— 1 — B R E M I S C H E B Ü R G E R S C H A F T Landtag 18. Wahlperiode Drucksache 18 / 931 (zu Drs. 18/856) 04. 06. 13 Mitteilung des Senats vom 4. Juni 2013 Zusammenhang zwischen Schulversäumnis und Kriminalität Die Fraktion der CDU hat unter Drucksache 18/856 eine Große Anfrage zu obigem Thema an den Senat gerichtet. Der Senat beantwortet die vorgenannte Große Anfrage wie folgt: Vorbemerkung Der Begriff Schulversäumnis ist breit angelegt und wird in der Fragestellung als Oberbegriff für eine Vielzahl unterschiedlicher Verhaltensweisen verwendet. Als Schulschwänzen wird das nicht legitimierte Fernbleiben vom Schulunterricht bezeichnet, das auch einen Verstoß gegen schulgesetzliche Bestimmungen darstellt. Unter dem Sammelbegriff des Schulabsentismus findet sich Schulschwänzen als eine spezielle Unterform: das eigenmächtige, rechtlich nicht zulässige Fernbleiben vom Unterricht. In der aktuellen Bildungs- und Sozialforschung besteht weitgehende Einigkeit, dass das gelegentliche Schwänzen ein vorübergehendes Phänomen des Jugendalters ist. Unabhängig davon gibt es aber auch Befunde, die darauf schließen lassen, dass zwischen den einzelnen Verhaltensformen dynamische Entwicklungszusammenhänge bestehen können. So ist zu beobachten, dass insbesondere mit zunehmendem Schulalter einzelne Schülerinnen/Schüler, die das Jahr mit moderatem Schwänzen begonnen hatten, im zweiten Halbjahr zu chronischen Schulschwänzerinnen/Schulschwänzern wurden. Davon abzugrenzen ist die Schulverweigerung. Diese ist umfassender und länger anhaltend und hat oft auch vielfältige Hintergründe. Bei der Schulverweigerung liegen Ursachen oft in psychischen oder psychosomatischen Störungen. Die Annahme, dass Schulschwänzen bzw. -verweigerung zwingend zu Delinquenz führt, ist von der Grundaussage her nach den aktuellen Untersuchungen nicht zutreffend . Es gibt zwar Schulschwänzerinnen/Schulschwänzer bzw. Schulverweigerinnen und Schulverweiger, die delinquent sind, aber häufig sind schwerwiegende soziale oder familiäre Problemlagen sowohl Ursache für Schulschwänzen bzw. -verweigerung als auch für Delinquenz. Schulschwänzen, wie oben definiert, wird in den Schulen erfasst und entsprechend dem bremischen Leitfaden „Schulabsentismus“ von den Schulen beobachtet, registriert , mit pädagogischen Maßnahmen begleitet und sanktioniert. Ab einer bestimmten Anzahl von Fehltagen oder einer definierten Dauer des Fernbleibens vom Unterricht werden Schülerinnen und Schüler als sogenannte Schulvermeiderinnen bzw. Schulvermeider registriert, die zentral von den Schulen den ReBUZ gemeldet und dort erfasst werden. Die Problemlage wird entsprechend dem bremischen Leitfaden Schulabsentismus weiter bearbeitet. 1. Wie viele Schulversäumer gibt es in Bremen und Bremerhaven jeweils (möglichst einheitlichen Stichtag wählen)? Ein einheitlicher Stichtag ist aufgrund der unterschiedlichen Erhebungspraxis in den beiden Stadtgemeinden leider zurzeit noch nicht möglich, von daher liegen keine vollständig vergleichbaren Zahlen vor. — 2 — Bremen Im ersten Schulhalbjahr 2012/2013 (1. August 2012 bis 31. Januar 2013) gab es bei den Regionalen Bildungs- und Unterstützungszentren (ReBUZ) Bremen insgesamt 319 Schulvermeidermeldungen, davon 164 Jungen und 155 Mädchen betreffend. Bremerhaven Seit der Einrichtung des ReBUZ Bremerhaven im April 2012 und der damit verbundenen Auflösung eines eigenständigen Schulvermeiderteams sind bis zum 15. Januar 2013 149 Schülerinnen und Schüler mit Schulvermeidungsverhalten von den Schulen an das ReBUZ gemeldet worden. Nach Geschlechtern differenzierte Daten liegen aus dem ReBUZ Bremerhaven nicht vor. 2. Wie viele dieser Schulversäumer sind bisher kriminell in Erscheinung getreten, aufgeteilt nach Kindern und Jugendlichen? Daten liegen hierzu nicht vor. Der Senat führt diesbezüglich keine Statistiken, da die Erhebung gegen das Datenschutzgesetz verstößt. 