— 1 — B R E M I S C H E B Ü R G E R S C H A F T Landtag 19. Wahlperiode Drucksache 19 / 125 Kleine Anfrage der Fraktion der CDU vom 15. September 2015 Vorratsdatenspeicherung als Instrument der Verbrechensbekämpfung Zum 1. Januar 2008 trat das Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG zur Vorratsdatenspeicherung in Kraft. Durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 2. März 2010 wurden die Regelungen §§ 113a, b des Telekommunikationsgesetzes (TKG) und § 100g der Strafprozessordnung wegen Verstoßes gegen Artikel 10 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) für verfassungswidrig und nichtig erklärt. Der Europäische Gerichtshof erklärte die Richtlinie 2006/24/EG am 8. April 2014 mit sofortiger Wirkung für nichtig. In der Zeit vom 1. Januar 2008 bis zum 28. Juni 2010 wurden im Land Bremen aufgrund von 584 Beschlüssen gemäß § 100g Strafprozessordnung (StPO) auf Vorratsdaten zurückgegriffen (Drs. 17/1389). Beim Landeskriminalamt Niedersachsen wird seit Juli 2010 eine Statistik zur „Zentralen Erfassung von nicht gestellten bzw. erfolglosen Anfragen gemäß § 100g Strafprozessordnung (StPO), § 96 TKG bzw. § 33 Niedersächsisches Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (Nds. SOG)“ geführt. Das Ziel dieser Statistik ist die quantitative Erfassung sämtlicher Fälle, in denen die Abfrage von Telekommunikationsverbindungsdaten nicht zum Erfolg führte bzw. aufgrund der aktuell geltenden Bestimmungen gar nicht erst durchgeführt wurde. Aus dieser Statistik geht hervor, dass das Fehlen der Abrufmöglichkeit von Telekommunikationsverbindungsdaten in vielen Fällen auch das Ausbleiben eines Ermittlungserfolgs darstellt. Der SPD-Bundesvorsitzende, Sigmar Gabriel, erklärte im März 2015 zu den Mindestspeicherfristen von Telekommunikationsdaten, dass diese nicht bei jeder Gelegenheit helfen, alle Straftaten zu verhindern, aber sie durch eine schnellere Aufdeckung von Straftaten helfen können, die nächste Straftat zu verhindern. Auch das Bundesverfassungsgericht führte in seinem Urteil im März 2010 aus, dass mit der Vorratsdatenspeicherung Aufklärungsmöglichkeiten geschaffen werden, die sonst nicht bestünden und angesichts der zunehmenden Bedeutung der Telekommunikation auch für die Vorbereitung und Begehung von Straftaten in vielen Fällen erfolgversprechend sind. Auch ist eine Rekonstruktion von Telekommunikationsverbindungen für eine effektive Strafverfolgung und Gefahrenabwehr von besonderer Bedeutung . Der Europäische Gerichtshof stellte in seinem Urteil zur Richtlinie 2006/24/ EG fest, dass diese ein Ziel habe, das dem Gemeinwohl diene und dass diese nicht geeignet sei, den Wesensgehalt der Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und auf den Schutz der personenbezogenen Daten anzutasten. Weiter führte der Europäische Gerichtshof aus, dass nach Artikel 6 der Grundrechte der Charta der Europäischen Union jeder Mensch nicht nur das Recht auf Freiheit, sondern auch auf Sicherheit hat. Die Bundesregierung hat Ende Mai 2015 einen Gesetzentwurf für eine anlasslose Speicherung genau bezeichneter Verkehrsdaten für zehn Wochen und der Standortdaten für vier Wochen dem Bundesrat vorgelegt. Telekommunikationsinhalte werden nicht gespeichert; hingegen die Rufnummern des anrufenden und des angerufenen Anschlusses, Datum und Uhrzeit der Verbindung, Angaben zum genutzten Dienst und im Fall von Internet-Telefondiensten auch die Internetprotokoll-Adressen werden gespeichert. Bei den Standortdaten werden insbesondere die Bezeichnung der Funkzellen bei Beginn der Verbindung, einschließlich der geografischen Lage und der Hauptstrahlrichtung der die jeweiligen Funkzelle versorgenden Funkantennen gespeichert. — 2 — Wir fragen den Senat: 1. In wie vielen Fällen aus dem Straftatenkatalog nach § 100a StPO war eine Aufklärung der Tat in den Jahren 2010 bis 2015 jeweils nicht möglich bzw. nicht vollständig möglich? In wie vielen Fällen führten die Ermittlungen erst verspätet bzw. unter größeren Schwierigkeiten zum Erfolg? 