gründliche Untersuchung der Motive stattfindet, ohne zugleich das betroffene Opfer zu diskriminieren? Zur Sicherstellung der Sensibilisierung und Bearbeitung von Sachverhalten mit politisch motiviertem Hintergrund sind besonders ausgebildete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei der Polizei zuständig. Sie werden in speziellen Lehrgängen beim Bundeskriminalamt aus- und fortgebildet. Die polizeiliche Bearbeitung derartiger Sachverhalte orientiert sich ausschließlich an der zuvor beschriebenen Definition und an rechtstaatlichen Grundsätzen in enger Abstimmung mit der Staatsanwaltschaft Bremen, welche Herrin des Ermittlungsverfahrens ist. Dies sichert einen sensiblen Umgang mit den Opfern von Straftaten und die Gewährleistung des Opferschutzes. — 2 — Bei der Staatsanwaltschaft Bremen bestehen zur Sicherstellung einer sensiblen und gründlichen Bearbeitung von Sachverhalten mit politisch motiviertem Hintergrund zwei Sonderdezernate, die zuständig sind für „Strafsachen und Ordnungswidrigkeiten mit politischer Motivation, auch gegen Jugendliche und Heranwachsende im Lande Bremen“. Durch die gesetzliche Hervorhebung von besonders verwerflichen Beweggründen einer Tat kann deren Bedeutung im Rahmen der Ermittlungen noch unterstrichen werden. Bremen hat im Bundesrat Länderinitiativen von Anfang an unterstützt , die darauf zielten, Hassmotivation in den Strafzumessungsgründen besonders zu berücksichtigen. Am 2. März 2012 hat der Bundesrat einen Gesetzesantrag Bremens und weiterer Länder beschlossen, wonach menschenverach -tende, insbesondere rassistische oder fremdenfeindliche Beweggründe, und Ziele des Täters besonders strafschärfend wirken sollen. Zwischenzeitlich hat am 18. Oktober 2012 der Bundestag die entsprechende Gesetzesinitiative mit der Regierungsmehrheit abgelehnt. 3. Wie arbeiten Polizei und Staatsanwaltschaft mit Nichtregierungsorganisationen zusammen, um Hasskriminalität präventiv zu begegnen? Hält der Senat die Sensibilität von Polizei und Staatsanwaltschaft in Bezug auf rassistische, homophobe und behindertenfeindliche Gewalt für ausreichend, oder sieht der Senat hier Verbesserungsbedarf? Werden Staatsanwältinnen und Staatsanwälte in Bremen angewiesen, Straftaten auch dann auf ihre politische Motivation hin zu überprüfen , wenn sie von der Polizei nicht als politisch motiviert eingestuft wurden? Die Polizei ist Mitglied im Netzwerk „Pro aktiv gegen rechts“ und nimmt an den Netzwerktreffen zu unterschiedlichen Themen teil. Darüber hinaus gibt es zwischen der Polizei und den Nichtregierungsorganisationen in Bremen keine auf das Thema „Hasskriminalität“ beschränkte gemeinsame Präventionsarbeit. Die Zusammenarbeit findet in diesem Themenkreis auf niedrigerer Schwelle im Bereich Antidiskriminierungs- und Antirassismusarbeit statt. Hier arbeitet die Polizei Bremen beispielsweise gemeinsam mit dem Bremer Rat für Integration und verschiedenen Nichtregierungsorganisationen in der Arbeitsgruppe „Antidiskriminierung “ mit. Ziel ist es, die vielen verschiedenen Nichtregierungsorganisationen in Bremen, die sich mit der Antidiskriminierungs- und Antirassismusarbeit beschäftigen, sichtbar zu machen und möglichst für Betroffene und Opfer bessere Anlaufmöglichkeiten zu schaffen. In zwei Veranstaltungen ist die Polizei Bremen gemeinsam mit dem Bremer Rat für Integration, der Senatskanzlei und der Bildungsvereinigung „Arbeit und Leben e. V.“ mit dem Thema Antidiskriminierung und Rassismus an die Öffentlichkeit getreten. Der Fachtag „Abgedrängt und ausgeschlossen, Antidiskriminierungsarbeit in Bremen“ fand am 7. Mai 2012 im DGB-Haus statt. Gleichzeitig wurde dort im Foyer vom 7. Mai 2012 bis 18. Mai 2012 die Ausstellung „Perspektivwechsel“ durchgeführt. Thema waren die Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen junger Menschen mit Migrationsgeschichte, die von ihnen selbst künstlerisch aufbereitet wurden. Im Verlauf der Ausstellung wurden von der Polizei acht Schulklassen und zwei Erwachsenengruppen durch die Ausstellung geführt. Der Senat ist der Auffassung, dass Polizei und Staatsanwaltschaft in einem hohen Maße sensibilisiert sind für Straftaten, bei denen eine