3. Wie viele der aktuellen Schwellen- und Intensivtäter waren oder sind Schulversäumer ? Siehe Antwort zu Frage 2. 4. Welche Korrelation gibt es zwischen Schulversäumnis und Kriminalität? Im Handlungskonzept „Stopp der Jugendgewalt“ wird der Sicherung des regelmäßigen Schulbesuchs und der Vermeidung von Schulschwänzen ein wichtiger Stellenwert eingeräumt. Aus diesem Grund wurde im Rahmen der Schülerbefragung der 7. und 9. Jahrgangsklassen 2008 bis 2010 durch die Universität Hamburg1) gerade dieser Fragestellung intensiv nachgegangen, um eine quantitative Feststellung der Verbreitung sowie die qualitative Handhabung von Schulschwänzen zu erfassen, um hier gegebenenfalls stattfindende Veränderungen bzw. Optimierungserfordernisse identifizieren zu können. Die Untersuchung zeigt, dass bei schwänzenden Jugendlichen neben einer Reihe von schulischen Faktoren auch familiäre Faktoren eine das Risiko zum Schulabsentismus erhöhende Rolle spielen und das Schwänzen begünstigen können. Zu nennen sind hier bei massivem Schulabsentismus (fünf und mehr Tage im Halbjahr) geringe elterliche Supervision (33 %), Inkonsistenz des elterlichen Erziehungsverhaltens (20 %), eine gewaltbelastete elterliche Partnerbeziehung (26 %), Gewalt der Eltern gegen die Kinder (23 %) und schließlich auch ein eher geringes elterliches Interesse an einem regelmäßigen Schulbesuch (22 %). Dadurch kann das Schulschwänzen Symptom einer erhöhten familiären Belastung sein, die ihrerseits auch mit Delinquenz im Zusammenhang stehen kann. Die kriminologische Relevanz des Schulschwänzens belegt folgende Statistik, wobei delinquente Jugendliche regelmäßig eine erhöhte Belastung mit Schulschwänzen aufzeigen: Selbstauskunft der Schülerinnen/Schüler zum Schwänzen in Korrelation zur angegebenen Delinquenz2) JugendJugend - typische Geletypische und gele- gentliche Mehrfach- Nicht bagatellhafte gentliche Gewaltde- und Intendelinquent Delinquenz Delinquenz linquenz sivtäter Schwänzen (von fünf und mehr Tagen im Halbjahr) 3,3 % 9,5 % 18,8 % 28,1 % 28,7 % ––––––– 1) Prof. Dr. Peter Wetzeis und Dr. Katrin Brettfeld; Gewalt und Delinquenz junger Menschen in Bremen 2008 bis 2010; Institut für Kriminalwissenschaften, Abteilung Kriminologie, Universität Hamburg, Oktober 2009 und August 2012. 2) Ebenda. — 3 — 11,6 % der befragten Schülerinnen und Schüler gaben zu dieser Fragestellung keine Auskunft. Bei Schülerinnen/Schülern mit einer Gewalt- oder Mehrfachdelinquenz spielt demnach Schulabsentismus eine erhebliche Rolle, steht aber regelmäßig in Beziehung mit weiteren Belastungsfaktoren innerhalb der Herkunftsfamilien. Die jugendlichen Schulschwänzerinnen und Schulschwänzer wurden weiter um Angaben dazu gebeten, was sie während der Zeit des Schulschwänzens unternommen haben. Die Jugendlichen konnten diese Fragen auf einer vierstufigen Antwortskala von 1 = nie bis 4 = sehr oft beantworten. Hinsichtlich der Aktivitäten während der Zeit des Schulschwänzens zeigt sich, dass fast die Hälfte der Schülerinnen und Schüler einfach nur zu Hause geblieben sind. Fast 30 % haben etwas mit Freunden unternommen und lediglich 5,5 % gaben an, „etwas Verbotenes“ gemacht zu haben. Oft/sehr Gültige oft in % Nennungen Einfach nur zu Hause geblieben 40,4 % 801 Allein etwas außer Haus unternommen 12,7 % 792 Mit Freunden etwas unternommen 28,7 % 799 Durch die Stadt gebummelt 13,4 % 795 Auf Geschwister aufgepasst/im Haushalt geholfen 9,3 % 794 Im Café, Kaufhaus (oder etwas Ähnlichem) gewesen 10,3 % 794 Etwas Verbotenes gemacht (z. B. geklaut) 5,5 % 792 Auf dem Schulgelände aufgehalten 9,6 % 799 Mit der Familie etwas gemacht (z. B. Urlaub) 5,4 % 794 Daraus wird ersichtlich, dass die Delinquenz bei jugendlichen Schulschwänzern nach eigenen Aussagen eine eher untergeordnete Rolle spielt. Die Untersuchung lässt die Schlussfolgerung zu, dass massiv delinquente Jugendliche auch ein Schulproblem haben. Umgekehrt gilt aber nicht, dass alle Schulschwänzerinnen/Schulschwänzer per se delinquent werden. 