2. In wie vielen Fällen der sonstigen Straftaten nach § 100a StPO war eine Aufklärung der Tat in den Jahren 2010 bis 2015 jeweils nicht möglich bzw. nicht vollständig möglich? In wie vielen Fällen führten die Ermittlungen erst verspätet bzw. unter größeren Schwierigkeiten zum Erfolg? 3. In wie vielen der Fälle in Frage 1 handelt es sich um eine Tat nach dem Straftatenkatalog nach § 100a Abs. 2 Nr. 1f und g StPO, um Gewalttaten, Betrugsdelikte und Internetkriminalität? 4. Wie bewertet der Senat Mindestspeicherfristen für Telekommunikationsdaten als Instrument der Strafverfolgung? Hält der Senat Mindestspeicherfristen für Telekommunikationsdaten als ein notwendiges Instrument für eine effektivere Strafverfolgung? 5. Wie bewertet der Senat die digitale Spurensicherung insgesamt als Instrument der Strafverfolgung? Inwiefern ist für ein Kompetenzzentrum für IT-Forensik, Cybercrime und Polizei-IT die digitale Spurensicherung von Bedeutung? Welche Bedeutung haben Mindestspeicherfristen für Telekommunikationsdaten bei der digitalen Spurensicherung? 6. Inwiefern unterstützt die Landesregierung das Vorhaben der Bundesregierung zur Einführung von Mindestspeicherfristen für Telekommunikationsdaten als Mittel der Strafverfolgung, wenn diese in verfassungs- und unionsrechtskonformer Fassung gestaltet werden? Wilhelm Hinners, Dr. Thomas vom Bruch, Thomas Röwekamp und Fraktion der CDU D a z u Antwort des Senats vom 27. Oktober 2015 1. In wie vielen Fällen aus dem Straftatenkatalog nach § 100a StPO war eine Aufklärung der Tat in den Jahren 2010 bis 2015 jeweils nicht möglich bzw. nicht vollständig möglich? In wie vielen Fällen führten die Ermittlungen erst verspätet bzw. unter größeren Schwierigkeiten zum Erfolg? Eine Statistik über die nicht gestellten bzw. erfolglosen Anfragen nach § 100g StPO wird bei der Polizei Bremen nicht geführt. Eine automatisierte Auswertung ist daher nicht möglich. Ob die Vorratsdatenspeicherung in den zurückliegenden Fällen zur Aufklärung von Straftaten geführt hat, kann ebenfalls nicht automatisiert ausgewertet werden. Eine Beantwortung der Fragen eins bis drei wäre nur durch Einzelauswertung aller polizeilichen Vorgänge möglich. Dies ist mit einem vertretbaren personellen Aufwand nicht möglich. Die zur Beantwortung der Fragen eins bis drei erforderlichen Daten werden auch in der bei der Staatsanwaltschaft Bremen eingesetzten Fachanwendung nicht statistisch erfasst. Eine Beantwortung dieser Fragen würde daher eine Einzelfallauswertung sämtlicher seit dem Geschäftsjahr 2010 bei der Staatsanwaltschaft Bremen eingegangenen Ermittlungsverfahren erfordern, in denen eine Maßnahme nach § 100a StPO hätte in Betracht kommen können. Auch dies ist mit einem vertretbaren personellen Verwaltungsaufwand nicht zu leisten. 2. In wie vielen Fällen der sonstigen Straftaten nach § 100a StPO war eine Aufklärung der Tat in den Jahren 2010 bis 2015 jeweils nicht möglich bzw. nicht vollständig möglich? In wie vielen Fällen führten die Ermittlungen erst verspätet bzw. unter größeren Schwierigkeiten zum Erfolg? Hierzu wird auf die Antwort zu Frage 1 verwiesen. 3. In wie vielen der Fälle in Frage 1 handelt es sich um eine Tat nach dem Straftatenkatalog nach § 100a Abs. 2 Nr. 1 f und g StPO, um Gewalttaten, Betrugsdelikte und Internetkriminalität? Hierzu wird ebenfalls auf die Antwort zu Frage 1 verwiesen. — 3 — 4. Wie bewertet der Senat Mindestspeicherfristen für Telekommunikationsdaten als Instrument der Strafverfolgung? Hält der Senat Mindestspeicherfristen für Telekommunikationsdaten als ein notwendiges Instrument für eine effektivere Strafverfolgung? Die Bundesregierung hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, welcher Mindestspeicherfristen