rassistische, homophobe , behindertenfeindliche oder sonstige besonders menschenverachtende Motivlage zum Ausdruck kommt. Die Polizei legt in der Aus- und Fortbildung viel Wert auf die Themen Ethik und interkulturelle Kompetenz. Die Polizei Bremen ist Teil der bremischen Verwaltung und damit Teil der interkulturellen Öffnung der bremischen Verwaltung („IKÖ“) mit zwei eigenen interkulturellen Trainern. Interkulturell meint hier nicht nur den kulturellen Austausch zwischen Nationen, sondern auch zwischen allen Gruppen, Menschen und Kulturen in dieser Gesellschaft. Eine hohe interkulturelle Kompetenz von Polizeibeamtinnen und -beamten sensibilisiert diese in Bezug auf rassistische oder homophobe Gewalt. Hierzu werden in der Ausbildung Seminare durchgeführt. Der gesetzliche Auftrag der Staatsanwaltschaft zur Verfolgung von Straftaten ist repressiv ausgestaltet. Eine institutionalisierte Zusammenarbeit zwischen Staats- — 3 — anwaltschaft und Nichtregierungsorganisationen mit dem Ziel, der Hasskriminalität präventiv zu begegnen, ist nicht Gegenstand der Arbeit der Staatsanwaltschaft , sondern obliegt eher anderen staatlichen Einrichtungen. Die bezeichneten Sonderdezernate sind seit langem in der Staatsanwaltschaft Bremen eingerichtet , so dass bei entsprechenden Anhaltspunkten regelmäßig ein Ermittlungsverfahren zur Prüfung der Übernahme den Sonderdezernenten zugesandt wird. Die Beweggründe und Ziele des Täters und die Gesinnung die aus der Tat spricht sind gemäß § 46 Abs. 2 StGB ausdrücklich bei der Strafzumessung zu berücksichtigen und daher prüft die Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren grundsätzlich auch die Motivlage des Täters. 4. Bestehen bei Polizei/Staatsanwaltschaft spezielle Ansprechpartnerinnen/Ansprechpartner für die Opfer von Hasskriminalität? Wenn ja, wie wird die Öffentlichkeit darüber informiert? Bei der Polizei sind wie in der Antwort auf die Frage 2 erwähnt besonders geschulte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für die Sachbearbeitung zuständig. Spezielle Ansprechpartnerinnen oder Ansprechpartner für Opfer von Straftaten der Hasskriminalität außerhalb der fallgebundenen Sachbearbeitung gibt es bei der Polizei hingegen nicht. Betroffene können sich auch mit diesem Thema an die kriminalpolizeilichen Beratungsstellen in Bremen und Bremerhaven wenden . Der Integrationsbeauftragte der Polizei wird standardmäßig über Vorfälle bei Straftaten im Zusammenhang mit Nationalität, Herkunft oder Religion informiert . Ein Sonderdezernat für Hasskriminalität gibt es bei der Staatsanwaltschaft nicht. Bei der Staatsanwaltschaft Bremen bestehen allerdings, wie in der Antwort auf Frage 2 dargestellt, zwei Sonderdezernate für politische Kriminalität. Eine Vielzahl der unter den Begriff der Hasskriminaität fallenden Delikte dürften regelmäßig in diesen beiden Dezernaten bearbeitet werden. Diese beiden Sonderdezernenten sind Ansprechpartner für Opfer politisch motivierter Straftaten, sofern es für die Zwecke der konkreten Strafverfolgung notwendig ist. Soweit die Bearbeitung in einem anderen Dezernat der Staatsanwaltschaft erfolgt, spielt die Motivlage bei der Tat selbstverständlich ebenfalls eine Rolle im Ermittlungsverfahren . Die soziale Beratung bzw. Opfersorge wird dabei aber in erster Linie von anderen staatlichen und nicht staatlichen Stellen und nicht von der Staatsanwaltschaft vorgenommen, da der Auftrag und die Tätigkeit der Staatsanwaltschaft anders ausgerichtet ist. Da es spezielle Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner außerhalb der jeweiligen konkreten Sachbearbeitung weder bei der Polizei noch bei der Staatsanwaltschaft gibt, ist eine entsprechende Information gegenüber der allgemeinen Öffentlichkeit nicht möglich. 