5. Inwiefern wirkt eine bessere Vermeidung von Schulversäumnis auf die Kriminalität bzw. das Verhindern von kriminellen Karrieren? Auf Basis der vorliegenden Untersuchung sind keine belastbaren Angaben möglich , wie sich eine bessere Vermeidung von Schulversäumnis auswirken würde. 6. Welche konkreten Maßnahmen werden in den Schulen in Bremen und Bremerhaven bei Schulversäumnis ergriffen? In Bremen werden die zu ergreifenden Maßnahmen der Schulen bei Schulvermeidung seit dem Jahr 2000 durch den Handlungsleitfaden für Klassenlehrerinnen und Klassenlehrer im Umgang mit Schulvermeidung geregelt. Noch in diesem Jahr wird den Schulen eine Aktualisierung dieses Handlungsleitfadens und ein Handbuch gegen Schulabsentismus mit ausführlichen Informationen zur Verfügung gestellt. Der oben genannte Handlungsleitfaden sieht vor, dass Klassenlehrerinnen und Klassenlehrer bereits nach drei unentschuldigten Fehltagen innerhalb eines Monats erste Maßnahmen ergreifen müssen. Zu diesen Maßnahmen gehört die Kontaktaufnahme mit den Erziehungsberechtigten, um die Situation zu klären und eine erste Problemanalyse vorzunehmen. Zuständig ist das Zentrum für unterstützende Pädagogik (ZUP) an den Schulen. In diesen Klärungsprozess können an der Schule vorhandene Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen einbezogen werden. Die Schulleitung ist von der Situation in Kenntnis zu setzen. Wenn Maßnahmen dieser ersten Phase keine Veränderungen bewirken und die Schulvermeidung weiter besteht, erfolgt eine Reaktionssteigerung. Diese sieht vor, dass z. B. Gespräche zwischen Erziehungsberechtigten und der Schulleitung — 4 — stattfinden oder Hilfegespräche unter Einbeziehung der Erziehungsberechtigten , der Schülerinnen und Schüler und anlassbezogen auch mit Vertreterinnen und Vertretern von ReBUZ erfolgen. Wenn die Erziehungsberechtigten schwer zu erreichen sind, sind die Lehrkräfte dazu aufgefordert, einen Hausbesuch vorzunehmen , um Kontakt zu der Familie herzustellen. In Einzelfällen kommen auch erzieherische Maßnahmen in der Schule in Betracht (soziale Aufgaben). Wenn die Schulvermeidung weiterhin besteht und nach spätestens sechs Wochen keine Erfolge sichtbar werden, sollen weitere Fachdienste hinzugezogen werden. Hierzu gehören neben dem Regionalen Beratungs- und Unterstützungszentrum der Schulärztliche Dienst, Kontaktpolizistinnen und Kontaktpolizisten und das Amt für Soziale Dienste. In der Regel wenden die Schulen sich zuerst an das ReBUZ, um mit den Mitarbeitenden zu beraten, welche weiteren Fachdienste im Einzelfall mit einzubeziehen sind. Das ReBUZ lädt die Erziehungsberechtigten und die Schülerinnen und Schüler zu einem Gespräch auf „neutralem“ Boden ein, um die Situation zu klären und um dann mit allen Beteiligten, z. B. im Rahmen einer Hilfekonferenz, nach Lösungen zu suchen. In einigen Fällen – besonders dann, wenn die Zusammenarbeit mit den Eltern kaum möglich ist oder alle Unterstützungsangebote abgelehnt werden – wird von der Senatorin für Bildung und Wissenschaft ein Ordnungswidrigkeitenverfahren eingeleitet. Dieses Mittel dient auch dazu, um die Eltern als die Hauptverantwortlichen für die Erfüllung der Schulpflicht der Kinder und Jugendlichen zur Zusammenarbeit mit den Schulen bzw. den ReBUZ nachhaltig zu motivieren . Darüber hinaus arbeiten Vertreterinnen und Vertreter der Schulen, des Amtes für Soziale Dienste, die Kontaktpolizistinnen/Kontaktpolizisten, die Schulärztinnen und Schulärzte und Vertreterinnen und Vertretern aus den ReBUZ in den Schulvermeidungspräventionsausschüssen (SCHUPS) präventiv