für Telekommunikationsdaten enthält. Der Entwurf sieht u. a. eine Neufassung des § 100g StPO sowie des § 113b TKG vor. Diese sollen unter strengen Voraussetzungen Speicherfristen für Verkehrs- bzw. für Standortdaten festlegen . Kommunikationsinhalte sowie Daten über den E-Mail-Verkehr oder aufgerufene Internetseiten dürfen demnach hingegen nicht gespeichert werden. Für Verkehrsdaten (Rufnummern, Zeit, Dauer, IP-Adressen) ist eine Speicherfrist von zehn Wochen vorgesehen, während für Standortdaten (Funkzellenabfrage ) eine vierwöchige Speicherfrist gilt. Auf prozessualer Ebene soll die Maßnahme nur durch eine Richterin bzw. einen Richter angeordnet werden können. Eine Eilkompetenz für Polizei oder Staatsanwaltschaft soll es nicht geben. Der Gesetzentwurf bewegt sich in einem Spannungsverhältnis zwischen der Förderung einer effektiven Strafverfolgung einerseits sowie datenschutz-, verfassungs - und unionsrechtlichen Belangen und Anforderungen andererseits. So ist der Entwurf auf Kritik durch den Deutschen Anwaltverein gestoßen. Es wird insbesondere eine teilweise fehlende Bestimmtheit der Formulierungen und eine verfassungsrechtliche Unverhältnismäßigkeit des gesamten Entwurfs bemängelt . Demgegenüber hält die Mehrheit der vom Bundestag angehörten Sachverständigen den Entwurf für verfassungs- und unionsrechtskonform. Nach den Einschätzungen des Deutschen Richterbunds und des Bundeskriminalamtes schöpft der Entwurf das unter Verfassungs- und Unionsgesichtspunkten zulässige Maß noch nicht aus; eine Ausweitung auf die Erfassung der E-Mail-Verkehrsdaten (nicht auf die Inhaltsdaten) sowie eine Verlängerung der Dauer der Mindestspeicherfristen sei im Interesse der effektiven Strafverfolgung erforderlich. Aus der Sicht der bremischen Strafverfolgungsbehörden stellen Telekommunikationsdaten ein wichtiges Instrument für ihre Arbeit dar. Die Daten können z. B. zur Ermittlung der Identität der Tatverdächtigen (z. B. als Anschlussinhaber/ Anschlussnutzer) sowie zum Nachweis ihrer Anwesenheit in bestimmten Funkzellen zur Tatzeit beitragen. Die Daten sind häufig nutzbar zur Aufklärung des Vor- und Nachtatverhalten von Tatverdächtigen, zu Verbindungen der Tatverdächtigen untereinander, zum Verlauf von Fluchtwegen und zur Ermittlung weiterer Tatverdächtiger. Speziell für die Verfolgung der Betäubungsmittelkriminalität ist die Bestimmung der Standortdaten bedeutsam. Telekommunikationsdaten sind weiterhin häufig Grundlage der Ermittlungen in dem Bereich des „Cybercrime“, gerade bei der Verbreitung kinderpornografischer Darstellungen im Internet. Eine effektive Nutzung der Telekommunikationsdaten ist allerdings nur möglich , wenn die Daten den Ermittlungsbehörden auch zur Verfügung stehen. Da die Strafverfolgung aus der Natur der Sache heraus rückwirkend erfolgt, ist eine Speicherung derartiger Daten wichtig. Den Mindestspeicherfristen kommt dabei eine hohe Bedeutung zu, dies insbesondere aufgrund des Umstands, dass viele Strafanzeigen erst mit zeitlicher Verzögerung erstattet werden und sich Ermittlungsansätze in Bezug auf die Auswertung von Verkehrsdaten häufig erst im späteren Verlauf der Ermittlungen ergeben. Für die Strafverfolgungsbehörden ist es von Bedeutung, dass im Voraus abgesehen werden kann, wie lange und in welcher Form die für die Strafverfolgung wichtigen Telekommunikationsdaten zur Verfügung stehen. Diesen Einschätzungen steht gegenüber, dass eine messbare Effektivitätssteigerung der Strafverfolgung durch Mindestspeicherfristen bisher nicht objektiv nachgewiesen werden konnte. Die Bedeutung der Datenspeicherung für die Strafverfolgung bedarf einer sorgfältigen Abwägung mit den Rechten der Betroffenen. Der Senat begrüßt deshalb , dass der Deutsche Bundestag den Gesetzentwurf um eine Pflicht zur Evaluierung ergänzt hat. Danach sind unter wissenschaftlicher Begleitung die Auswirkungen des Gesetzes auf die Strafverfolgung und die Gefahrenabwehr und die Einhaltung der datenschutzrechtlichen Regelungen zu untersuchen, Handlungsbedarfe zu benennen und die Fortentwicklung der Kommunikationstechnik zu berücksichtigen. — 4 — Der Senat wird seine Haltung zu dem Gesetzentwurf vor der Beratung im Plenum des Bundesrats festlegen. 