5. Wurden in der Vergangenheit bei der strafrechtlichen Verfolgung von Hassverbrechen bzw. rechtsextrem motivierten Gewalttaten Absprachen zwischen Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidigung („Deals“) getroffen? Wenn ja, wie beurteilt der Senat diese Praxis angesichts des besonderen gesellschaftlichen Interesses an der Aufarbeitung durch eine vollständig durchgeführte Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung? Die zur Beantwortung dieser Frage erforderlichen Daten werden in der entsprechenden EDV-Fachanwendung bei der Staatsanwaltschaft („web.sta“) statistisch nicht erfasst. Aus der Erinnerung der mit diesen Verfahren befassten Dezernenten der Staatsanwaltschaft hat eine Verständigung zwischen dem Gericht , der Staatsanwaltschaft und Angeklagten (§ 257 c StPO) in den letzten Jahren , abgesehen von dem in der Anfrage konkret erwähnten Verfahren, in Fällen politisch motivierter Kriminalität nicht stattgefunden. In dem genannten Verfahren sind keine Einstellungen erfolgt. Vielmehr sind fünf Angeklagte zu Geldstrafen verurteilt und zwei Angeklagte mit Strafvorbehalt verwarnt worden. Die Verständigung im Strafverfahren hat der Bundesgesetzgeber in § 257 c StPO ausdrücklich zugelassen. Ob ein Verfahren für eine solche Verständigung geeignet ist, müssen das Gericht und die Verfahrensbeteiligten unter Berücksichtigung der gesetzlichen Vorgaben im jeweiligen Einzelfall entscheiden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist die Ermittlung des wahren Sachverhaltes das zentrale Anliegen des Strafverfahrens (BVerfG 57, 250, 275). Das Gericht hat zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme — 4 — Druck: Anker-Druck Bremen von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind (§ 244 Abs. 2 StPO). Die gilt selbstverständlich auch bei Strafverfahren, in denen es um das angesprochene Kriminalitätsfeld geht. Die Entscheidung, wie die Beweisaufnahme im jeweiligen Einzelfall durchzuführen ist und welche Zeuginnen oder Zeugen gegebenenfalls gehört werden, unterliegt der verfassungsrechtlich garantierten Unabhängigkeit der Gerichte, welche der Senat in hohem Maße achtet. Gemäß § 257 c Abs. 1 Satz 2 StPO gilt der Grundsatz der Erforschung der materiellen Wahrheit aber ausdrücklich auch in Fällen, in denen es zu einer Verständigung kommen soll. 6. Wie bewertet der Senat die im Land Bremen bestehenden Angebote der Opferhilfe in Bezug auf die spezifischen Bedürfnisse der Opfer von Hasskriminalität? Inwieweit verfügen die bestehenden Hilfeeinrichtungen Expertisen, insbesondere in Bezug auf rassistische, rechtsextremistische Gewalt und ihre Folgen? Für die Opfer von Diskriminierung, Rassismus und Hasskriminalität stehen zahlreiche Nichtregierungsorganisationen zur Verfügung. Der Senat begrüßt das große zivilgesellschaftliche Engagement, das in der Arbeit dieser Gruppen zum Ausdruck kommt, und hält dies für einen besonders bedeutsamen Beitrag gegen Hass und Gewalt und für eine demokratische und tolerante Gesellschaft. Die der Polizei bekannten Nichtregierungsorganisationen verfügen über große Erfahrungen und ein breites Wissen in den Bereichen Antidiskriminierungsarbeit und Kampf gegen Rassismus. Allerdings ist die Zahl der Nichtregierungsorganisationen in diesem Bereich sehr hoch. Welche Expertise einzelne Nichtregierungsorganisationen vorweisen können und welche Fälle sie speziell bearbeiten ist nicht bekannt. Es fehlen hier ein Gesamtüberblick und ein verantwortlicher Koordinator des Gesamtnetzwerkes. Das Versorgungsamt Bremen entschädigt Opfer von Gewalttaten nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG). Voraussetzung dafür ist, dass ein Mensch durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. In diesem Fall erhält er wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Das OEG unterscheidet nicht nach den Motiven für die Gewalttat. Der TOA Bremen e. V. (Täter-Opfer-Ausgleich) gehört dem Landesberatungsnetzwerk „pro aktiv gegen rechts – Mobile Beratung in Bremen und Bremerhaven “ an. Die Beteiligten des Landesberatungsnetzwerkes setzen sich interdisziplinär mit der Problematik des Rechtsextremismus, Rechtspopulismus, Antisemitismus , Rassismus und der Fremdenfeindlichkeit sowie weiteren Facetten der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit auseinander. Im Rahmen der Kooperation im Landesberatungsnetzwerk erklärt der TOA Bremen e. V. sich bereit, andere Mitglieder in den genannten Problemfeldern zu beraten und zu unterstützen. Darüber hinaus bietet der TOA Bremen e. V. in Verfahren der genannten Problemfelder Schlichtungsgespräche an.