zusammen, um stadtteilorientierte Probleme zu analysieren und ein effektives gemeinsames Vorgehen bei Schulvermeidung zu vereinbaren und die Kooperationsbeziehungen weiter zu verfestigen (drei- bis viermal im Jahr). Als ein präventives Schulprojekt ist hier z. B. das Projekt „Familienklasse“ zu nennen. In Bremerhaven werden ebenfalls zunächst die Schulen aktiv, sie können ergänzende Maßnahmen einleiten. Diese Maßnahmen sind in ihrer Schrittigkeit und Grad der Eskalationsstufen an den bremischen Handlungsleitfaden angelehnt . Zusätzlich gibt es auch in Bremerhaven wie in Bremen ergänzende Maßnahmen durch das dortige ReBUZ und die Flankierung der Maßnahmen der Schulen oder des ReBUZ durch die Einschaltung von Jugendhilfe oder Gesundheitsamt . 7. Welche Maßnahmen werden in den anderen Ländern, wie beispielsweise Hamburg und Niedersachsen, ergriffen, um Schulversäumnis zu verringern und zu verhindern? In Hamburg existiert seit 2008 eine verbindliche Handreichung für Schulen zum Umgang mit Schulabsentismus. Diese ist ähnlich aufgebaut wie die Handreichung in Bremen und sieht den pädagogischen Aspekt vor dem sanktionierenden Handeln. Die Handreichung sieht als mögliche Reaktionen bei Schulpflichtverletzungen zunächst pädagogische Maßnahmen und Informationen der Eltern vor. Schulische Erziehungsmaßnahmen und zielgerichtete Beratungen der Erziehungsberechtigten , Einschalten der Regionalen Bildungs- und Unterstützungsstellen (REBUS) sowie der zuständigen Schulaufsicht und die Anwendung von rechtlichen Ordnungsmitteln verdeutlichen die Stufigkeit der Handlungseskalation. Anders als in Bremen sieht Hamburg aber bereits in der Handreichung eine Prüfung vor, ob die Verhängung von Erzwingungshaft erforderlich ist. In Niedersachsen gibt es keine Handreichung, wie mit Schulabsentismus umgegangen werden soll. Am 28. Mai 2002 gab es einen Beschluss zu Eckpunkten — 5 — zur Vermeidung von unentschuldigter Abwesenheit vom Unterricht, ein entsprechendes Programm wurde aber nicht aufgelegt. Stattdessen existierte unter Federführung des Kultusministeriums gemeinsam mit dem Ministerium für Inneres und Sport, dem Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit und dem Justizministerium von Mai 2002 bis Dezember 2004 das vom Landespräventionsrat koordinierte Projekt zur Vermeidung von unentschuldigter Abwesenheit im Unterricht (kurz: Projekt gegen Schulschwänzen – „ProgeSs“). Dieses Modellprojekt verfolgte einen ähnlichen Ansatz wie das hamburgische oder bremische Vorgehen, das auf die Integration von Jugendsozialarbeit in den Schulen setzt. Die ordnungsrechtliche bzw. strafrechtliche Verfolgung von Schulabsentismus obliegt den einzelnen regionalen Landesschulbehörden. 8. Welche weiteren Maßnahmen plant der Senat im Land Bremen umzusetzen, um Schulversäumnis zu verringern und zu verhindern? Der Senat wird prüfen, ob eine flächendeckende einheitliche Erfassung der Gesamtheit einzelner Tage von Schulversäumnissen einer Schülerin oder eines Schülers unterhalb der Schwelle der Meldung als Schulvermeiderinnen bzw. Schulvermeidern bei den ReBUZ sinnvoll ist, um bereits frühzeitig präventiv intervenieren zu können. Der Senat hat, koordiniert zwischen den einzelnen Ressorts Soziales und Bildung , konkret auf einzelne Problemgruppen zugeschnitten, in den Regionen der Stadt Schulmeiderprojekte (z. B.: „Fahrradpark Tenever, Ost“, „Wir können auch anders, Erlebnisfarm Ohlenhof, West“, Schulvermeiderprojekt Nord, „Die zweite Chance, Süd“, „KidZ 1 und KidZ4you, Sekundarstufe II, ABS“) eingeführt . Diese sollen im Rahmen der zur Verfügung stehenden Ressourcen fortgesetzt werden. Das Handbuch Schulabsentismus steht unmittelbar vor einer überarbeiteten Neuauflage, in der die Maßnahmen der Schulen unter anderem auch mit Fristen konkretisiert werden. Druck: Anker-Druck Bremen