5. Wie bewertet der Senat die digitale Spurensicherung insgesamt als Instrument der Strafverfolgung? Inwiefern ist für ein Kompetenzzentrum für IT-Forensik, Cybercrime und Polizei-IT die digitale Spurensicherung von Bedeutung? Welche Bedeutung haben Mindestspeicherfristen für Telekommunikationsdaten bei der digitalen Spurensicherung? Die digitale Spurensicherung stellt ein wichtiges Instrument der Strafverfolgung dar, welches aufgrund der zunehmenden Technologisierung in der Gesellschaft und der steigenden Zahl von im und über das Internet begangenen Straftaten weiterhin an Bedeutung gewinnen wird. Die „neuen Medien“ werden von allen Teilen der Gesellschaft genutzt, dies aufgrund ihrer vielfältigen Möglichkeiten und der Anonymität auch zur Begehung von Straftaten. Die Auswertung von Verbindungsdaten kann Aufschluss über Beziehungen des Täters zum Opfer, zum Tatort oder zu Mittätern erlauben, zudem können Alibis überprüft werden. Nicht selten kann erst im Rahmen der Auswertung von sichergestellten Computer - und Handyspeichern auf Kommunikationspartner geschlossen werden. Straftaten wie die Verbreitung von Kinderpornografie lassen sich oft nur durch die Auswertung von IP-Adressen aufklären. Den Mindestspeicherfristen für Telekommunikationsdaten kommt gerade im Bereich Cybercrime ein erhebliches Gewicht zu, da die Tatverdächtigen ohne die Zuordnung der IP-Adresse mangels anderweitiger Ermittlungsansätze oftmals nicht zu ermitteln sind. Die Speicherung der zugewiesenen IP-Adressen für eine gewisse Zeit kann deshalb als unverzichtbar zur Aufklärung von Straftaten in diesem Bereich bezeichnet werden. Aus den genannten Gründen können polizeiliche und staatsanwaltliche Ermittlungen bei einer zu kurz bemessenen Mindestspeicherfrist erheblich erschwert oder gar unmöglich gemacht werden. 6. Inwiefern unterstützt die Landesregierung das Vorhaben der Bundesregierung zur Einführung von Mindestspeicherfristen für Telekommunikationsdaten als Mittel der Strafverfolgung, wenn diese in verfassungs- und unionsrechtskonformer Fassung gestaltet werden? Der Senat hat begrüßt, dass auf der Grundlage der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 2. März 2010 klare Maßstäbe für eine verfassungskonforme gesetzliche Regelung zur Nutzung der Telekommunikationsverbindungsdaten vorliegen. Mindestspeicherfristen sind für die Strafverfolgung bedeutsam und eine gesetzliche Neuregelung ist wünschenswert, wenn sie verfassungs- und unionsrechtskonform ausgestaltet werden kann. Der „Gesetzentwurf zur Einführung einer Speicherpflicht und einer Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten“ ist von der Bundesregierung am 15. Juni 2015 vorgelegt worden. Nachdem der Bundesrat beschlossen hat, keine Stellungnahme zu dem Entwurf abzugeben, hat die Bundesregierung den Entwurf dem Bundestag zugeleitet. Dieser hat den Entwurf am 18. Juni 2015 in erster Lesung beraten und zur weiteren Beratung in die Ausschüsse verwiesen. Am 21. September 2015 fand vor dem Rechtsausschuss des Bundestages eine öffentliche Anhörung mehrerer Sachverständiger statt. Der Gesetzesbeschluss des Deutschen Bundestags liegt jetzt dem Bundesrat vor. Der Senat begrüßt, wie bereits in der Antwort zu Frage 4 gesagt, dass nunmehr ausdrücklich eine wissenschaftlich begleitete Evaluierung des Gesetzes mit einer Berichterstattung über deren Ergebnisse vorgesehen ist. Seine Haltung zu dem Gesetzentwurf wird der Senat in der Vorbereitung der anstehenden Beratung im Bundesrat festlegen. Druck: Anker-Druck Bremen